Myschkin und Ich – Skizzen vom Anderssein

Wie ich einmal beinahe in die Ludwigshafener Müllverbrennung gefallen wäre

Früher, vor dem Umbau, befand sich eine große, offene Plattform vor der Ludwighafener Müllverbrennung. Am dieser Plattform befand sich ein nicht sehr hohes Geländer. Dahinter ging es ca.5-10 m in die Tiefe. Dort unten lag der Müll, der aus dieser Kammer langsam über eine Transportschnecke in die Brennkammer transportiert wurde.
An diesem Geländer standen die Autos um Müll zu entladen.
Wir standen mit einem VW-Bus dort und waren zu dritt. Da der Bus zu schmal war für 3 Personen, stand ich seitlich vom Bus und warf Müll in den Abgrund.
Auf einmal parkte ein LKW rückwärts neben uns ein. D.h. er fuhr direkt auf mich zu Richtung Geländer. Ich erinnerte mich später, dass ich ihn aus den Augenwinkeln bemerkte. Der LKW konnte mich nicht bemerken, da ich im toten Winkel stand.
Ich reagierte allerdings auch nicht.
Mein Kollege bemerkte die Gefahr und riss mich in letzter Sekunde aus dem Weg. Gleichzeitig brüllte er mich an: "Hast Du eigentlich bemerkt, dass ich Dir gerade das Leben gerettet habe !". Ich grinste ihn nur blöde an, denn ich hatte in der Tat nichts davon bemerkt.
Zwar hatte ich den zurückstoßenden LKW gesehen, aber irgendwelche "da ist eine Gefahr"-Programme, wie sie normalerweise bei normalen Menschen in solchen Situationen zu weitgehend automatisierten Antworten wie "schnell weg" führen, sprangen bei mir nicht an.
Ich bekam noch nicht mal Angst.
Das ist auch das, was mich, auch im Rückblick, am meisten erschreckt.
Wobei "Erschrecken" das falsche Wort ist, denn Erschrecken ist ein Vorgang, der den ganzen Körper erfasst. Ein solches Erschrecken gab es nie.
Es gab bei mir nur die rationale Erkenntnis, dass ich tatsächlich in Lebensgefahr gewesen war.
Mit dem zurückstoßenden LKW war es im Prinzip so, als hätte irgendein Teil von mir, dass was ich gesehen habe, unter der Rubrik „unwichtig“ abgelegt.
Und meine Augen und mein Sehzentrum konnten anschließend beweisen, dass sie nicht versagt hatten.
Es ist überhaupt ziemlich merkwürdig, dass ich hinterher oft weiß, was ich falsch gemacht habe und warum.
Schon als Kind hatte ich mehr Unfälle als z.B. mein Bruder und den einen oder anderen Unfall "verdankte" mein jüngerer Bruder auch mir.
Auch wenn ich jetzt seit ca.20 Jahren keinen Anfall mehr hatte, werde ich trotzdem nie einen Führerschein machen, weil ich der festen Überzeugung bin, dass ich eine Gefahr für mich und meine Mitmenschen wäre und zwar wegen meiner fehlenden Reaktion auf zurückstoßende Lastwagen.
Generell bin ich immer gut, wenn es ums Denken, auch ums schnelle Denken und Begreifen, geht. Sobald es ums reagieren geht, d.h. wenn eher das Kleinhirn als das Großhirn gefragt ist, bin ich verloren.
Z.B. brauchen sie mir keinen Ball zu zu werfen, ich werde ihn wahrscheinlich nicht fangen (können). Auch wenn sie mir im übertragenen Sinne "Bälle" zu werfen, werden die öfter verloren gehen.
Ich habe eben das, was man eine "lange Leitung" nennt.
Aus diesem Grund hat ich auch schon als Kind wenig Interesse an Spielen, bei denen es auch ums Täuschen und Tricksen geht.
Wer verliert schon gern immer ?

Konnte Myschkin einen Ball fangen ?

