Kritik der kritischen Kritik oder: Wie konstruiere ich meine eigene spekulative Philosophie

Die Version F.052 des Myschkin ist fertig und kann hier:Myschkin_f0.52 heruntergeladen werden.
Es ist ein Kapitel dazu gekommen, dass sich mit der „Heiligen Familie“ von Marx und Engels und vor allem mit der dort gelieferten Dekonstruktion spekulativer Philosophie befasst.

Das neue Kapitel:

Kritik der kritischen Kritik oder: Wie konstruiere ich meine eigene spekulative Philosophie
Unter der Überschrift:
„Das Geheimnis der spekulativen Konstruktion“ liefern Marx und Engels eine köstliche Dekonstruktion gängiger philosophischer Methoden.
Man könnte nach dieser Methoden nicht nur die Hegelsche, sondern auch eine ganze Reihe weiterer philosophischer Systeme zerlegen.
Genauso gut liese sich daraus eine Art Konstruktionsplan gewinnen: Wie verliere ich mich so im Gestrüpp der Abstraktionen, dass am Schluss alles verrätselt ist.
Dagegen hilft nur konsequenter Nominalismus, wie ihn schon Scotus gelehrt hat.
Aber lesen wir erst mal, was die beiden schreiben:

„Wenn ich mir aus den wirklichen Äpfeln, Birnen, Erdbeeren, Mandeln die allgemeine Vorstellung »Frucht« bilde, wenn ich weitergehe und mir einbilde, daß meine aus den wirklichen Früchten gewonnene abstrakte Vorstellung »die Frucht« ein außer mir existierendes Wesen, ja das wahre Wesen der Birne, des Apfels etc. sei, so erkläre ich – spekulativ ausgedrückt – »die Frucht« für die »Substanz« der Birne, des Apfels, der Mandel etc. Ich sage also, der Birne sei es unwesentlich, Birne, dem Apfel sei es unwesentlich, Apfel zu sein. Das Wesentliche an diesen Dingen sei nicht ihr wirkliches, sinnlich anschaubares
Dasein, sondern das von mir aus ihnen abstrahierte und ihnen untergeschobene Wesen, das Wesen meiner Vorstellung, »die Frucht.« Ich erkläre dann Apfel, Birne, Mandel etc. für bloße Existenzweisen, Modi »der Frucht.« Mein endlicher, von den Sinnen unterstützter Verstand unterscheidet allerdings einen Apfel von einer Birne und eine Birne von einer Mandel, aber meine spekulative Vernunft erklärt diese sinnliche Verschiedenheit für unwesentlich und gleichgültig. Sie sieht in dem Apfel dasselbe wie in der Birne und in der Birne dasselbe wie in der Mandel, nämlich »die Frucht.« Die besondern wirklichen Früchte gelten nur mehr als Scheinfrüchte, deren wahres Wesen »die Substanz«, »die Frucht« ist.
Man gelangt auf diese Weise zu keinem besondern Reichtum an Bestimmungen. Der Mineraloge, dessen ganze Wissenschaft sich darauf beschränkt, daß alle Mineralien in Wahrheit das Mineral sind, wäre ein Mineraloge – in seiner Einbildung. Bei jedem Mineral sagt der spekulative Mineraloge »das Mineral«, und seine Wissenschaft beschränkt sich darauf, dies Wort so oft zu wiederholen, als es wirkliche Minerale gibt.
