„Proletarier und Edelinge

Die Version 0.55 ist nun verfügbar. Größte Veränderung ist das unten aufgeführte Kapitel über „Proletarier und Edelinge“ (so beginnt bekanntlich ein Ant-Myschkin-Pmaphlet im „Idiot“). Die neue Version kann unter Myschkin_f0.55 geladen werden.

„Proletarier und Edelinge“
Herrmann Hesse empfand jene Szene im Haus Lebedew als besonders peinlich.
Jene Szene, da einige „Revolutionäre“ zum inzwischen reichen Myschkin kommen um zu schnorren. Damit ihre Schnorrerei den rechten Drive bekommt, verfassen sie einen „kritischen“ Artikel in einer „kritischen“ Zeitung.
„Revolutionäre“ und „Etablishment“ geraten aneinander und Myschkin sitzt am Schluss mit seinem Bedürfnis alle zu versöhnen zwischen allen Stühlen.
Wie schon Hesse bemerkte, sind sich „Etablishment“ und „Revolutionäre“ erstaunlich ähnlich, bis auf einen Unterschied: Die einen haben schon die Pöstschen auf die die anderen schielen. Beide sind aus dem selben Holz.
Das Bild vom „Reaktionär“ Dostojewski speist sich nicht zuletzt aus seiner wenig schmeichelhaften Schilderung der „Revolutionäre“.
Die Reaktionäre, die ihn deswegen gerne fest in ihre Arme schließen, vergessen allerdings gerne, dass auch sie nicht gut aussehen:
„Da habt ihr!
Von hier aus ergießt sich schon bald in die Gassen
Mensch für Mensch euer schwabbelndes Fett,
doch ich, der Verschwender von Worten unfassbar,
hab aus Schatullen den Vers freigesetzt.

Bei ihnen, mein Herr, hängt im Bart noch ein Fuder
ungegessener Kohlreste, ölig und kraus;
und sie, meine Dame, sind dick eingepudert,
ihre Austern, sie quelln aus der Schale heraus.

Auf dreckigen Sohlen, mit und ohne Galoschen,
trampelt ihr Schmetterlings Farbenpracht aus.
Die Menge vertiert, schon kommt sie gekrochen,
die Beinchen gesträubt, hundertköpfig, als Laus.

Und wenn ich, ein Hunne, euch heute zur Last war,
grobschlächtig und bitter,
dann schert mich das nicht,
denn ich, der Verschwender von Worten unfassbar,
spucke euch lachend ins Fratzengesicht.

(Majakowski 1913 übersetzt von Eric Boerner)
Wir wollen nun das „revolutionäre Manifest“ in seiner ganzen Länge und Verworrenheit genießen und analysieren:

»Proletarier und Edelinge. Eine Episode aus dem täglichen und alltäglichen Räuberwesen. Fortschritt! Reform! Gerechtigkeit!
Seltsame Dinge kommen in unserem sogenannten heiligen Rußland vor, im Zeitalter der Reformen und der unternehmungslustigen Aktiengesellschaften, in dem Zeitalter des Nationalgefühls und der jährlichen Ausfuhr Hunderter von Millionen ins Ausland, in dem Zeitalter der Beschützung des Handwerks und der Lähmung der arbeitenden Hände und so weiter und so weiter; man kann nicht alles aufzählen, meine Herren, daher kommen wir sofort zur Sache. Es hat sich eine sonderbare Geschichte mit einem der edlen Sprößlinge unseres ehemaligen Gutsherrnstandes (de profundis!) zugetragen, mit einem jener Sprößlinge, deren Großväter ihr Vermögen beim Roulette verspielten, und deren Väter sich genötigt sahen, als Fähnriche und Leutnants zu dienen, und gewöhnlich im Anklagezustand wegen irgendeines harmlosen Defizits bei den Staatsgeldern starben, und die dann selbst, wie der Held unserer Erzählung, entweder als Idioten aufwachsen oder sogar in Kriminalprozesse hineingeraten (bei denen sie übrigens zum Zweck ihrer Besserung und zur Erbauung anderer von den Geschworenen freigesprochen zu werden pflegen) oder endlich zu guter Letzt eine jener Geschichten loslassen, die das Publikum in Erstaunen versetzen und unserem an sich schon hinreichend schmählichen Zeitalter zur Schande gereichen. Unser junger Edeling kehrte vor einem halben Jahr, mit ausländischen Gamaschen angetan und in einem ungefütterten Mäntelchen vor Kälte zitternd, im Winter nach Rußland aus der Schweiz zurück, wo er eine Kur gegen seine Idiotie durchgemacht hatte (sic!). Man muß bekennen, daß er Glück hatte; denn (wir reden noch gar nicht von seiner interessanten Krankheit, von der er sich in der Schweiz kurieren ließ; aber ist denn Idiotie überhaupt heilbar? Stellen Sie sich das nur einmal vor?!!) er konnte an seiner Person die Wahrheit des russischen Sprichworts beweisen: ›Eine gewisse Sorte von Menschen hat immer Glück!‹ Urteilen Sie selbst: nach dem Tod seines Vaters, der, wie es heißt, als Leutnant in der Untersuchungshaft gestorben war, weil er im Kartenspiel die ganzen Kompaniegelder verloren oder vielleicht auch einem Untergebenen eine übermäßige Portion Rutenhiebe hatte verabreichen lassen (vergessen Sie nicht, meine Herren, das war in der alten Zeit), wurde unser Baron, der als Säugling zurückgeblieben war, aus Barmherzigkeit von einem sehr reichen russischen Gutsbesitzer aufgezogen. Dieser russische Gutsbesitzer (nennen wir ihn P.!) besaß in jener alten goldenen Zeit viertausend leibeigene Seelen (leibeigene Seelen! verstehen Sie diesen Ausdruck, meine Herren? Ich verstehe ihn nicht. Man muß erst das Konversationslexikon befragen; ›nicht lang ist’s her, und doch ist’s kaum zu glauben‹ und war offenbar einer jener russischen Nichtstuer und Tagediebe, die ihr müßiges Leben im Ausland verbrachten, im Sommer in den Badeorten und im Winter im Pariser Château des fleurs, wo sie seinerzeit enorme Summen zurückließen. Man kann mit Bestimmtheit sagen, daß mindestens ein Drittel des gesamten in der früheren Zeit der Leibeigenschaft gezahlten Pachtzinses in die Tasche des Besitzers des Pariser Château des fleurs floß (war das ein glücklicher Mensch!). Wie dem auch gewesen sein mag, jedenfalls ließ der sorglose P. dem verwaisten jungen Herrn eine fürstliche Erziehung zuteil werden und hielt ihm Erzieher und Gouvernanten (ohne Zweifel hübsche), die er bei Gelegenheit selbst aus Paris mitbrachte. Aber der junge Edeling, der Letzte seines Geschlechtes, war ein Idiot. Die Gouvernanten aus dem Château des fleurs konnten ihm nicht helfen, und bis zum zwanzigsten Lebensjahr vermochte ihr Zögling keine einzige Sprache zu sprechen, nicht einmal die russische. Letzteres ist übrigens verzeihlich. Endlich bildete sich in P.s russischem Gutsherrnkopf die Vorstellung, man könne einem Idioten in der Schweiz Verstand beibringen lassen, übrigens eine von seinem Standpunkt aus logische Vorstellung: so ein Müßiggänger und Proprietär konnte sich sehr wohl denken, daß man für Geld sogar Verstand auf dem Markt kaufen könne, ganz besonders in der Schweiz. Fünf Jahre lang befand sich nun der edle Sprößling zur Kur bei einem bekannten Professor in der Schweiz; diese Kur kostete viele tausend Rubel: der Idiot wurde dadurch natürlich nicht klug, aber doch, wie man sagt, einem Menschen wenigstens so halbwegs ähnlich.“

[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 20102 – 201??
(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 4, S. 134-142)
http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]

Hier wird u.a. auf die sogenannte „Bauernbefreiung“ von 1861 angespielt, die auch gerne mit der preußischen Stein-Hardenbergschen Reform verglichen wird.
Allerdings verstellen solche Analogien mehr als sie erklären.
Wobei der Text sowieso eine eigenartige Ambivalenz ausstrahlt. Man weiss nicht so recht was er will und was er beklagt. Stören sich die Autoren daran, dass inzwischen das Geld regiert und sehnen sich nach den „guten alten Zeiten“ als an Stelle des Geldes die Knute regierte oder freuen sie sich im Gegenteil darüber, dass die Gutsbesitzerkaste ihre privilegierte Stellung verloren hat ?
Gleichzeitig beklagen sie, dass die Abhängigkeit vom Staat zugenommen hat und dass die Zahl derer, die an die Futterkrippe drängen soviel größer ist, als die Futterstellen. Und nun kommt auch noch dieser Idiot und erbt einfach.
Um diese Verworrenheit zu verstehen, müssen wir tiefer in die russische Geschichte eintauchen:

Rußland wird u.a. von Marx gerne als „halb-asiatische Despotie“ charakterisiert.
Was ist damit gemeint ?
Als sich nach der neolithischen Revolution der Ackerbau als vorherrschende Wirtschaftsform durchsetzte, geschah dies überwiegend in der Form dass Bauern und Bäuerinnen in ihren Dörfern miteinander kooperierten.
Dabei bildete sich sowohl Gemeindeeigentum als auch privates, persönliches Eigentum.
Vor allem die Schwierigkeiten bei der Bewirtschaftung von Bachtälern und schließlich sogar großer Flusstäler erforderten großräumigere Kooperationen.
Die Wirtschaftsforscherin und Nobelpreisträgerin Ostrom hat eine solche Kooperation zur Flussregulierung und Bewässerungssteuerung auf den Phillipinen untersucht.
Belegstelle
Natürlich wurden diese Kooperationen umso größer je größer die Flüsse wurden, weswegen am Beginn dieser Entwicklung auch erstmal kleinere und mittlere Flüsse urbar gemacht wurden.
Die außerordentlich hohe Produktivität dieser Bewässerungslandwirtschaft lohnte allerdings auch außergewöhnliche Mühe und erlaubte einen Teil der Bevölkerung für diese kooperative Tätigkeit, vor allem für die Organisation dieser Tätigkeit, von normaler Arbeit frei zu stellen.
Diese großen Kooperationen waren der Ursprung dessen, was man später „Staat“ nannte. Und so lange es um die Installation und Unterhaltung eines Bewässerungssystems ging, das allen zu höheren Erträgen verhalf, aber auch um gemeinsame Vorratswirtschaft, die über Ernteausfälle hinweghalf, war es überhaupt keine Frage, dass die Bauerngemeinden einen Teil ihres Mehrproduktes freiwillig an den „Palast“ weitergaben. Zumal durch die sehr hohe Produktivität frühe Überflussgesellschaften entstanden.
Im Zentrum dieses Überflusses stand aber der „Palast“. Und so wurde er zu einem Ziel von Begehrlichkeiten. Sowohl von innen als auch von außen drängten daher immer mehr Menschen zu diesem „Palast“, die sich gerne an gut gedeckte Tische setzen ohne etwas dafür zu leisten, dass die Scheuern voll sind.
Am Ende wurden diese Gesellschaften zum Opfer fremder Räuber. Da aber die Basis des großen Wohlstands der Unterhalt des Allmendegutes, des Common, z.B. das empfindliche und ständig reparaturbedürftige Bewässerungssystem war, verfiel der Wohlstand in dem Maße, in dem der „Palast“ vergaß, welchen Umständen er seinen Reichtum verdankte. Nun konnten neue Räuber zu „Befreiern“ werden, in dem sie nicht nur den Palast von zu vielen Essern befreiten, sondern auch die alte Ordnung und vor allem aber die Bewässerungs­systeme wieder instand setzten. Damit beginnt dann immer eine neue Dynastie, die am Ende an ihrer eigenen Verkommenheit zu Grunde geht.
So wurde aus der ursprünglichen Kooperation ein Staat und aus der freiwilligen Abgabe im eigenen Interesse ein Zwang.
D.h. die erste Ausbeutergesellschaft überhaupt beruht auf der Unterwerfung und Ausbeutung einer ursprünglichen Allmende-Institution, eines „Common“. In einer solchen Gesellschaft gibt es kein Privateigentum. Allerdings hat sich eine Gruppe von Räubern die Kontrolle, das Monopol, über die Gemeindegüter gesichert.
Dadurch verwandelt sich aber das Verhältnis von Palast und Bauerngemeinden von einem Verhältnis der Gleichheit und Gleichberechtigung bei unterschiedlicher Funktion in der Gemeinschaft, in ein Verhältnis der Ausbeutung und Unter­drückung.
Eine solche Gesellschaft heißt bei Marx „asiatisch“. Sie könnte genauso gut „afrikanisch“ heißen, denn Ägypten ist eines der ersten Länder der Erde, in dem sich diese Entwicklung vollzieht.
Mit dem Begriff der „asiatischen Despotie“ ist demnach eine Gesellschaft gemeint, in der weitgehend autonome Bauerngemeinden eigenständig wirtschaften und über wesentliches Produktionseigentum, vor allem den Boden, zum Teil gemeinschaftlich zum Teil privat, aufgeteilt in kleine und kleinste Parzellen, verfügen.
Diese Bauerngemeinden sind einer Oberschicht tributpflichtig, die zum kleineren Teil auch eine produktive Rolle spielen kann, in dem sie z.B. Bewässerungs­systeme, Strassen und andere gemeinsame Infrastruktur erhalten, zum größeren Teil schmarotzen sie aber und plündern die Länder aus, über die sie herrschen. Da ihre einzige wirkliche Legitimation die nackte Gewalt ist, ist auch die Despotie die ihnen gemäße Staatsform.
Es versteht sich von selbst, dass solche Staaten immer von dem Konflikt geprägt sind, wem denn nun gehört, was nach seiner Bestimmung allen gehören soll.
„Der Staat sind wir“ ist in so fern eine alte Losung.
Diese Staatsmaschine, sobald sie einmal oder auch mehrmals erfunden wurde, breitet sich auch weiter aus. Auch in Gebiete, in denen z.B. gar keine Bewässerungs­landwirtschaft möglich ist.
Nomadenvölker unterwerfen die Flusstalbewohner und Ackerbauern. Ihre Führer usurpieren den bestehenden Staat und weiten seine Herrschaft auch auf andere Gebiete aus. Kennzeichen aller dieser Ordnungen ist fast immer, dass das Eigentum an den wesentlichen Produktionsmitteln staatlich ist.

In anderen Gebieten der Welt vollziehen sich andere Entwicklungen. So entstehen z.B. aus Stammesgefolgschaften, Stammeshierarchien schließlich feudale Ordnungen. Im Gegensatz zur orientalischen Despotie bleibt aber in solchen Gebilden die zentrale staatliche Instanz meist schwach.
Dafür verankert sich dort privates Eigentum viel stärker.
Auf dem Boden dieser Feudalordnung entstehen dann auch Kapitalismus und Bürgertum.

Am Ende einer langen Entwicklung stehen sich dann zwei gegensätzlich strukturierte Klassengesellschaften gegenüber:
In der einen herrscht jene Bürokratenkaste, die den Staat eigentlich nur verwalten soll, über die ganze Gesellschaft.
In der anderen führt wirtschaftliches Eigentum zur gesellschaftlichen und staatlichen Macht.
Beide Gesellschaften können nur dann ihren wirklichen Eigentümern, nämlich dem Volk, zurück gegeben werden, nachdem dieses in einem langen, opferreichen Kampf Demokratie in Wirtschaft und Staat erkämpft hat.
Die Völker der Welt sind heute auf diesem Weg und sie sind in verschiedenen Staaten unterschiedlich weit gekommen. Sie werden sicher noch eine Weile brauchen um endgültig ans Ziel zu kommen.

Die Entwicklung in Rußland war und ist nun deswegen ganz besonders kompliziert und auch entsprechend schwer zu verstehen, weil sich hier die gegensätzlichen Ordnungen mischen.
Die Kiewer Ruß war, nach allem was wir wissen, ein früh-feudaler Staat. Dieser Staat geriet nun im 13.Jahrhundert unter die Mongolenherrschaft. Der Tatarenstaat war aber eine orientalische Despotie. Und die neuen Herren taten ihr möglichstes ihren neuen Besitz nach ihrem Bild und Willen zu formen.
Dabei bedienten sie sich auch russischer Herren, z.B. der bis dato ziemlich unbedeutenden Fürsten von Moskau.
Als tatarische Steuereintreiber wurden sie bedeutend.
Schließlich befreiten sie sich sogar von der Herrschaft der Khane. Aber nur um deren Ordnung nun auf eigene Rechnung zu fortzusetzen.

Und so entsteht ein eigenartiger Zwitter. In diesem Zwitter nehmen wir Gutsherren und Leibeigene wahr, wie in anderen Teilen Europas.
Und wir vermuten eine Bauernbefreiung ähnlich der preußischen. Und analog zur preußischen vermuten wir auch hier, dass die Bauern mehr enteignet als befreit wurden.
Was wir aber übersehen: Letztlich gehört in diesem Land alles dem Zaren. Die zentrale Bürokratie kann jederzeit jegliches Eigentum mit wenigen Federstrichen konfiszieren.
So kommt es, dass weder die Bauern noch die Herren allzuviel Selbstbewußtsein entwickeln (können) gegenüber einer Bürokratie, die am Ende immer siegt.