Ob Myschkin einen Ball fangen konnte, steht nicht im Roman. Noch nicht mal, ob er jemals versucht hat einen Ball zu fangen.
Auch von Dostojewski weiß ich das nicht. Ballspielen dürfte in den höheren Kreisen Rußlands vielleicht nicht so in Mode gewesen sein.
Aber dass ich keinen Ball fangen kann, weiß ich.
Und ich bin überzeugt, dass auch Myschkin/Dostojewski das nicht konnte.
Aber der Reihe nach:
Wenn sich 2 Jungen auf der Straße treffen, kann es sein, dass der eine dem anderen den Ball zuwirft, der fängt und dann fangen die beiden an zu spielen. Wenn man diesen Vorgang a la Libet (
http://de.wikipedia.org/wiki/Benjamin_Libet und http://de.wikipedia.org/wiki/Libet-Experiment ) messen könnte, würde man wahrscheinlich feststellen, dass das erste Fangen nur funktionierte, weil der Körper und die Hände den Ball gefangen haben, bevor der angespielte Junge überhaupt darüber nach gedacht hat.
Er fängt erst den Ball und dann überlegt er sich, ob er überhaupt spielen will.
Ich kann keinen Ball fangen, weil ich darüber nachdenken muss, d.h. die Automatismen funktionieren nicht.
Mit Libets Experiment wird ja gerne die Frage verbunden, ob es überhaupt so was wie Willensfreiheit gibt, wenn unsere Hände schon wissen was sie tun wollen, bevor unser Kopf meint es beschlossen zu haben.
Evolutionär gesprochen hätte uns der Leopard, als wir noch Affen waren, auf dem Baum immer gefangen und gefressen, wenn wir auf die Reaktion unseres damals noch gar nicht richtig vorhandenen Großhirns gewartet hätten.
Myschkin und ich gehören aber vermutlich genau zu der Sorte Mensch die am ehesten schon als Kinder vom Leopard gefressen würden, wenn uns Leoparden noch fressen könnten.
Wobei, um wieder auf die Willensfreiheit zu kommen, das vom Leopareden gefressen werden in der Tat die größte Beschränkung jedweder Willensfreiheit ist.
Die gegenwärtige Neurologen-Diskussion über Willensfreiheit leidet unter dem grundsätzlichen Mangel, dass nicht verstanden wird, wie wenig Zeit wir überhaupt hätten, über das was wir wollen nach zu denken, d.h. überhaupt einen Willen zu entdecken, wenn alles was wir tun, von unserem Verstand geleitet und kontrolliert werden müsste.
Myschkins und mein Defizit liegt gerade darin, dass wir über viel zu vieles erst nachdenken müssen, was andere als fertige Automatismen einfach abrufen können.
Sein und mein Defizit liegt nicht im Verstand, sondern in dem was dem Verstand an intellektueller und motorischer Leistung voraus geht.
Unser Myschkin-Verstand funktioniert auch deswegen relativ gut, weil er mehr leisten muss. Dieses „Mehr leisten müssen“ kann aber schnell zur Überforderung werden und dann gucken wir reichlich blöd.
Wenn sie mich so sehen wollen, zwingen sie mich am besten Ball zu spielen.

Willensfreiheit, Determinismus und Wechselwirkung

Man spricht gern von Kausalketten. Wobei das ein kein schöner Ausdruck ist.
Es klingt so nach Kunda Kinde und einem Sklavenschiff auf dem Weg über den Atlantik.
Ich ziehe es vor mir Schüre vor zu stellen, die von der Ursache zur Wirkung gespannt sind. Mit Knoten versehen, an denen Wenn.. dann-Bedingungen hängen. Am Ende gleicht das alles mehr einem Netz.
Natürlich kann man auch damit gebunden und zum Sklaven gemacht werden.