Die Spekulation, welche aus den verschiednen wirklichen Früchten eine »Frucht« der Abstraktion – die »Frucht« gemacht hat, muß daher, um zu dem Schein eines wirklichen Inhaltes zu gelangen, auf irgendeine Weise versuchen, von der »Frucht«, von der Substanz wieder zu den wirklichen verschiedenartigen profanen Früchten, zu der Birne, dem Apfel, der Mandel etc. zurückzukommen. So leicht es nun ist, aus wirklichen Früchten die abstrakte Vorstellung »die Frucht« zu erzeugen, so schwer ist es, aus der abstrakten Vorstellung »die Frucht« wirkliche Früchte zu erzeugen. Es ist sogar unmöglich, von einer Abstraktion zu dem Gegenteil der Abstraktion zu kommen, wenn ich die Abstraktion nicht aufgebe.
Der spekulative Philosoph gibt daher die Abstraktion der »Frucht« wieder auf, aber er gibt sie auf eine spekulative, mystische Weise auf, nämlich mit dem Schein, als ob er sie nicht aufgebe. Er geht daher auch wirklich nur zum Scheine über die Abstraktion hinaus. Er räsoniert etwa wie folgt:
Wenn der Apfel, die Birne, die Mandel, die Erdbeere in Wahrheit nichts anders als »die Substanz«, »die Frucht« sind, so fragt es sich, wie kommt es, daß »die Frucht« sich mir bald als Apfel, bald als Birne, bald als Mandel zeigt, woher kommt dieser Schein der Mannigfaltigkeit, der meiner spekulativen Anschauung von der Einheit, von »der Substanz«, von »der Frucht« so sinnfällig widerspricht?
Das kommt daher, antwortet der spekulative Philosoph, weil »die Frucht« kein totes, unterschiedsloses, ruhendes, sondern ein lebendiges, sich in sich unterscheidendes, bewegtes Wesen ist. Die Verschiedenheit der profanen Früchte ist nicht nur für meinen sinnlichen Verstand, sondern für »die Frucht« selbst, für die spekulative Vernunft, von Bedeutung. Die verschiednen profanen Früchte sind verschiedne Lebensäußerungen der »einen Frucht«, sie sind Kristallisationen, welche »die Frucht« selbst bildet. Also z.B. in dem Apfel gibt sich »die Frucht« ein apfelhaftes, in der Birne ein birnenhaftes Dasein. Man muß also nicht mehr sagen, wie auf dem Standpunkt der Substanz: die Birne ist »die Frucht«, der Apfel ist »die Frucht«, die Mandel ist »die Frucht«, sondern vielmehr: »die Frucht« setzt sich als Birne, »die Frucht« setzt sich als Apfel, »die Frucht« setzt sich als Mandel, und die Unterschiede, welche Apfel, Birne, Mandel voneinander trennen, sind eben die Selbstunterscheidungen »der Frucht« und machen die besondern Früchte eben zu unterschiednen Gliedern im Lebensprozesse »der Frucht.« »Die Frucht« ist also keine inhaltslose, unterschiedslose Einheit mehr, sie ist die Einheit als Allheit, als »Totalität« der Früchte, die eine »organisch gegliederte Reihenfolge« bilden. In jedem Glied dieser Reihenfolge gibt »die Frucht« sich ein entwickelteres, ausgesprocheneres Dasein, bis sie endlich als die »Zusammenfassung« aller Früchte zugleich die lebendige Einheit ist, welche jeder derselben ebenso in sich aufgelöst enthält als aus sich erzeugt, wie z.B. alle Glieder des Körpers beständig in Blut sich auflösen und beständig aus dem Blut erzeugt werden.