Aber hören wir, was unsere „Revolutionäre“ noch zu sagen haben:
„Da stirbt P. unerwartet früh. Ein Testament war natürlich nicht vorhanden; die Vermögensverhältnisse befanden sich, wie das gewöhnlich der Fall ist, in arger Unordnung; es stellte sich ein Haufe gieriger Erben ein, die sich natürlich nicht im geringsten mehr um diesen letzten Sprößling seines Geschlechtes kümmerten, den der Verstorbene aus Barmherzigkeit in der Schweiz hatte von der Idiotie kurieren lassen wollen. Der junge Edeling, Idiot wie er war, versuchte doch, seinen Professor zu betrügen, und ließ sich, wie man erzählt, von ihm zwei Jahre lang gratis behandeln, indem er ihm den Tod seines Wohltäters verheimlichte. Aber der Professor war selbst ein schlauer Patron; das Ausbleiben der Zahlungen und ganz besonders der starke Appetit seines fünfundzwanzigjährigen faulenzenden Patienten machten ihn doch schließlich stutzig; er gab ihm ein Paar alte Gamaschen von sich zum Anziehen, schenkte ihm einen abgetragenen Mantel von sich und spedierte ihn aus Barmherzigkeit dritter Klasse nach Rußland; so war die Schweiz ihn losgeworden. Es könnte nun scheinen, als habe Fortuna unserem Helden den Rücken gewendet. Das war jedoch nicht der Fall: Fortuna, die ganze Gouvernements Hungers sterben läßt, schüttete auf einmal alle ihre Gaben über diesen Aristokraten aus, wie in der Krylowschen Fabel die Wolke über das ausgetrocknete Feld hinwegzieht und ihr Wasser in den Ozean hinabschüttet. Fast in demselben Augenblick, als er aus der Schweiz in Petersburg eintraf, starb in Moskau ein Verwandter seiner Mutter (die natürlich aus dem Kaufmannsstand stammte), ein alter, kinderloser, allein dastehender, langbärtiger Kaufmann und Sektierer, und hinterließ eine Erbschaft von mehreren Millionen in barem Geld, die (ja, das wäre etwas für uns beide, mich und Sie, lieber Leser!) in ihrem ganzen Betrag unanfechtbar unserem jungen Edeling zufiel, der sich in der Schweiz hatte von der Idiotie kurieren lassen! Na, nun klang die Musik natürlich anders. Um unseren Baron in Gamaschen, der schon angefangen hatte, einer bekannten Schönheit der Halbwelt den Hof zu machen, sammelte sich auf einmal ein ganzer Schwarm von Freunden; es fanden sich auch Verwandte ein und vor allem ganze Scharen vornehmer Mädchen, die danach schmachteten, mit ihm in den Stand der heiligen Ehe zu treten. Und was konnte man sich auch Besseres denken: ein Aristokrat, ein Millionär, ein Idiot, also alle Vorzüge vereint; einen solchen Mann kann man nicht einmal mit der Laterne finden oder auf Bestellung geliefert bekommen …!«
»Das … das übersteigt ja alles!« rief Iwan Fjodorowitsch in höchster Entrüstung.
»Hören Sie auf, Kolja!« rief der Fürst in flehendem Ton. Von allen Seiten erschollen verschiedenartige Ausrufe.
»Weiterlesen! Unter allen Umständen weiterlesen!« verlangte Lisaweta Prokofjewna auf das allerbestimmteste; sie beherrschte sich augenscheinlich nur mit größter Anstrengung. »Fürst, wenn du ihm das Weiterlesen verbietest, bekommst du es mit mir zu tun!«
Es war nichts zu machen: mit heißem Gesicht, geröteten Wangen und mit einer Stimme, die vor Aufregung zitterte, las Kolja weiter vor: »Aber während unser neugebackener Millionär sozusagen im Schoß des Glückes saß, geschah etwas von einer Seite her, von der es niemand erwartet hatte. Eines schönen Morgens erscheint bei ihm ein Besucher, mit ruhigem, ernstem Gesicht, mit höflicher, aber würdiger und rechtlicher Redeweise, bescheiden und anständig gekleidet, in seiner Denkart offenbar der fortschrittlichen Richtung angehörig, und erklärt ihm in wenigen Worten den Grund seines Kommens: er ist ein bekannter Advokat; er ist von einem jungen Mann mit der Vertretung seiner Interessen beauftragt worden und kommt in dessen Namen. Dieser junge Mann ist nicht mehr und nicht weniger als ein Sohn des verstorbenen P., obgleich er einen andern Namen trägt. Der Lüstling P. hatte in seiner Jugend ein anständiges, armes Mädchen verführt, das zu seinem Hofgesinde gehörte, aber eine westeuropäische Erziehung genossen hatte (wobei selbstverständlich die Herrenrechte der damaligen Zeit der Leibeigenschaft mit ins Spiel kamen), und als die unausbleiblichen, nahe bevorstehenden Folgen dieses Verhältnisses sichtbar wurden, sie möglichst schnell an einen erwerbstätigen, sogar in dienstlicher Stellung befindlichen Mann von edlem Charakter verheiratet, der dieses Mädchen schon lange geliebt hatte. Anfangs unterstützte er das junge Ehepaar; aber die edle Gesinnung des Ehemannes veranlaßte diesen bald, die weitere Annahme solcher Unterstützung abzulehnen. Es verging nun einige Zeit, und P. vergaß allmählich das Mädchen und seinen mit ihr erzeugten Sohn und starb dann bekanntlich, ohne testamentarische Anordnungen zu hinterlassen. Sein Sohn, der zu einer Zeit geboren wurde, als seine Mutter bereits in legitimer Ehe lebte, wuchs unterdessen unter einem andern Familiennamen heran und wurde von dem edeldenkenden Gatten seiner Mutter völlig als Sohn behandelt; aber als er bei dessen Tod mit der kränklichen, leidenden, an den Füßen gelähmten Mutter in einem abgelegenen Gouvernement zurückblieb, sah er sich vollständig auf seine eigenen Mittel angewiesen. Er selbst ging nach der Hauptstadt und verdiente sich Geld durch tägliche anständige Arbeit, indem er in Kaufmannsfamilien Privatstunden gab und sich dadurch zuerst als Gymnasiast, dann als Hörer der für ihn zweckmäßigen Universitätsvorlesungen erhielt, wobei er ein höheres Ziel im Auge hatte. Aber kann man etwa viel erwerben, wenn einem der russische Kaufmann für die Stunde zehn Kopeken gibt und man obendrein eine kranke, gelähmte Mutter hat? Auch als diese schließlich in dem abgelegenen Gouvernement starb, wurde der Sohn dadurch nicht sonderlich entlastet. Nun werfen wir die Frage auf: wie mußte unser junger Edeling gerechterweise denken? Gewiß meinen Sie, verehrter Leser, daß er zu sich folgendermaßen gesprochen hat: ›Ich habe mein ganzes Leben lang von P. alle erdenklichen Wohltaten genossen; für meinen Unterhalt und meine Erziehung, für Gouvernanten und dann in der Schweiz für die Heilung von der Idiotie sind viele, viele Tausende draufgegangen; und da besitze ich nun jetzt Millionen, während P.s edeldenkender Sohn, der an den Fehltritten seines leichtsinnigen, vergeßlichen Vaters keinerlei Schuld trägt, sich mit Privatstunden zu Tode quält. Alles, was für mich aufgewandt wurde, hätte gerechterweise für ihn aufgewandt werden sollen. Die für mich ausgegebenen gewaltigen Summen kamen mir in Wirklichkeit nicht zu. Es war dies nur ein Irrtum der blinden Fortuna; sie gehörten eigentlich dem Sohn P.s. Für ihn hätten sie verbraucht werden sollen, nicht für mich; letzteres war nur die Ausgeburt einer phantastischen Laune des leichtsinnigen, vergeßlichen P. Wenn ich im vollen Sinn ein edler, feinfühliger, gerechter Mensch wäre, so müßte ich seinem Sohn die Hälfte meiner ganzen Erbschaft abgeben; aber da ich vor allen Dingen ein kluger Mensch bin und recht gut weiß, daß die Sache nicht einklagbar ist, so werde ich ihm nicht die Hälfte meiner Millionen geben. Aber allerdings würde es von meiner Seite gar zu gemein und schamlos sein‹ (der Edeling vergaß, daß es auch nicht klug sein würde), ›wenn ich dem Sohn P.s jetzt nicht wenigstens die Tausende zurückerstattete, die P. für die Heilung meiner Idiotie ausgegeben hat. Das ist lediglich eine Forderung des Gewissens und der Gerechtigkeit! Denn was wäre aus mir geworden, wenn P. mich nicht aufgezogen, sondern statt dessen sich um seinen Sohn bekümmert hätte?‹
Aber nein, meine Herren! Unsere jungen Edelinge denken nicht so. Was für Vorstellungen ihm auch der Advokat machte, der die mühevolle Vertretung der Sache des jungen Mannes einzig und allein aus Freundschaft zu diesem und fast wider dessen Willen, beinah gewaltsam übernommen hatte, wie sehr er ihn auch auf die Pflichten der Ehre, des Anstandes und der Gerechtigkeit, ja sogar auf die Gebote der gewöhnlichen Klugheit hinwies, der Schweizer Zögling blieb unerbittlich, und was tat er? Alles Bisherige wäre noch nichts; aber nun kommt etwas, was wirklich unverzeihlich und durch keine interessante Krankheit zu entschuldigen ist: dieser Millionär, der kaum die Gamaschen seines Professors ausgezogen hatte, konnte nicht einmal so viel kapieren, daß der edeldenkende junge Mann, der sich mit Privatstunden quälte, ihn nicht um ein Almosen und eine Unterstützung bat, sondern sein Recht forderte, dasjenige verlangte, was ihm zustand, wenn auch nicht im gerichtlichen Sinne; und ebensowenig wußte der Millionär es zu würdigen, daß der junge Mann seine Ansprüche nicht persönlich erhob, sondern nur seine Freunde für ihn eintraten. Mit majestätischer Miene, berauscht von der durch seine Millionen ihm zugefallenen Macht, andere Menschen ungestraft niederzutreten, zieht unser Edeling einen Fünfzigrubelschein heraus und ist frech genug, ihn dem edeldenkenden jungen Mann als Almosen zu schicken. Sie glauben es nicht, meine Herren? Sie sind empört, beleidigt und stoßen einen Schrei der Entrüstung aus: aber trotz alledem hat er es getan! Selbstverständlich wurde ihm das Geld sogleich zurückgeschickt, sozusagen ihm ins Gesicht zurückgeschleudert. Wie soll nun die Sache erledigt werden? Gerichtlich verfolgen läßt sie sich nicht; es bleibt nur der Weg der Öffentlichkeit übrig! Wir übergeben daher dieses Geschichtchen dem Publikum, indem wir uns für seine Richtigkeit verbürgen. Man sagt, einer unserer bekanntesten Humoristen habe darüber ein reizendes Epigramm verfaßt, das nicht nur in den provinziellen, sondern auch in den hauptstädtischen Sittenschilderungen eine Stelle zu finden verdient:

In ’nem Mäntelchen von Schneider
Spielte Ljow fünf Jahr herum;
Unterdessen wurde leider
Nichts aus seinem Studium.
Heimgekehrt drauf in Gamaschen,
Erbt‘ er glücklich ’ne Million
Und bestahl trotz voller Taschen
Einen armen Musensohn.«

Als Kolja geendet hatte, reichte er die Zeitschrift so schnell wie möglich dem Fürsten hin, stürzte, ohne ein Wort zu sagen, in eine Ecke, drückte sich dicht hinein und verbarg das Gesicht in den Händen. Er schämte sich in einem unerträglichen Grade, und sein kindliches, an Schmutz noch nicht gewöhntes Empfinden war maßlos verletzt.“
[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 20102 – 20112
(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 4, S. 134-142)
http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]

Der „revolutionäre Gestus“ reduziert sich somit auf nichts weiter als blanken Neid und Schnorrertum.
Man kann zwar mit Lafarge darüber streiten, ob es nicht auch ein Menschenrecht auf Faulheit gibt, zumal Faulheit vornehm auch „Muse“ heißt und zurecht als Grundbedingung jedweden kreativen Schaffens angesehen wird. Der Gehirnforscher Spitzer kann überzeugend nach weisen, das Belohnungen („Incentives“ in neudeutsch) eher zu geistiger Minderleistung führen, d.h. wer geistig viel leisten will, muss vor allem Druck und Stress vermeiden.
Aber eine solche entspannte Atmosphäre hat nichts, aber auch gar nichts mit jener neiderfüllten „Kultur“ des Nichtstuns und der Nichtsnutzigkeit zu tun, für die diese „Helden“ stehen.
Das Privileg zu genießen, jeden Tag spazieren zu gehen und die Gedanken wandern zu lassen, darf nicht mit jener Bequemlichkeit verwechselt werden, bei der man keinen Fuß vor den anderen setzt.
Gesunde Kinder spielen gerne, Kinder, die nur noch antriebslos herum hängen, sind krank, entweder seelisch oder körperlich.
Und die russische Gesellschaft jener Zeit wird durch nichts besser charakterisiert als durch Gontscharows „Oblomov“.
Das „halbasiatische“ der russischen Gesellschaft besteht nicht darin, dass sie zur anderen Hälfte europäisch ist, sondern darin, dass in Agypten, Indien oder China die Despotie eine reale Funktion hatte (die Urbarmachung der Flüsse), während die russische Herrenkaste im Grunde durch und durch nutzlos ist.
Nachdem die Sowjetunion spätestens ab 1921 die Räte, die Sowjets, als basisdemokratische Einrichtungen beseitigt hatte, sammelte sich die alte Bürokratie unter neuen Fahnen. Die „Revolutionäre“ die uns Dostojewskij hier schildert, tragen diese konterrevolutionäre Tendenz bereits in sich.

Wenn wir uns dagegen nach wahrer Freiheit sehnen, sehnen wir uns nach einer Gesellschaft, die es uns erlaubt jede Arbeit zum Spiel werden zu lassen.
Arbeit wird zur künstlerischen Äusserung und damit zum kreativen Bedürfnis.
Das ist der großartige Kern jener Utopie, die uns aus der „Deutschen Ideologie“ entgegen strahlt.
Und dass ist auch der entscheinde Unterschied zu Epikur:
Das Leben soll nicht nur lustvoll genossen, sondern aktiv gestaltet werden.
Wir sitzen nicht nur im Garten, wir freuen uns an der Gartenarbeit.

Veröffentlicht unter Allgemein, Dostojewski, Dostojewskij, Philosophie, Politik | Verschlagwortet mit , , | Schreib einen Kommentar

Mythos Proletariat

In der Version 0.54 wurden die in 0.53 neu eröffneten Kapitel ergänzt und überarbeitet.
Deswegen gibt es auch nur die PDF zum herunterladen: Myschkin_f0.54

Veröffentlicht unter Allgemein, Philosophie, Politik | Verschlagwortet mit , , | Schreib einen Kommentar

Von den wirklichen Problemen wirklicher Menschen

Die Version 0.53 ist fertig zum Download: Myschkin_f0.53
Die Auseinandersetzung mit der „Deutschen Ideologie“ macht Fortschritte. Allerdings muss dieser Schatz erst mühsam aus Lenin-Stalinschem Schutt ausgegraben werden.
Es ist frappierend wie treffend Dostojewskij mit Lebedev, Keller u.a. den „bolschewistischen Geist“ beschreiben hat !
Die neuen Kapitel:

Von den wirklichen Problemen wirklicher Menschen
„Die Althegelianer hatten Alles begriffen, sobald es auf eine Hegelsche logische Kategorie zurückgeführt war. Die Junghegelianer kritisierten Alles, indem sie ihm religiöse Vorstellungen unterschoben oder es für theologisch erklärten. Die Junghegelianer stimmen mit den Althegelianern überein in dem Glauben an die Herrschaft der Religion, der Begriffe, des Allgemeinen in der bestehenden Welt. Nur bekämpfen die Einen die Herrschaft als Usurpation, welche die Andern als legitim feiern.
Da bei diesen Junghegelianern die Vorstellungen, Gedanken, Begriffe, überhaupt die Produkte des von ihnen verselbständigten Bewußtseins für die eigentlichen Fesseln der Menschen gelten, gerade wie sie bei den Althegelianern für die wahren Bande der menschlichen Gesellschaft erklärt werden, so versteht es sich, daß die Junghegelianer auch nur gegen diese Illusionen des Bewußtseins zu kämpfen haben. Da nach ihrer Phantasie die Verhältnisse der Menschen, ihr ganzes Tun und Treiben, ihre Fesseln und Schranken Produkte ihres Bewußtseins sind, so stellen die Junghegelianer konsequenterweise das moralische Postulat an sie, ihr gegenwärtiges Bewußtsein mit dem menschlichen, kritischen oder egoistischen Bewußtsein zu vertauschen und dadurch ihre Schranken zu beseitigen. Diese Forderung, das Bewußtsein zu verändern, läuft auf die Forderung hinaus, das Bestehende anders zu interpretieren, d.h. es vermittelst einer andren Interpretation anzuerkennen. Die junghegelschen Ideologen sind trotz ihrer angeblich »welterschütternden« Phrasen die größten Konservativen. Die jüngsten von ihnen haben den richtigen Ausdruck für ihre Tätigkeit gefunden, wenn sie behaupten, nur gegen »Phrasen« zu kämpfen. Sie vergessen nur, daß sie diesen Phrasen selbst nichts als Phrasen entgegensetzen, und daß sie die wirkliche bestehende Welt keineswegs bekämpfen, wenn sie nur die Phrasen dieser Welt bekämpfen.“
[Marx: Die deutsche Ideologie. Philosophie von Platon bis Nietzsche, S. 49002- 49003 (vgl. MEW Bd. 3, S. 19-20) http://www.digitale-bibliothek.de/band2.htm ]