Wenn wir uns nun etwas konkreter auf unser Problem einlassen, dann stoßen wir zunächst auf die Beziehung Ursache → Wirkung. Nehmen wir an, wir sagen: Menschen sind die Produkte ihrer Umwelt, weil sie von daher geprägt sind und erzogen werden. Wir erhalten die Beziehung Umwelt → Mensch.
Nun besteht aber der wichtigste Teil der Umwelt jedes Menschen wieder aus Menschen. Selbst die Natur um uns ist vielfach menschlich geprägt. Und schon erhalten wir die Beziehung Mensch → Umwelt.
Wir erhalten damit statt einer Ursache-Wirkungs-Beziehung eine Wechselwirkung. D.h. wir haben nun 2 Knotenschnüre: Von der Umwelt zum Mensch und rückwärts vom Mensch zur Umwelt.
Scheinbar ist das kein Problem, in Wirklichkeit aber doch.
Worin besteht unser Problem ?
Kausalketten setzen die Ursache als gegeben und die Wirkung als Resultat. Allgemein können wir sagen, dass A als Ursache durch seine Wirkung B in B' verwandelt. Wenn wir nun aber zur Wechselwirkung übergehen, dann ist A nicht mehr nur Ursache, sondern zugleich Wirkung, d.h. A geht über in A'. Damit erhalten wir aber ein Problem: Ist nun A oder A' Ursache ? Und wird damit B zu B' oder zu B'' ? Und je nachdem welches B wir erhalten ist dieses ja auch wieder Ursache von A.
Die Katze beißt sich damit in den Schwanz.
Und während sich die Katze in den Schwanz gebissen hat, ist unser ganzes schönes logisches Denken perdu. Wechselwirkungen widersetzen sich der Logik, weil sie den Satz von der Identität außer Kraft setzen.
Nur wenn wir die Tatsache einer Wechselwirkung ignorieren, können wir einerseits die Wirkung des Menschen auf die Umwelt und andererseits die Wirkung der Umwelt auf die Menschen untersuchen. Ohne dass wir die andere Seite dabei mehr oder weniger ignorieren geht es aber nicht.
Wir können uns nur dieser Ignoranz bewusst sein und dann die Seiten wechseln. Das ist z.B. das übliche Vorgehen von Marx im Kapital, das Heerscharen gläubiger Jünger in schiere Verzweiflung gestürzt hat.
Damit wird Kausalität aber zu einem Spezialfall: Sie existiert nur in ihrer ganzen Reinheit und Strenge, wenn es keine Wechselwirkung gibt.
Wechselwirkungen gibt es aber immer. Und somit ist das Betrachten von Kausalität immer eine Abstraktion vom wirklichen Leben.
Eine notwendige und sinnvolle zwar, - denn sonst bliebe uns nur der allgemeine Satz, dass alles mit allem zusammenhängt und der verwechselt Erkenntnis mit wohlklingendem Rauschen,- aber eben doch eine Abstraktion.
Die Realität gehört den Wechselwirkungen.
Und damit erhalten wir ein Moment von Unbestimmtheit:
A wirkt auf B und macht es zu B'.
B wirkt auf A und macht es zu A'.
Da beides gleichzeitig geschieht, ist damit unbestimmt ob A oder A' auf B oder B' wirkt und umgekehrt. Erst wenn man eine Sequenz unterstellt, z.B. in der Form, dass erst A auf B wirken soll und dann B auf A können wir ein bestimmtes Resultat angeben.
D.h. aber der Determinismus den wir für die Realität annehmen, hat ein Moment der Unbestimmtheit. Damit erweist sich der Laplacsche Dämon als nicht existent.
Kein Gott kann alle Ursachen wissen, weil erst im Moment des Vollzugs A oder A' resp. B oder B' zur Ursache wird.
Auf dieser Unbestimmtheit basiert unsere Freiheit.
Andernfalls gäbe es keine, nur Schicksal.
Freiheit heißt demnach, dass wir uns in einer Wolke von Möglichkeiten bewegen und aktiv zu beeinflussen versuchen, welche Möglichkeit zur Wirklichkeit wird.
Dass wir dabei auch scheitern, gehört dazu.
Dass wir uns dadurch aber nicht abhalten lassen, auch.
Das heißt aber auch, dass Freiheit, Befreiung ein Prozess ist und kein Zustand in dem wir es uns irgendwann gemütlich machen können.
Wir werden freier dadurch, dass wir uns neue Möglichkeiten erarbeiten. Und wir können unfreier werden, weil uns Handlungsoptionen weg genommen werden.
Es heißt aber vor allem auch, dass die Behauptung wir seien frei und gleich geboren, eine Lüge ist, wenn auch eine im Verfassungsrang.
Als Baby war unsere einzige Möglichkeit nach der Mutter zu schreien, dass heißt unsere Möglichkeiten und damit unsere Freiheit waren sehr beschränkt.
Dafür waren wir alle gleich hilflos, aber nur für den Moment.
Die Unterschiede beginnen danach schon damit, ob unsere Mutter uns schreien hört oder nicht.
Das ist aber längst nicht alles: Mutter und Vater geben dem Kind ihre Gene mit und damit begründen sie die erste Form der Ungleichheit, Mutter und Vater haben einen sozialen Status und auch den vererben sie und schließlich sind da auch noch die silbernen Löffel in der Kredenz.
Die Folge von all dem: Spontan wird sich in jeder Gesellschaft mit der Zeit eine Aristokratie ausbilden, die dann im Laufe der Zeit die gesellschaftliche Entwicklung lähmt und erstickt.
Dass wir frei und gleich sein sollen, ist demnach zu aller erst ein Versprechen, an dessen Erfüllung wir alle arbeiten müssen.
Die Automatismen, die z.B. Libet aufgedeckt hat, stehen diesem Ziel nicht im Weg. Im Gegenteil: Nur wenn die Hände selber wissen, wie sie den Ball zu fangen haben, kann der Verstand z.B. des Handballspielers über Spielzüge und Spielstrategie nachdenken.
Oder beim Klaviervirtuosen: Gerade weil er die Musik (Noten, Tempi etc.) in seinen Fingern hat, kann ihn sein Verstand dazu befähigen dieses Stück auf eine ganz eigene Art zu interpretieren.