Man sieht: wenn die christliche Religion nur von einer Inkarnation Gottes weiß, so besitzt die spekulative Philosophie soviel Inkarnationen, als es Dinge gibt, wie sie hier in jeder Frucht eine Inkarnation der Substanz, der absoluten Frucht besitzt. Das Hauptinteresse für den spekulativen Philosophen besteht also darin, die Existenz der wirklichen profanen Früchte zu erzeugen und auf geheimnisvolle Weise zu sagen, daß es Apfel, Birnen, Mandeln und Rosinen gibt. Aber die Äpfel, Birnen, Mandeln und Rosinen, die wir in der spekulativen Welt wiederfinden, sind nur mehr Scheinäpfel, Scheinbirnen, Scheinmandeln und Scheinrosinen, denn sie sind Lebensmomente »der Frucht«, dieses abstrakten Verstandeswesens, also selbst abstrakte Verstandeswesen. Was sich daher in der Spekulation freut, ist, alle wirklichen Früchte wiederzufinden, aber als Früchte, die eine höhere mystische Bedeutung haben, die, aus dem Äther deines Gehirns und nicht aus dem materiellen Grund und Boden herausgewachsen, die Inkarnationen »der Frucht«, des absoluten Subjekts sind. Wenn du also aus der Abstraktion, dem übernatürlichen Verstandeswesen »die Frucht«, zu den wirklichen natürlichen Früchten zurückkehrst, so gibst du dagegen den natürlichen
Früchten auch eine übernatürliche Bedeutung und verwandelst sie in lauter Abstraktionen. Dein Hauptinteresse ist es eben, die Einheit »der Frucht« in allen diesen ihren Lebensäußerungen, dem Apfel, der Birne, der Mandel, nachzuweisen, also den mystischen Zusammenhang dieser Früchte, und wie in jeder derselben »die Frucht« sich stufenweise verwirklicht und notwendig, z.B. aus ihrem Dasein als Rosine, zu ihrem Dasein als Mandel fortgeht. Der Wert der profanen Früchte besteht daher auch nicht mehr in ihren natürlichen Eigenschaften, sondern in ihrer spekulativen Eigenschaft, wodurch sie eine bestimmte Stelle im Lebensprozesse »der absoluten Frucht« einnehmen.
Der gewöhnliche Mensch glaubt nichts Außerordentliches zu sagen, wenn er sagt, daß es Äpfel und Birnen gibt. Aber der Philosoph, wenn er diese Existenzen auf spekulative Weise ausdrückt, hat etwas Außerordentliches gesagt. Er hat ein Wunder vollbracht, er hat aus dem unwirklichen Verstandeswesen »die Frucht« die wirklichen Naturwesen, den Apfel, die Birne etc. erzeugt, d.h. er hat aus seinem eignen abstrakten Verstand, den er sich als ein absolutes Subjekt außer sich, hier als »die Frucht « vorstellt, diese Früchte geschaffen, und in jeder Existenz, die er ausspricht, vollzieht er einen Schöpfungsakt.
Es versteht sich, daß der spekulative Philosoph diese fortwährende Schöpfung nur zuwege bringt, indem er allgemein bekannte. In der wirklichen Anschauung sich vorfindende Eigenschaften des Apfels, der Birne etc. als von ihm erfundne Bestimmungen einschiebt, indem er dem, was allein der abstrakte Verstand schaffen kann, nämlich den abstrakten Verstandesformeln, die Namen der wirklichen Dinge gibt; indem er endlich seine eigne Tätigkeit, wodurch er von der Vorstellung Apfel zu der Vorstellung Birne übergeht, für die Selbsttätigkeit des absoluten Subjekts, »der Frucht«, erklärt.
Diese Operation nennt man in spekulativer Redeweise: die Substanz als Subjekt, als inneren Prozeß, als absolute Person begreifen, und dies Begreifen bildet den wesentlichen Charakter der Hegelschen Methode.“
[Marx/Engels: Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Philosophie von Platon bis Nietzsche, S. 48661 – 48667
(vgl. MEW Bd. 2, S. 60 – 62)
http://www.digitale-bibliothek.de/band2.htm ]