„Diese Forderung, das Bewußtsein zu verändern, läuft auf die Forderung hinaus, das Bestehende anders zu interpretieren, d.h. es vermittelst einer andren Interpretation anzuerkennen.“ heißt es. Und man erkennt unschwer, dass dies der gleiche Gedanke ist, der in den „Thesen zu Feuerbach“ folgendermassen ausgedrückt wird:
„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.“
[Marx: Thesen über Feuerbach. Philosophie von Platon bis Nietzsche, S. 48555
(vgl. MEW Bd. 3, S. 7) http://www.digitale-bibliothek.de/band2.htm ]

Daran erkennt man aber auch, dass Adorno Unsinn schreibt, wenn er seine „Negative Dialektik“ so beginnt:

„Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward. Das summarische Urteil, sie habe die Welt bloß interpretiert, sei durch Resignation vor der Realität verkrüppelt auch in sich, wird zum Defaitismus der Vernunft, nachdem die Veränderung der Welt mißlang. Sie gewährt keinen Ort, von dem aus Theorie als solche des Anachronistischen, dessen sie nach wie vor verdächtig ist, konkret zu überführen wäre. Vielleicht langte die Interpretation nicht zu, die den praktischen Übergang verhieß. Der Augenblick, an dem die Kritik der Theorie hing, läßt nicht theoretisch sich prolongieren. Praxis, auf unabsehbare Zeit vertagt, ist nicht mehr die Einspruchsinstanz gegen selbstzufriedene Spekulation, sondern meist der Vorwand, unter dem Exekutiven den kritischen Gedanken als eitel abzuwürgen, dessen verändernde Praxis bedürfte. Nachdem Philosophie das Versprechen, sie sei eins mit der Wirklichkeit oder stünde unmittelbar vor deren Herstellung, brach, ist sie genötigt, sich selber rücksichtslos zu kritisieren.“
[Band 6: Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit: Einleitung. Theoder W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 2830 (vgl. GS 6, S. 15)
http://www.digitale-bibliothek.de/band97.htm ]

Was Adorno nicht versteht: Es ging bei der Feuerbach-Kritik von Marx und Engels nie um die Verabschiedung von Theorie zugunsten von Praxis.
Es ging darum, sich von ideologischen Nebelbildungen ohne Bezug zum wirklichen Leben wirklicher Menschen zu verabschieden.
Diese Art von Philosophie ist und bleibt überholt.
Im übrigen ist es reichlich vermessen angesichts der riesigen Veränderungen, die die letzten 200 Jahre der Welt gebracht haben, Veränderungen, die ja erkennbar noch lange nicht an ihr Ende gekommen sind, zu postulieren:
„Das summarische Urteil, sie habe die Welt bloß interpretiert, sei durch Resignation vor der Realität verkrüppelt auch in sich, wird zum Defaitismus der Vernunft, nachdem die Veränderung der Welt mißlang.“
In den letzten 200 Jahren hat sich die Welt von Generation zu Generation so grundlegend verändert, dass die Behauptung „die Veränderung der Welt mißlang“ schon näher begründet werden müsste.
Und auch wenn nicht alles zum Besseren geworden ist, ist das Geschwätz von der „guten alten Zeit“ doch reichlich abgeschmackt und ahnungslos, wenn man die Lebensrealität z.B. des Durchschnittsdeutschen von heute mit der z.B. des beginnenden 18 Jahrhunderts vergleicht.
Dass die Welt, wie sie ist, noch weit davon entfernt ist, so zu sein, wie wir es wünschen, ist kein „Mißlingen“ von Veränderung, sondern nur ein Nachweis dafür, dass die grundlegende Veränderung der Welt, die Etablierung der Freundlichkeit, des Mitleidens aber auch Mitfreuens als Prinzip, kein Ein-Generationen-Projekt war und ist.
Jede Generation, die neu antritt, hat das Recht zu glauben, dass sie das Werk der Befreiung vollenden wird.
Keine Generation, die abtritt, und dieses Werk noch nicht vollendet hat, hat das Recht zu resignieren, weil die Befreiung nicht zur Gänze gelang.
Jede Generation hat die Pflicht so viele Schritte zu gehen wie ihr möglich ist.

Die Absage, die Marx den Philosophen erteilt, bezieht sich darauf, dass diese Philosophen mit Ideen gegen Ideen kämpfen statt die Realität in den Blick zu nehmen und zu einem vertieften Verständnis dieser Realität bei zu tragen.

Die Absage ist auch eine Absage an das Denken, das die Wahrheit im Allgemeinen sucht.
Während aber Adorno bis an sein Lebensende gebraucht hat um zu verstehen, dass es nur die Wahrheit des Besonderen, Einzelnen gibt, dass Abstraktionen bloße Hilfsmittel des Denkens sind, denen keine eigene Wahrheit zu kommt, ist genau dies der Startpunkt für die Beiden.

„Die Voraussetzungen, mit denen wir beginnen, sind keine willkürlichen, keine Dogmen, es sind wirkliche Voraussetzungen, von denen man nur in der Einbildung abstrahieren kann. Es sind die wirklichen Individuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen, sowohl die vorgefundenen wie die durch ihre eigne Aktion erzeugten. Diese Voraussetzungen sind also auf rein empirischem Wege konstatierbar.
Die erste Voraussetzung aller Menschengeschichte ist natürlich die Existenz lebendiger menschlicher Individuen. Der erste zu konstatierende Tatbestand ist also die körperliche Organisation dieser Individuen und ihr dadurch gegebenes Verhältnis zur übrigen Natur. Wir können hier natürlich weder auf die physische Beschaffenheit der Menschen selbst noch auf die von den Menschen vorgefundenen Naturbedingungen, die geologischen, orohydrographischen, klimatischen und andern Verhältnisse, eingehen. Alle Geschichtschreibung muß von diesen natürlichen Grundlagen und ihrer Modifikation im Lauf der Geschichte durch die Aktion der Menschen ausgehen.
Man kann die Menschen durch das Bewußtsein, durch die Religion, durch was man sonst will, von den Tieren unterscheiden. Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren, ein Schritt, der durch ihre körperliche Organisation bedingt ist. Indem die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, produzieren sie indirekt ihr materielles Leben selbst.
Die Weise, in der die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, hängt zunächst von der Beschaffenheit der vorgefundenen und zu reproduzierenden Lebensmittel selbst ab. Diese Weise der Produktion ist nicht bloß nach der Seite hin zu betrachten, daß sie die Reproduktion der physischen Existenz der Individuen ist. Sie ist vielmehr schon eine bestimmte Art der Tätigkeit dieser Individuen, eine bestimmte Art, ihr Leben zu äußern, eine bestimmte Lebensweise derselben. Wie die Individuen ihr Leben äußern, so sind sie. Was sie sind, fällt also zusammen mit ihrer Produktion, sowohl damit, was sie produzieren, als auch damit, wie sie produzieren. Was die Individuen also sind, das hängt ab von den materiellen Bedingungen ihrer Produktion.
Diese Produktion tritt erst ein mit der Vermehrung der Bevölkerung. Sie setzt selbst wieder einen Verkehr der Individuen untereinander voraus. Die Form dieses Verkehrs ist wieder durch die Produktion bedingt.“
[Marx: Die deutsche Ideologie. Philosophie von Platon bis Nietzsche, S. 49004 – 49006 (vgl. MEW Bd. 3, S. 20-21) http://www.digitale-bibliothek.de/band2.htm ]

Es ist ein hoher Anspruch, den sie stellen und dem sie sich stellen: Es soll um die wirklichen Probleme wirklicher Menschen gehen und nicht um irgendwelche „Gespenster“, irgendwelche Ideen, denen diese Menschen unterworfen sind oder sich unterwerfen sollen.
Die wirklichen Probleme wirklicher Menschen beginnen aber mit dem Essen und Trinken und damit wie man sich dieses beschaffen kann. Sie beginnen damit, aber sie enden damit nicht. Wir wollen nicht allein sein, wir wollen geliebt werden, mit allen Facetten, die Liebe haben kann und wir sorgen auch für andere, Kinder und Ältere zumal.
Wie wir uns die Mittel zum täglichen Leben beschaffen ist dabei das zentrale Problem jedes wirklichen Menschen. Und die verschiedenen Formen der gesellschaftlichen Kooperation, aber auch der Über- und Unterordnung, von Herrschaft und Knechtschaft sind prägend für uns und für unsere ganze Existenz.
Vor diesen Realitäten blamiert sich jede hehre Idee.