Meine Spezialität sind saudumme Fehler

Während ich dies schreibe, sitze ich gerade im Nachtzug auf der Heimfahrt von einer Dienstreise. Für eine solche Reise benötige ich eine Fahrkarte. Da ich meine Fahrkarten im Internet online buche, muss ich sie irgendwann ausdrucken.
Das hatte ich vor Dienstreiseantritt vergessen.
Also musste ich mir meine Fahrkarte vor Ort von einem Kollegen ausdrucken lassen (das Konfigurieren von Druckern ist eine Wissenschaft für sich und deswegen ist dies der einfachste Weg). Dazu erstellte ich eine PDF-Datei und speicherte sie für meinen Kollegen auf einem USB-Stick. Zu meinem großen Glück, las er was er druckte und bemerkte, dass ich im Begriff war mir die Fahrkarte für die Hinfahrt statt der Rückfahrt auszudrucken. Ich hatte übrigens die erstellte PDF-Datei ebenfalls gelesen und dabei festgestellt, dass die Abfahrtszeit auf die Minute genau die gleiche war, wie bei der Hinfahrt, aber nicht bemerkt, dass das daran lag, dass ich gerade die Hinfahrt ausdrucken wollte.
Ich reise gerne mit dem Nachtzug. Üblicherweise startet der am Vortag. Ich muss immer höllisch aufpassen, dass ich nicht für den falschen Tag reserviere.
Die Beispiele mögen Ihnen vergleichsweise harmlos vorkommen. Beachten Sie bitte, dass das auch daran liegt, das ich wenig Lust habe sie mit meinen weniger harmlosen „Unfällen“ zu unterhalten.
Fakt ist, dass ich immer damit rechnen muss, dass ich einen Fehler mache, den außer mir und meinen Mit-Myschkins normaler weise niemand macht und Fakt ist auch, dass meine Fehlerrate eher steigt, wenn ich mir besondere Mühe gebe und alles richtig machen will.
Übrigens: Bei der falschen Fahrkarte befand ich mich in keiner Weise unter besonderem Stress oder Anspannung. Dann passieren nämlich eher dickere Klöpse.

Wie wird der Wein ?

