Hesse über Myschkin

Die Arbeit geht weiter. Das Kapitel Myschkin und Rogoschin ist angefangen, aber noch lange nicht fertig.
Dafür gibt es einen Kommentar zu Hesses Kommentar zu Hesse.
Die neue Version kann man hier lesen: Myschkin_f0.3

Das Kapitel über Hesse:

Hermann Hesse über Myschkin

Von Hermann Hesse gibt es einen Aufsatz aus dem Jahr 1919 mit dem Titel „Gedanken zu Dostojewskis «Idiot»“. ….. Den ganzen Aufsatz findet man hier: http://www.gss.ucsb.edu/projects/hesse/Idiot-mit-Dostobild.pdf

Betrachten wir seine Ausführungen im einzelnen. Die zentrale Aussage Hesses scheint mir folgende zu sein:“Der Idiot ist, sagte ich, zeitweise jener Grenze nahe, wo von jedem Gedanken auch das Gegenteil als wahr empfunden wird. Das heißt, er hat ein Gefühl dafür, daß kein Gedanke, kein Gesetz, keine Prägung und Formung existiert, welche anders wahr und richtig wäre als von einem Pole ? und zu jedem Pol gibt es einen Gegenpol.“
Man kann es auch anders sagen: Für den Idioten ist das Nicht-Identisch-Sein Teil seiner Identität.
Und das erschreckt alle an ihm, auch Hesse.
Das Erschrecken resultiert dabei daraus, dass „Identität“ eben keineswegs ein so selbstverständlicher Zustand ist, wie man sich gerne einredet. Aber je weniger selbstverständlich Identität ist, um so grösser der Unwille, wenn das Identitätsdenken in Frage gestellt wird.

Woher kommt dieses Nicht-Identisch-Sein ?

Hesse meint:
„Myschkin unterscheidet sich von den andern dadurch, daß er als «Idiot» und Epileptiker, der aber zugleich ein recht kluger Mensch ist, viel nähere und unmittelbarere Beziehungen zum Unbewußten hat als jene.…
Er hat Magie, er hat mystische Weisheit nicht gelesen und anerkannt, nicht studiert und bewundert, sondern (wenn auch nur in ganz seltenen Augenblicken) tatsächlich erlebt.“

Es ist typisch für Nicht-Epileptiker, dass sie vom Anfallsgeschehen so verstört sind, dass sie hier eine „höhere Macht“ walten sehen.
Dabei wird übersehen, dass man als Epileptiker während des Anfalls bewußtlos ist und in diesem Zustand schlecht das Unbewußte sehen kann. So spektakulär ein Anfall für den Zuschauer aussieht, so banal ist das Geschehen für den im Zentrum. Aber das ist ja nicht ungewöhnlich, denn im Auge des Hurrikans ist es auch still.

Bleibt die Aura, jener kurze, noch bewußte „Moment des Glücks“ von dem Dostojewski schreibt. Ich hatte nie eine Aura. Aber Menschen, die wie Dostojewski eine Aura erlebt haben, haben mir erzählt, dass sie diesen „kurzen Moment“ hauptsächlich dazu nutzen sich in Sicherheit zu bringen. Ein Anfall ist für den Betroffenen zu allererst ein Sturz, bei dem man sich alle Knochen brechen kann. Es ist schon erstaunlich, wie heil ich die unmöglichsten Stürze übrerstanden habe, aber ich habe mir auch schon aus einer „harmlosen“ Situation heraus das Nasenbein gebrochen und die Zähne eingeschlagen.

So leid es mir für Hesse auch tut: Das mit der höheren magischen Wahrheit ist ein Schmarren.
Damit stellt sich allerdings erst die Frage nach der Ursache von Myschkins Andersartigkeit, die laut Hesse ja darin besteht, dass sein Denken „zum Chaos zurück kehrt. „
„Ein Denken, das zum Unbewußten, zum Chaos, zurückkehrt, zerstört jede menschliche Ordnung.“ dekretiert er.
Die Frage ist allerdings ob seine Angst vor dem Chaos und der „Zerstörung ..menschlicher Ordnung“ nicht typisch deutsch ist.

So ordentlich wie Hesse sich das wünscht, ist nur der Kristall und der ist tot. Das Leben beinhaltet immer neben Ordnung auch Chaos. Nur durch diesen Tanz auf der Grenze von Ordnung und Chaos ist überhaupt das Lebendige definiert.

Bleibt die Frage, wodurch Myschkin das Ordnungsemfinden Hesses, der Jepantschins und ihres Anhangs, aber auch Ippolits und seiner „Nihilisten“ so nachhaltig stört.

Was definiert überhaupt „Ordnung“ ?

Der Mensch ist ein soziales Tier. Und alle diese Tiere haben zu allererst eine Rangordnung. Mann und Frau sortieren sich in Hierarchien.

In der menschlichen Gesellschaft ist es noch ein bißchen komplizierter. Neben der gewissermaßen natürlichen Hierarchie, die sich aus der Person und ihren nachvollziehbaren Fähigkeiten ergibt, existiert im Rußland der 60iger Jahre des 19.Jahrhunderts noch eine Hierarchie kraft Geburt, die manche dazu berechtigt andere auch körperlich zu züchtigen und daneben und darunter, aber in wachsender Konkurrenz auch eine Hierarchie, die sich auf Besitz gründet und die dem, der Geld hat, auch Geld geerbt hat,die Möglichkeit verschafft, dem der ihn schlagen darf, gegebenenfalls finanziell die Gurgel zu zu drücken.

Weil diese unterschiedlichen Hierarchiesysteme in Konkurrenz und Konflikt geraden sind, deswegen sind die „Nihilisten“ und ihr merkwürdiger Auftritt überhaupt möglich.