Der Mythos Proletariat

Auch die Idee eines Proletariats, das sich für die Befreiung der Menschheit opfert, ist eine solche hehre Idee.
Es ist ein zentraler Widerspruch im Denken von Marx und Engels, dass ihre konsequente Absage an alle hehren Ziele und Ideale, ihre konsequente Hinwendung zu den wirklichen Menschen und ihren wirklichen Interessen ausgerechnet die abgeschmackteste Hegelsche Idee, nämlich die vom irdischen Jammertal, von der Geschichte als Golgatha und der Erlösung durch die Geistwerdung, d.h. durch das Aufgehen im Weltgeist, das ausgerechnet diese Idee in beider Denken überlebt hat. Leicht säkularisiert zwar, mit dem Proletariat als Erlöser und dem Aufstieg eben diesen Proletariats aus den Niederungen einer unmenschlichen Existenz zu den Höhen des wahren Menschseins.
Das Proletariat als Idee, als Erlöser hat Generationen von Intellektuellen den Blick auf das wirkliche Proletariat, so wie es leibt, lebt und liebt konsequent verstellt. An seine Stelle ist ein Mythos getreten.
Dabei ist es ja nicht so, dass wir bzw. unsere Vorfahren in den letzten 150 Jahren nicht Teil eines weltweiten revolutionären Prozesses gewesen wären, bei dem bis heute kein Stein auf dem anderen blieb und von dem wir wissen, dass er bei Strafe unseres sonstigen Untergangs noch weiter gehen muss, bis wir mit uns selbst, aber auch mit unserer Mutter Erde versöhnt sind.
In diesem Prozess gibt es allerdings keinen Heiland. Auch keinen Heiland namens „Proletariat“. Wie viel Heil oder Unheil auf unsere Häupter kommt, ist Folge gemeinsamer Tat oder Untat.
Die Idee des Proletariats und seiner „Mission“ wurde in diesem Prozess die zentrale Einfallspforte für idealistisches Gewäsch, für eine Ideologie, die dem konkreten Proletarier seinen konkreten Anspruch auf ein möglicherweise nur kleines Glück im Namen der „großen Sache“ abspricht.
Sie wurde zur Einfallspforte für alle Arten reaktionärer Ideologien.
Wir sollten uns endlich fragen, welchen Interessen diese Ideologien tatsächlich gedient haben.

Das Konzept der zwei Revolutionen
„Die Bourgeoisie hat in der Geschichte eine höchst revolutionäre Rolle gespielt.
Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose »bare Zahlung«. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt.
Die Bourgeoisie hat alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt.
Die Bourgeoisie hat dem Familienverhältnis seinen rührend-sentimentalen Schleier abgerissen und es auf ein reines Geldverhältnis zurückgeführt.
Die Bourgeoisie hat enthüllt, wie die brutale Kraftäußerung, die die Reaktion so sehr am Mittelalter bewundert, in der trägsten Bärenhäuterei ihre passende Ergänzung fand. Erst sie hat bewiesen, was die Tätigkeit der Menschen zustande bringen kann. Sie hat ganz andere Wunderwerke vollbracht als ägyptische Pyramiden, römische Wasserleitungen und gotische Kathedralen, sie hat ganz andere Züge ausgeführt als Völkerwanderungen und Kreuzzüge.
Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war dagegen die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen. Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.
Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen.
Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet. Sie werden verdrängt durch neue Industrien, deren Einführung eine Lebensfrage für alle zivilisierten Nationen wird, durch Industrien, die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern den entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten und deren Fabrikate nicht nur im Lande selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht werden. An die Stelle der alten, durch Landeserzeugnisse befriedigten Bedürfnisse treten neue, welche die Produkte der entferntesten Länder und Klimate zu ihrer Befriedigung erheischen. An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander. Und wie in der materiellen, so auch in der geistigen Produktion. Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut. Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr unmöglich, und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur.
Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktions­instru­mente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhaß der Barbaren zur Kapitulation zwingt. Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehn wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d.h. Bourgeois zu werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde.
[Marx: Manifest der kommunistischen Partei. Philosophie von Platon bis Nietzsche, S. 50062 -50066 (vgl. MEW Bd. 4, S. 464-466)
http://www.digitale-bibliothek.de/band2.htm ]

„ ..sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde.“ Und diese Welt ist die notwendige Voraussetzung dafür, dass danach folgende revolutionäre Veränderungen schließlich eine Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung hervorbringen.
Eine antikapitalistische Einheitsfront, bei der sich russische Bürokraten, chinesische Mandarine, deutscher Adel des Bodens und des Geistes und andere Repräsentanten feudaler Vergangenheit mit den Arbeitern gegen die Krämerseelen (wobei das Adjektiv „jüdisch“ nie weit ist) verbünden, war nie ihr Ziel.
Im Gegenteil: Dieses seltsame Klassenbündnis war in ihren Augen die Verkörperung der Konterrevolution.
Rosa Luxemburgs Ausruf „Wir sind wieder bei Marx !“ auf dem Gründungskongreß der KPD war ein tragischer Irrtum.
Der Kommunismus, so wie er sich im 20 Jahrhundert etablierte, hatte nicht mehr das primäre Ziel den Kapitalismus zu überwinden. Es ging vielmehr darum ihn in Ländern wie Rußland oder China gar nicht erst entstehen zu lassen.
Und hinter der sozialistischen Maske, der Maske des „Arbeiterführers“, verbargen sich nur die alten Herrenschichten, die vor allem gegen ihren ansonsten sicheren Untergang kämpften.
Ein Untergang, der weniger durch Panzer und Kanonen herbeigeführt wird als durch die beständige Maulwurfstätigkeit von Handel und Wandel.
Und so stehen wir am Ende des 20. und am Beginn des 21.Jahrhunderts vor der durch und durch paradoxen Situation, dass eine ganze Reihe untergegangener oder im Untergehen befindlicher feudaler Regimes für Sozialismus bzw. Kommunismus stehen.
In Syrien oder Nordkorea einschliesslich Vererbung der Führungsposition.
Durch diesen Maskenball gerieten auch die höchst realen, über den Kapitalismus hinaus weisenden Errungenschaften, die in der Diskussion gerne unter den Begriff „Sozialstaat“ subsummiert werden, in Gefahr und ins Rutschen.
Das wirkliche Proletariat mit seinen wirklichen Problemen hat daher gut daran getan dieser Art von „Sozialismus/Kommunismus“ konsequent den Rücken zu kehren. Und der Untergang des Sowjetreiches war daher für seinen Kampf ein Segen.
Allerdings erwiesen sich noch im Untergang die Protagonisten dieses „realen Sozialsmus“ als die wirklichen Feinde der arbeitenden Menschen.
Die Einbeziehung der chinesischen Bevölkerung in die kapitalistische Welt hat zusammen mit der Computerisierung die Konkurrenz unter der arbeitenden Bevölkerung weltweit maximal verschärft und das Proletariat in den bisher privilegierten entwickelten Ländern muss nun lernen, dass Solidarität mit den Armen und Schwachen dieser Welt auch im Interesse des eigenen Lohns, der eigenen Existenzbedingungen, unverzichtbar ist.
So vollendeten ausgerechnet die chinesischen Kommunisten den kapitalistischen Weltmarkt und wenn das chinesische Proletariat aus seiner gedrückten und unterdrückten Stellung heraus kommen soll, dann muss es auch in China die elementaren Rechte der bürgerlichen Revolution verwirklichen:
Rede-, Diskussions- und Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, Koalitionsrecht, das Recht beliebige Parteien zu bilden, freie, gleiche und geheime Wahlen.
Mit Hilfe dieser Rechte werden auch die chinesichen Arbeiter und Arbeiterinnen, wie überall auf der Welt, ihren Pariastatus überwinden können.
Das ist der Sinn, der in der „Deutschen Ideologie“ verkündeten Idee von der proletarischen Revolution als Vollenderin der bürgerlichen:
Das Proletariat, das Volk herrscht mittels des Wahlzettels.
Durch die Etablierung demokratischer Verhältnisse werden in der Tat die Massen zur Herrschaft gebracht.
Natürlich versuchen zunächst die herrschenden und die Wirtschaft kontrollierenden Eliten durch die Kontrolle über die ideologische Apparate, durch Einflussnahme im politischen Raum, bis hin zu direkter Korruption, ihre Herrschaft zu erhalten und demokratische Wahlen zum bloßen Spektakel verkommen zu lassen, natürlich leben die Spuren einer 5000jährigen Unterdrückung in unseren Gehirnen und Körpern weiter.
Vor allem die Unterdrückung der Frauen durch ihre Männer und die dazu gehörige devote, unterwürfige Haltung der Frauen ist uns gewissermaßen fast zur zweiten Natur geworden.
Die Brutalität und Rücksichtslosigkeit, die uns geformt hat, prägt auch unser Verhältnis zur Natur und zu jeglicher Kreatur in ihr.
Aber diese Mühen des Wandels sind kein Argument gegen den Wandel.
Sie zeigen nur, wie schwierig es ist und welche Anstrengung es kostet die über Jahrtausende gewachsene Sklavenmentalität hinter uns zu lassen und Freiheit nicht bloß zu postulieren, sondern tatsächlich zu leben.
Unsere Welt ändert sich jeden Tag und es liegt allein an uns, dafür zu sorgen, dass es eine Veränderung zum Besseren wird.
Die bürgerliche Revolution schafft mit der Demokratie die Voraussetzungen dafür, dass die Gesellschaft im Interesse des Volkes, der großen Mehrheit, verändert werden kann.
Diese Möglichkeiten dann auch wirklich zu nutzen, das ist der revolutionäre Prozess in dem wir uns gegenwärtig befinden.
Zu diesem Prozess gehört auch, dass die parlamentarische Form der Demokratie durch vielfältige Formen direkter Demokratie ergänzt werden muss.
Die Hoffnung auf den großen Knall, der alles ändert, ist vordemokratisch. Die Erwartung, dass Veränderungen nur im Schneckentempo vor sich gehen, ahnungslos. Demokratische Prozesse können langwierig und mühsam sein, aber wenn eine Mehrheit Veränderungen will, werden sich die Lokomotiven der Geschichte in Bewegung setzen und ein Land, einen Kontinent, die ganze Welt verändern.