Es ergäbe aber ein völlig falsches Bild, wenn ich Ihnen ständig nur von Fehlleistungen erzählen würde. Anderssein bedeutet nicht zwangsläufig schlechter sein.
Ich muss wohl 9 Jahre gewesen sein und hatte Herbstferien. Wir waren den ganzen Tag "lesen" gewesen. So nennt man das in Bad Dürkheim, wenn man in den Wingert geht um die Trauben abzuschneiden.Mein Vater war Mitglied in der Winzergenossenschaft "Vier Jahreszeiten". Die liegt im "Finkepaad" wie das ganze Viertel in Bad Dürkheim heißt. Und wir wohnten in Seebach, unsere Lieser (die Traubenleserinnen) auch.
Seebach liegt aber oben auf dem Berg. So koppelte mein Vater am Amtsplatz, auf halbem Weg, den Planwagen ("des Plugskärchel") in dem wir alle saßen ab und fuhr die Frauen nach Hause. Die Rolle (der Anhänger) mit Trauben blieb am Amtsplatz stehen. Und da ich Ferien hatte, durfte ich sie bewachen und anschließend mit in die Genossenschaft zum Abliefern.
Als ich so da stand im feuchtkalten Nebel, kam ein Ehepaar auf mich zu.
Der Mann wollte von mir wissen wie der Wein wird. Wahrscheinlich wäre er mit der Antwort "gut" vollkommen zufrieden gewesen.
Diese Frage wird übrigens jedes Jahr meistens schon im Mai wenn die allerersten Blättchen am Rebstock treiben den staatlichen Weinbauämtern gestellt und die geben
zu meiner regelmäßigen Verwunderung darauf sogar eine Antwort.
Die Wissenschaftler der Weinbauämter können diese Frage niemals ernst nehmen, sonst müssten sie immer sagen: Wir können es noch nicht wissen ! Eigentlich wissen wir es doch so wie so erst, wenn der Wein im Glas funkelt. Aber sie antworten, ich nicht.

Ich nahm die Frage ernst.

Und so erklärte ich ihm, dass das erst die Trauben sind. Die Trauben kommen dann ins Kelterhaus und werden gemahlen, danach gewogen, aber nicht nur nach Gewicht, sondern auch nach Öchsle und dann weiß man erst, wie gut der Wein werden kann, aber damit es überhaupt Wein wird muss er erst vergären und wenn man da nicht aufpasst vergärt er nicht zu Wein, sondern zu Essig und erst wenn das alles fertig ist, also in einem Dreivierteljahr, weiß man ob der Wein gut wird. Und selbst dann bleibt er nicht, wie er ist.

"Du Rotzlöffel, du", der Mann wollte mir eine runterhauen. Allerdings war er einen Kopf kleiner als ich und seine Frau zog ihn am Ärmel.
Und mir fällt es heute noch schwer ein zu sehen, dass die meisten Leute auf Fragen wie "Wie gehts ?", "Was macht die Gesundheit?" meistens gar keine Antwort wollen, jedenfalls keine die irgendetwas erklärt.

Ich hätte mir damals vermutlich lieber die Zunge abgebissen, als ihm die Antwort zu geben, die er hören wollte. So was hätte mir körperlich widerstrebt.

Es ist ja überhaupt so eine Sache mit dem Geschmack und mit „gut“ oder „schlecht“. Was ist das überhaupt ? Und kann man Geschmack überhaupt in mehr oder weniger messen ? Ist Geschmack nicht immer nur anders ? Und kann ein „schlechter“ Jahrgang nicht hochinteressante Weine hervorbringen, zumal wenn Geschick im Wingert auf Geschick im Keller trifft.
Was unterscheidet überhaupt gute von sehr guten Weinen ?
Ist es nicht eher so, dass man zwar leicht einen schlechten Wein erkennt, dass aber bei den guten nicht um ein mehr oder weniger als um ein Anderssein geht und dass dieses Anderssein auch seine jeweils eigene Reize hat ?