Die Kritik ist wesentlich schärfer und auch grundsätzlicher als Rorty sie jemals gewagt hätte.
Die „Frucht“ ist weder „Wesen“ noch „Wahrheit“ des Apfels.
Nur im Apfel selbst und zwar im einzelnen, konkreten sinnlich fassbaren Apfel kann seine Wahrheit gefunden werden. Und auch die Frage, was an einem Apfel wesentlich ist, kann weder mit Verweis auf die Frucht noch mit Abhandlungen über die Idee des Apfels ergründet werden.
Das ist nicht nur eine Absage an die Metaphysik, das ist auch eine Absage an jede Art von Philosophie, die sich „über“ den Dingen wähnt.
An Geisterbeschwörungen, bei denen die konkreten Körper unwesentlich werden.
Das Bilden von Abstraktionen ist ein wichtiges Denkwerkzeug.
Aber diesen Abstraktionen kommt keine eigene Existenz zu.
Zeit existiert nicht ohne Uhren, „Obst“ nur in Form von Äpfeln und Birnen und anderen Früchten. Ja selbst den „Apfel an sich“ gibt es nicht, sondern immer nur diesen und jenen Apfel.
Wesen und Wahrheit müssen im Konkreten gesucht und gefunden werden.

Umgekehrt kann man diese Kritik auch als eine Art „Bauanleitung für philosophische Systeme mit Absolutheitsanspruch“ lesen.
Man nehme z.B. zwei höchst abtrakte Begriffe wie „Sein und Zeit“. Über das Sein lässt sich eigentlich nur sagen, dass es ist. Jede andere Konkretion wurde daraus entfernt. Gerade daraus resultiert ja die breite Anwendbarkeit des Allerwelt-Hilfsverbs „ist“. Alles, was überhaupt existiert hat die Eigenschaft zu sein. Und im Grunde wird hier nur eine leere Abstraktion durch eine andere erklärt.
Also wäre: „Das Sein ist“ alles was sich zum Thema sagen lässt.
Wobei wir, was wir sagen, doppelt sagen, denn das Substantiv ist nichts weiter als das ins Substantiv gesetzte Hilfsverb mit Namen „ist“.
Damit wäre alles gesagt, was über das Sein zu sagen ist und damit lassen sich natürlich weder Bücher füllen noch Lehrstühle erobern.
Aber vielleicht rettet uns ja die Zeit ?
Nicht wirklich.
Bekanntlich wurde die Zeit ja aus dem Reich der metaphysischen Begriffe, die jeder Erfahrung voraus gehen sollen, gewissermaßen „eingeboren“ sind, auf die platte Erde herunter geholt mit der simplen Feststellung: Damit es eine Zeit gibt, muss es eine Uhr geben. Ohne Uhren keine Zeit.
Was sind Uhren ?
Im weiteren Sinn sind es periodische Prozesse (z.B. Tag, Monat=Mondperiode, Jahr=Sonnenperiode), die durch ihre Periodenlänge einen Zeitraum messbar machen.
Im engeren Sinn sind es Maschinen, in denen solche periodischen Prozesse ablaufen und die uns deswegen als Zeitmesser dienen.
Damit aber überhaupt Zeit vergeht, müssen diesen periodischen Prozessen irreversible Prozesse (z.B. ein Menschenleben) gegenüber stehen, die durch ihre Irreversibilität einen Zeitstrahl aus dem Gestern über das Heute ins Morgen definieren.
Damit hätten wir auch dieses Thema erschöpft.
Und immer noch kein Buch in Sicht, das uns lehrstuhlwürdig machen würde.
Sobald wir nun Sein und Zeit mit einander kombinieren und z.B. das Sein in seiner Gewordenheit untersuchen, begehen wir den gleichen Schwindel, den Marx und Engels bereits ausführlich auf gedeckt haben.
Wer über das Sein mehr sagt als dass es ist, sagt zuviel.
Er billigt dem Sein mehr Inhalt zu als es seinem Wesen nach hat.
Gleichzeitig bleibt er aber im Abstrakten, Vagen.
Das führt aber dazu, dass man das Sein wie ein Gummi in beliebige Richtungen ziehen und dehnen kann und dass daraus dann auch eine ebensolche Beliebigkeit im Inhalt resultiert.
Auf diesem Weg lassen sich dann viele Bücher füllen.
Ob man aber auch nur ein einziges davon gelesen haben muss um wirklich was von der Welt zu verstehen, ist eine ganz andere Frage.

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