Veröffentlicht unter Allgemein, Philosophie, Politik | Verschlagwortet mit | Schreib einen Kommentar

Kritik der kritischen Kritik oder: Wie konstruiere ich meine eigene spekulative Philosophie

Die Version F.052 des Myschkin ist fertig und kann hier:Myschkin_f0.52 heruntergeladen werden.
Es ist ein Kapitel dazu gekommen, dass sich mit der „Heiligen Familie“ von Marx und Engels und vor allem mit der dort gelieferten Dekonstruktion spekulativer Philosophie befasst.

Das neue Kapitel:

Kritik der kritischen Kritik oder: Wie konstruiere ich meine eigene spekulative Philosophie
Unter der Überschrift:
„Das Geheimnis der spekulativen Konstruktion“ liefern Marx und Engels eine köstliche Dekonstruktion gängiger philosophischer Methoden.
Man könnte nach dieser Methoden nicht nur die Hegelsche, sondern auch eine ganze Reihe weiterer philosophischer Systeme zerlegen.
Genauso gut liese sich daraus eine Art Konstruktionsplan gewinnen: Wie verliere ich mich so im Gestrüpp der Abstraktionen, dass am Schluss alles verrätselt ist.
Dagegen hilft nur konsequenter Nominalismus, wie ihn schon Scotus gelehrt hat.
Aber lesen wir erst mal, was die beiden schreiben:

„Wenn ich mir aus den wirklichen Äpfeln, Birnen, Erdbeeren, Mandeln die allgemeine Vorstellung »Frucht« bilde, wenn ich weitergehe und mir einbilde, daß meine aus den wirklichen Früchten gewonnene abstrakte Vorstellung »die Frucht« ein außer mir existierendes Wesen, ja das wahre Wesen der Birne, des Apfels etc. sei, so erkläre ich – spekulativ ausgedrückt – »die Frucht« für die »Substanz« der Birne, des Apfels, der Mandel etc. Ich sage also, der Birne sei es unwesentlich, Birne, dem Apfel sei es unwesentlich, Apfel zu sein. Das Wesentliche an diesen Dingen sei nicht ihr wirkliches, sinnlich anschaubares
Dasein, sondern das von mir aus ihnen abstrahierte und ihnen untergeschobene Wesen, das Wesen meiner Vorstellung, »die Frucht.« Ich erkläre dann Apfel, Birne, Mandel etc. für bloße Existenzweisen, Modi »der Frucht.« Mein endlicher, von den Sinnen unterstützter Verstand unterscheidet allerdings einen Apfel von einer Birne und eine Birne von einer Mandel, aber meine spekulative Vernunft erklärt diese sinnliche Verschiedenheit für unwesentlich und gleichgültig. Sie sieht in dem Apfel dasselbe wie in der Birne und in der Birne dasselbe wie in der Mandel, nämlich »die Frucht.« Die besondern wirklichen Früchte gelten nur mehr als Scheinfrüchte, deren wahres Wesen »die Substanz«, »die Frucht« ist.
Man gelangt auf diese Weise zu keinem besondern Reichtum an Bestimmungen. Der Mineraloge, dessen ganze Wissenschaft sich darauf beschränkt, daß alle Mineralien in Wahrheit das Mineral sind, wäre ein Mineraloge – in seiner Einbildung. Bei jedem Mineral sagt der spekulative Mineraloge »das Mineral«, und seine Wissenschaft beschränkt sich darauf, dies Wort so oft zu wiederholen, als es wirkliche Minerale gibt.
Die Spekulation, welche aus den verschiednen wirklichen Früchten eine »Frucht« der Abstraktion – die »Frucht« gemacht hat, muß daher, um zu dem Schein eines wirklichen Inhaltes zu gelangen, auf irgendeine Weise versuchen, von der »Frucht«, von der Substanz wieder zu den wirklichen verschiedenartigen profanen Früchten, zu der Birne, dem Apfel, der Mandel etc. zurückzukommen. So leicht es nun ist, aus wirklichen Früchten die abstrakte Vorstellung »die Frucht« zu erzeugen, so schwer ist es, aus der abstrakten Vorstellung »die Frucht« wirkliche Früchte zu erzeugen. Es ist sogar unmöglich, von einer Abstraktion zu dem Gegenteil der Abstraktion zu kommen, wenn ich die Abstraktion nicht aufgebe.
Der spekulative Philosoph gibt daher die Abstraktion der »Frucht« wieder auf, aber er gibt sie auf eine spekulative, mystische Weise auf, nämlich mit dem Schein, als ob er sie nicht aufgebe. Er geht daher auch wirklich nur zum Scheine über die Abstraktion hinaus. Er räsoniert etwa wie folgt:
Wenn der Apfel, die Birne, die Mandel, die Erdbeere in Wahrheit nichts anders als »die Substanz«, »die Frucht« sind, so fragt es sich, wie kommt es, daß »die Frucht« sich mir bald als Apfel, bald als Birne, bald als Mandel zeigt, woher kommt dieser Schein der Mannigfaltigkeit, der meiner spekulativen Anschauung von der Einheit, von »der Substanz«, von »der Frucht« so sinnfällig widerspricht?
Das kommt daher, antwortet der spekulative Philosoph, weil »die Frucht« kein totes, unterschiedsloses, ruhendes, sondern ein lebendiges, sich in sich unterscheidendes, bewegtes Wesen ist. Die Verschiedenheit der profanen Früchte ist nicht nur für meinen sinnlichen Verstand, sondern für »die Frucht« selbst, für die spekulative Vernunft, von Bedeutung. Die verschiednen profanen Früchte sind verschiedne Lebensäußerungen der »einen Frucht«, sie sind Kristallisationen, welche »die Frucht« selbst bildet. Also z.B. in dem Apfel gibt sich »die Frucht« ein apfelhaftes, in der Birne ein birnenhaftes Dasein. Man muß also nicht mehr sagen, wie auf dem Standpunkt der Substanz: die Birne ist »die Frucht«, der Apfel ist »die Frucht«, die Mandel ist »die Frucht«, sondern vielmehr: »die Frucht« setzt sich als Birne, »die Frucht« setzt sich als Apfel, »die Frucht« setzt sich als Mandel, und die Unterschiede, welche Apfel, Birne, Mandel voneinander trennen, sind eben die Selbstunterscheidungen »der Frucht« und machen die besondern Früchte eben zu unterschiednen Gliedern im Lebensprozesse »der Frucht.« »Die Frucht« ist also keine inhaltslose, unterschiedslose Einheit mehr, sie ist die Einheit als Allheit, als »Totalität« der Früchte, die eine »organisch gegliederte Reihenfolge« bilden. In jedem Glied dieser Reihenfolge gibt »die Frucht« sich ein entwickelteres, ausgesprocheneres Dasein, bis sie endlich als die »Zusammenfassung« aller Früchte zugleich die lebendige Einheit ist, welche jeder derselben ebenso in sich aufgelöst enthält als aus sich erzeugt, wie z.B. alle Glieder des Körpers beständig in Blut sich auflösen und beständig aus dem Blut erzeugt werden.
Man sieht: wenn die christliche Religion nur von einer Inkarnation Gottes weiß, so besitzt die spekulative Philosophie soviel Inkarnationen, als es Dinge gibt, wie sie hier in jeder Frucht eine Inkarnation der Substanz, der absoluten Frucht besitzt. Das Hauptinteresse für den spekulativen Philosophen besteht also darin, die Existenz der wirklichen profanen Früchte zu erzeugen und auf geheimnisvolle Weise zu sagen, daß es Apfel, Birnen, Mandeln und Rosinen gibt. Aber die Äpfel, Birnen, Mandeln und Rosinen, die wir in der spekulativen Welt wiederfinden, sind nur mehr Scheinäpfel, Scheinbirnen, Scheinmandeln und Scheinrosinen, denn sie sind Lebensmomente »der Frucht«, dieses abstrakten Verstandeswesens, also selbst abstrakte Verstandeswesen. Was sich daher in der Spekulation freut, ist, alle wirklichen Früchte wiederzufinden, aber als Früchte, die eine höhere mystische Bedeutung haben, die, aus dem Äther deines Gehirns und nicht aus dem materiellen Grund und Boden herausgewachsen, die Inkarnationen »der Frucht«, des absoluten Subjekts sind. Wenn du also aus der Abstraktion, dem übernatürlichen Verstandeswesen »die Frucht«, zu den wirklichen natürlichen Früchten zurückkehrst, so gibst du dagegen den natürlichen
Früchten auch eine übernatürliche Bedeutung und verwandelst sie in lauter Abstraktionen. Dein Hauptinteresse ist es eben, die Einheit »der Frucht« in allen diesen ihren Lebensäußerungen, dem Apfel, der Birne, der Mandel, nachzuweisen, also den mystischen Zusammenhang dieser Früchte, und wie in jeder derselben »die Frucht« sich stufenweise verwirklicht und notwendig, z.B. aus ihrem Dasein als Rosine, zu ihrem Dasein als Mandel fortgeht. Der Wert der profanen Früchte besteht daher auch nicht mehr in ihren natürlichen Eigenschaften, sondern in ihrer spekulativen Eigenschaft, wodurch sie eine bestimmte Stelle im Lebensprozesse »der absoluten Frucht« einnehmen.
Der gewöhnliche Mensch glaubt nichts Außerordentliches zu sagen, wenn er sagt, daß es Äpfel und Birnen gibt. Aber der Philosoph, wenn er diese Existenzen auf spekulative Weise ausdrückt, hat etwas Außerordentliches gesagt. Er hat ein Wunder vollbracht, er hat aus dem unwirklichen Verstandeswesen »die Frucht« die wirklichen Naturwesen, den Apfel, die Birne etc. erzeugt, d.h. er hat aus seinem eignen abstrakten Verstand, den er sich als ein absolutes Subjekt außer sich, hier als »die Frucht « vorstellt, diese Früchte geschaffen, und in jeder Existenz, die er ausspricht, vollzieht er einen Schöpfungsakt.
Es versteht sich, daß der spekulative Philosoph diese fortwährende Schöpfung nur zuwege bringt, indem er allgemein bekannte. In der wirklichen Anschauung sich vorfindende Eigenschaften des Apfels, der Birne etc. als von ihm erfundne Bestimmungen einschiebt, indem er dem, was allein der abstrakte Verstand schaffen kann, nämlich den abstrakten Verstandesformeln, die Namen der wirklichen Dinge gibt; indem er endlich seine eigne Tätigkeit, wodurch er von der Vorstellung Apfel zu der Vorstellung Birne übergeht, für die Selbsttätigkeit des absoluten Subjekts, »der Frucht«, erklärt.
Diese Operation nennt man in spekulativer Redeweise: die Substanz als Subjekt, als inneren Prozeß, als absolute Person begreifen, und dies Begreifen bildet den wesentlichen Charakter der Hegelschen Methode.“
[Marx/Engels: Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Philosophie von Platon bis Nietzsche, S. 48661 – 48667
(vgl. MEW Bd. 2, S. 60 – 62)
http://www.digitale-bibliothek.de/band2.htm ]