Über die Flüssigkeit unserer Begriffe

„Es ist aber weit schwerer, die festen Gedanken in Flüssigkeit zu bringen, als das sinnliche Dasein.“[Hegel: Phänomenologie des Geistes. Philosophie von Platon bis Nietzsche, S. 38822-38823 (vgl. Hegel-W Bd. 3, S. 37-38) http://www.digitale-bibliothek.de/band2.htm ]
Das sinnliche Dasein ist flüssig, eben weil ihm Werden und Vergehen als unumstößliche Tatsache fest eingeschrieben sind. Selbst Steine sind nicht ewig sich selbst gleich, sondern wandeln sich nur auf einer anderen Zeitskala.
Dagegen pflegen unsere Gedanken zu festen Formeln zu gerinnen. Formeln, die mit ihrem scheinbaren Ewigkeitswert, ihrer ewigen Sichselbstgleicheit aber Geboren werden und Sterben gleichermaßen verleugnen.
Aber nicht bei allen Menschen und bei allen gleichermaßen findet dieser Gerinnungsprozess so statt. Ich hatte mit 9 Jahren definitiv noch kein Wort von Hegel gelesen, aber die eigentlich flüssige Natur von Begriffen wie „guter Geschmack“ oder „guter Wein“ war mir ohne weiteres klar.
Oder anders ausgedrückt: Es war mir eher nicht klar, dass andere Menschen das Prozesshafte alles Lebens nicht so im Kopf haben.
Ich habe eine instinktive Scheu vor zu starren Festlegungen. D.h. nicht, dass ich nicht zu Dogmatismus und Rechthaberei fähig wäre, aber es muss dann ein gewissermaßen „dialektischer“ Dogmatismus sein.
Wir denken logisch, weil wir so die Welt für uns ordnen und nicht weil die Welt tatsächlich so ordentlich ist.
Logik ist ein Werkzeug unseres Denkens. Aber ein Werkzeug, dass im Prinzip von uns verlangt, dass wir den eigentlich flüssigen Charakter unserer Umwelt ignorieren und Veränderungen soweit und solange ignorieren, solange sie sich ignorieren lassen.
Damit lassen sich Ordnungen definieren und an diesen Ordnungen lassen sich Programme festmachen, Automatismen die uns das tägliche Leben erleichtern.
Wir können handeln, ohne Denken zu müssen.
Fehlt einem das, so muss man sich jeden Tag alles wieder neu erarbeiten. Man hat zwar den Vorteil des immer frischen Blicks, aber dafür muss man einen hohen Preis zahlen. Wenn ich mir allerdings immer alles neu erarbeiten müsste, müsste ich ja jeden Tag neu gehen lernen. Das ist zum Glück nicht der Fall.
D.h. ein gewisses Maß an Ordnung akzeptieren auch die Myschkins.
Aber insgesamt bin ich nicht so sehr auf der Seite der Ordnung. Wobei man nicht glauben soll, diese inhärente Unordentlichkeit sei das Ergebnis einer bewussten Entscheidung. Wir sind so.
Zu den ordnenden und manchmal allzu ordentlichen Begriffen gehören z.B. Gut und Böse oder Liebe und Hass. Wir vergessen gerne, dass sie eine Vielzahl sehr unterschiedlicher, auch qualitativ unterschiedlicher Dinge bezeichnen können und dass unsere Angewohnheit sie bloß im Rahmen eines „mehr“ oder „weniger“ zu ordnen nur eine schlechte Angewohnheit ist.
Zum Anderssein der Myschkins gehört meines Erachtens auch ein gewisses „Fremdeln“ gegenüber üblichen und allgemein gebräuchlichen Begriffen.
Myschkin wird z.B. mehrfach gefragt, ob er Natasja respektive Aglaja liebe. Er bestreitet das in der Regel und beschreibt dann seine starken Gefühle diesen beiden Frauen gegenüber. Noch während man diese Beschreibungen liest, weiß man, er liebt sie beide. Aber es heißt bei ihm nicht Liebe.
Wenn wir ihn fragen könnten, warum, würde er uns wahrscheinlich wortreich und ihn starken Bildern erklären können, dass seine tiefen Gefühle für beide Frauen weit davon entfernt sind identisch zu sein. Er empfindet für beide nicht dasselbe und deswegen hütet er sich sehr davor es „Liebe“ zu nennen, denn dann müsste es ja dasselbe sein.
Zumal nichts so sehr Klischee, kleine Münze ist, wie der Satz: „Ich liebe Dich !“ Oft gebraucht und abgegriffen wie ein Cent-Stück.
Und weil seine Gefühle für beide unterschiedlich sind, deswegen hat er auf der Parkbank neben Aglaja sitzend auch nicht das geringste Gespür für die Gefahr in die er sich und seine Liebe zu Aglaja bringt, wenn er Aglaja seine tiefen Gefühle für Natasja anvertraut.