Myschkin aber sind all diese konkurrienden Hierarchiesystem fremd.
Wobei das nicht heisst, dass sein Verstand sie nicht begreift, aber er lebt sie nicht und sie leben nicht in und mit ihm.

Um das zu verstehen, können wir alle „vererbten“, von früheren Fähigkeiten und Verdiensten hergeleiteten Hierarchien, ob sie nun auf Geld (auch ererbtem Geld) oder ererbtem Rang beruhen, getrost vergessen.
Sie definieren sowieso nur ein von den Vorfahren geschenktes Plus oder Minus, das einem am Bein hängt oder nach oben trägt, bei der Herausbildung dessen, was wir als natürliche oder Fähigkeitshierarchie bezeichnen können.

In einer Gesellschaft der Gleichheit wäre dieses Plus oder Minus Null. Und somit würden wir auch nur in einer solchen Gesellschaft tatsächlich von den Fähigsten unter uns regiert.

Aber auch in einer solchen Gesellschaft hätte Myschkin Probleme mit der Rangordnung.
Das liegt daran, dass wir uns in den Gruppen, in denen wir zu Hause sind, gewissermaßen nach unseren Fähigkeiten sortieren.
Da wir auf unterschiedlichen Gebieten unterschiedliche Fähigkeiten haben, findet eine Mittelwertbildung statt. Daraus errechnet sich unser Rang. Natürlich bleiben bei annähernder Gleichheit Zweifel und man überschätzt sich gerne. Dann finden Rangordnungskämpfe statt.
Wir unterscheiden uns da weniger von Affen oder Raben, als wir in unserer Selbstüberschätzung gerne wahr haben wollen.

Das Problem für Myschkin besteht nun darin, dass eine Mittelwertbildung bei Extremwerten nicht funktioniert. Aus einem „klugen Menschen“ und komletten Idioten ergibt sich nun mal kein halber Idiot oder nicht ganz so kluger Mensch. Beides Klugheit und Idiotie bleiben in ihrer Gleichzeitigkeit Myschkinsche Attribute.
Damit ist aber sein natürlicher Platz in einer natürlichen Hierarchie das Nirgends oder auch das Überall und damit die Ortlosigkeit.
Er ist allen anderen gleichzeitig überlegen und unterlegen und damit ist seine Identität das Nicht-Identisch-Sein.

Wenn wir uns nun fragen, warum es bei sozialen Tieren eine solche Rangordnung geben muss, dann ist die Antwort darauf: Weil damit der Krieg jeder gegen jeden, den nach Hobbes angeblich erst der Staat befriedet, verhindert wird. D.h. natürliche Rangordnungen (nicht der ererbte Rang oder das ererbte Geld) sind für soziales Zusammenleben unverzichtbar.

Gleichzeitig verschlingen Rangordnungskämpfe aber auch viel Energie, denn das Nicht-Identisch-Sein ist bei den Myschkins ja nur extrem, insofern wir es hier mit Gleichzeitigkeit zu tun haben. Aber auch die anderen Mitglieder einer sozialen Gruppe bleiben heute nicht wie gestern. Der eine ist zwar ein Silberrücken, aber an der Spitze zu stehen ist anstrengend und irgendwann schwinden die Kräfte, dem anderen wachsen sie und so greift er an und erobert sich einen neuen Platz in der Hierarchie usw. ad infinitum.

Weibchen sind in der Regel schwächer und zumal mit einem Kind auf dem Rücken verletzlicher und deswegen bleiben sie häufig untergeordnet. Aber mit zunehmender Entwicklung des Sozialen bilden sich neue Verhältnisse. An Stelle roher Kraft tritt die Fähigkeit zu kooperieren, sich zu verbünden.

Hier erweisen sich die Frauen mit ihrer Fähigkeit zu Liebe und Zuneigung aber als das stärkere Geschlecht. Das heisst nicht dass Rangordnungen verschwinden, aber sie werden modifiziert durch Verstehen, Verzeihen und Gernhaben, kurz durch Liebe.

In solchen frauengeprägten Gesellschaften mit ihrer anderen Art von Ordnung hätte es unser Myschkin leichter. Aber leider ist das Matriarchat mit der Herausbildung des Kriegertums vermutlich untergegangen. Zwar erinnert uns der Mythos der Amazonen daran, dass am Anfang dieser Zeit neben Kriegern auch Kriegerinnen existierten, aber vollkommen zu Recht erzählt uns dieser Mythos auch davon, dass am Ende die Kriegerinnen den Krieg verloren haben.

Und so sind wir heute wieder in mancher Hinsicht in der Welt der Paviane gelandet.

„Höchste Wirklichkeit für Myschkin aber ist das magische Erlebnis von der Umkehrbarkeit aller Satzungen, vom gleichberechtigten Vorhandensein der Gegenpole. Der «Idiot», zu Ende gedacht, führt das Mutterrecht des Unbewußten ein, hebt die Kultur auf. Er zerbricht die Gesetzestafeln nicht, er dreht sie nur um und zeigt, daß auf der Rückseite das Gegenteil geschrieben steht.
Daß dieser Feind der Ordnung, dieser furchtbare Zerstörer nicht als Verbrecher auftritt, sondern als lieber, schüchterner Mensch voll Kindlichkeit und Anmut, voll guter Treuherzigkeit und selbstloser Gutmütigkeit, das ist das Geheimnis dieses erschreckenden Buches.“

Dass der Idiot das „Mutterrecht des Unbewußten“ einführt, hebt mit nichten die Kultur auf.

Es durchlöchert aber die strengen Satzungen des Vaters setzt die prinzipielle Unordnung des Lebens neu auf unsere Tagesordnung.

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