Die Kritik ist wesentlich schärfer und auch grundsätzlicher als Rorty sie jemals gewagt hätte.
Die „Frucht“ ist weder „Wesen“ noch „Wahrheit“ des Apfels.
Nur im Apfel selbst und zwar im einzelnen, konkreten sinnlich fassbaren Apfel kann seine Wahrheit gefunden werden. Und auch die Frage, was an einem Apfel wesentlich ist, kann weder mit Verweis auf die Frucht noch mit Abhandlungen über die Idee des Apfels ergründet werden.
Das ist nicht nur eine Absage an die Metaphysik, das ist auch eine Absage an jede Art von Philosophie, die sich „über“ den Dingen wähnt.
An Geisterbeschwörungen, bei denen die konkreten Körper unwesentlich werden.
Das Bilden von Abstraktionen ist ein wichtiges Denkwerkzeug.
Aber diesen Abstraktionen kommt keine eigene Existenz zu.
Zeit existiert nicht ohne Uhren, „Obst“ nur in Form von Äpfeln und Birnen und anderen Früchten. Ja selbst den „Apfel an sich“ gibt es nicht, sondern immer nur diesen und jenen Apfel.
Wesen und Wahrheit müssen im Konkreten gesucht und gefunden werden.

Umgekehrt kann man diese Kritik auch als eine Art „Bauanleitung für philosophische Systeme mit Absolutheitsanspruch“ lesen.
Man nehme z.B. zwei höchst abtrakte Begriffe wie „Sein und Zeit“. Über das Sein lässt sich eigentlich nur sagen, dass es ist. Jede andere Konkretion wurde daraus entfernt. Gerade daraus resultiert ja die breite Anwendbarkeit des Allerwelt-Hilfsverbs „ist“. Alles, was überhaupt existiert hat die Eigenschaft zu sein. Und im Grunde wird hier nur eine leere Abstraktion durch eine andere erklärt.
Also wäre: „Das Sein ist“ alles was sich zum Thema sagen lässt.
Wobei wir, was wir sagen, doppelt sagen, denn das Substantiv ist nichts weiter als das ins Substantiv gesetzte Hilfsverb mit Namen „ist“.
Damit wäre alles gesagt, was über das Sein zu sagen ist und damit lassen sich natürlich weder Bücher füllen noch Lehrstühle erobern.
Aber vielleicht rettet uns ja die Zeit ?
Nicht wirklich.
Bekanntlich wurde die Zeit ja aus dem Reich der metaphysischen Begriffe, die jeder Erfahrung voraus gehen sollen, gewissermaßen „eingeboren“ sind, auf die platte Erde herunter geholt mit der simplen Feststellung: Damit es eine Zeit gibt, muss es eine Uhr geben. Ohne Uhren keine Zeit.
Was sind Uhren ?
Im weiteren Sinn sind es periodische Prozesse (z.B. Tag, Monat=Mondperiode, Jahr=Sonnenperiode), die durch ihre Periodenlänge einen Zeitraum messbar machen.
Im engeren Sinn sind es Maschinen, in denen solche periodischen Prozesse ablaufen und die uns deswegen als Zeitmesser dienen.
Damit aber überhaupt Zeit vergeht, müssen diesen periodischen Prozessen irreversible Prozesse (z.B. ein Menschenleben) gegenüber stehen, die durch ihre Irreversibilität einen Zeitstrahl aus dem Gestern über das Heute ins Morgen definieren.
Damit hätten wir auch dieses Thema erschöpft.
Und immer noch kein Buch in Sicht, das uns lehrstuhlwürdig machen würde.
Sobald wir nun Sein und Zeit mit einander kombinieren und z.B. das Sein in seiner Gewordenheit untersuchen, begehen wir den gleichen Schwindel, den Marx und Engels bereits ausführlich auf gedeckt haben.
Wer über das Sein mehr sagt als dass es ist, sagt zuviel.
Er billigt dem Sein mehr Inhalt zu als es seinem Wesen nach hat.
Gleichzeitig bleibt er aber im Abstrakten, Vagen.
Das führt aber dazu, dass man das Sein wie ein Gummi in beliebige Richtungen ziehen und dehnen kann und dass daraus dann auch eine ebensolche Beliebigkeit im Inhalt resultiert.
Auf diesem Weg lassen sich dann viele Bücher füllen.
Ob man aber auch nur ein einziges davon gelesen haben muss um wirklich was von der Welt zu verstehen, ist eine ganz andere Frage.

Veröffentlicht unter Allgemein, Philosophie | Verschlagwortet mit | Schreib einen Kommentar