Allerdings reicht das alles überhaupt nicht aus um zu erklären, warum er regelrecht panisch reagiert, wenn von Liebe, von seiner Liebe zu diesen beiden Frauen die Rede
ist.
Sein Unbehagen gegenüber allzu klaren Begriffen ist das Eine, sein Unbehagen gegenüber allzu großer körperlicher Nähe das Andere.
Auf der Parkbank mit Aglaja kommt es nur beinahe zu einem Körperkontakt, aber nur weil Aglaja das Bedürfnis verspürt:
„»Nun gut, gut«, unterbrach sie ihn, aber in ganz verändertem Ton, aus welchem man tiefe Reue und Angst heraushörte; sie bog sich sogar zu ihm hin, wobei sie es aber immer noch vermied, ihn gerade anzusehen, und war nahe daran, ihn an der Schulter zu berühren, um ihre Bitte, daß er ihr nicht böse sein möge, noch eindringlicher zu machen. »Gut«, fügte sie, sich furchtbar schämend, hinzu, »ich fühle, daß ich mich eines schrecklich dummen Ausdrucks bedient habe. Ich habe das gesagt ... um Sie zu prüfen.“
[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 20494 (vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 5, S. 83) http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]

Die Frage, was aus beiden geworden wäre, wenn sie diese Scheu überwunden hätte, ist schwer zu beantworten. Wäre sein Panzer aufgebrochen oder wäre er scheu zurück gewichen ? Schwer zu sagen.
Es steckt in ihm eine große Unsicherheit in Bezug auf seine eigene Körperlichkeit. Sein Körper ist ihm mehr Last als Freude.
Es wäre allerdings ein Fehler diese Unsicherheit auf das Anfallserlebnis zurück zu führen, zumal man die Frage stellen muss, ob es ein Anfallserlebnis überhaupt gibt. Für mich, der ich nie eine Aura hatte, gibt es das definitiv nicht. Schließlich bin ich nicht bei Bewusstsein. Ich kann zwar nicht ausschließen, das auch das was unbewusst mit mir passiert, Spuren in mir hinterlässt. Aber meine Unsicherheit ist älter als meine Anfälle (wenn man die Fieberanfälle ausklammert). Wir stoßen hier wieder auf das Problem, dass die Idee von der epileptischen Wesensveränderung falsch ist, weil sie Ursache und Wirkung vertauscht. Die Unsicherheit in Bezug auf den eigenen Körper ist eher eine Grundkonstante, die schon da war, als noch keine Anfälle waren und die bleibt, wenn es gelingt keine Anfälle mehr zu haben.
Diese Unsicherheit zeigt sich z.B. beim Fangen eines Balls, sie erfasst aber auch jede Art von Körperkontakt. Drücken kann leicht in Erdrücken übergehen.

„Warum sagen sie das zu diesen Menschen ?“

Wenn wir im folgenden weniger über mein Verhalten oder Fehlverhalten als über das Myschkins reden, so muß man doch immer im Hinterkopf haben, dass wir Myschkins diesem einen Dostojewskijschen Myschkin ähnlicher sind als es uns lieb ist.
Eine Eigenschaft, die wir gemeinsam haben, an der man aber im Gegensatz zu einigen Fehlleistungen von denen ich oben erzählt habe, auch arbeiten kann, ist die Neigung uns klein machen zu wollen.
D.Janz, der ja als Arzt seine Papenheimer kennt wie kein zweiter, urteilt beispielsweise über den sinistren epileptischen Mörder Smerdjakoff in Dostojewskijs „Die Brüder Karamansoff“ folgendermaßen:

„ Smerdjakoff, der allem Anschein nach ein Stiefbruder der Brüder Karamasoff ist, den der Vater als Koch und Diener unterhält, bekommt seit seinem 12. Lebensjahr „epileptische" - nach der Beschreibung große - Anfälle, die öfter mal in einen Status epilepticus münden. Er nennt ihn ..einen langen Epileptischen", womit Dostojewskij wahrscheinlich den Lehrbuchbegriff der ..Crise prolongee" übersetzt. Von der Aura erfahren wir wenig („Krampf in der Kehle"), mehr aber von einer hereditär-degenerativen Ätiologie: Der vermutliche Vater war ein Lüstling und Trinker, die Mutter eine Idiotin.
In diesen Gestalten entfaltet Dostojewskij allein schon von seiten der Anfälle eine breite Palette von Merkmalen, Anfallstypen und Modi ihrer Wiederholung, dass man stutzig werden und sich fragen kann, ob das alles seiner Selbsterfahrung entstammt. Man weiß, daß er selbst große Anfälle hatte, von den ersten fünf, die ich beschrieben fand, waren vier aus dem Wachen, zwei davon spat in der Nacht nach einer Geselligkeit und einer aus dem Schlaf. 20 Jahre spater notierte seine zweite Frau, daß er seine Anfalle ..meist während des Schlafens" hatte (Voskuil 1983). Mit 34 Jahren, also neun Jahre nach Beginn seiner Epilepsie, schrieb er an seinen Bruder: „Ich habe alle Arten von Anfällen."
Daß nicht alles auf Selbsterfahrung, sondern manches auch auf Lektüre entsprechender Literatur zurückgeht. scheint mir naheliegend an der Beschreibung des Verhaltens von Smerdjakoff, die sehr der damals geläufigen Lehrbuchmeinung über die sog. epileptische Wesensänderung ähnelt. Angeführt werden da Unlogik. Verworrenheit, eine grenzenlose Eigenliebe (S. 359), eine widerliche und eigentümliche Familiarität (S. 360). Pedanterie (S. 364) und dass er schüchtern und kriecherisch (S. 369) wirkte, dass insgesamt etwas Düsteres und Widerliches (S.359) von ihm ausging. Man fragt sich unwillkürlich, ob Dostojewskij etwa die Beschreibung gekannt hat, die Samt (1876) zwei Jahre vorher von den „armen Epileptischen" gegeben hat, die „den lieben Gott auf der Zunge, aber den Ausbund von Canaillerie im ganzen Leibe tragen." Mit „Kanaille" beschimpft ihn auch der alte Karamasoff. Dieser Dimension von Epilepsie, die in Smerdjakoff, dem „Stinkenden", ,,die epileptogene Emiedrigung des Daseins" darstellt, widmet Tellenbach (1992) eine sehr subtile Untersuchung. Er schließt daraus, daß die Bestimmung der Wesensänderung, der „von jeher das Hauptinteresse der psychiatrischen Klinik galt, in einer spezifischen Inklination zur Welt des Unten (besteht)". Smerdjakoff dürfte als der Prototyp dieses Epileptikers angesehen werden. Er „sei der Tiefe verhaftet. Die Höhe gelingt ihm nur als Pseudohöhe."
Seine Krise bestehe „vor allem in der Gefahr, die ihm entsteht, wenn seine angemaßte Höhe bestritten wird, d. h. wenn er unter eine klägliche Mittelmäßigkeit herabsinkt". Dann zeige sich der Sadismus dieses Typus „in seiner unverstellten Aggressivität - jener Sadismus. der den Epileptiker zu den fur die Umwelt am meisten bedrohlichen Psychotiker macht".

Die in Smerdjakoff dargestellte „Nachtseite" (Bräutigam 1951-52) ist so ungeheuerlich, dass man sich in unwillkürlicher Abwehr fragt, wieviel davon Reflex irrenärztlicher Urteile als Ursache oder Folge von zeitgenössischen Klischees ist. Bekanntermaßen sind Epilepsiekranke sehr geneigt, sich mit dem Urteil der Umwelt über sie selbst zu identifizieren. Aber Dostojewskij hat auch dem Fürsten Myschkin, in dem er nach Ansicht aller Rezensenten seine eigene Natur und Wesen am Unmittelbarsten wiedergegeben hat und in dem man im Kontrast zu Smerdjakoff die Struktur einer epileptischen „Tagseite" erblicken mag, Züge mitgegeben, die nach der ganz vergessenen schönen Studie von Leonie Stollreiter (1961/62) bei aller Kindlichkeit, Naivität und Zutraulichkeit eine Affinität zu Misstrauen, Boshaftigkeit, Verleumdung, Taktlosigkeit und eine mühsam verdrängte Aggressivität belegen.“
Belegstelle angeben !!!
Soweit Janz.
Ich will nicht leugnen, dass solche Urteile auch bei mir eine nur mühsam zu verdrängende Aggressivität erzeugen.
Die Tellenbachsche „Tiefe“ die so schön mit dem „Hinfallen“ der „Fallsucht“ korrespondiert und nette Metaphern als Erkenntnisersatz offeriert, war ja schon Gegenstand unserer Betrachtungen.

Generell ist nach diesen „netten“ Urteilen der Herren Doctores, die ja auch die allgemeinen Urteile des breiten Publikums wiedergeben, doch eher die Frage berechtigt, wieso und auf welche Weise Epileptiker überhaupt Selbstbewusstsein entwickeln können, wenn sie im allgemeinen so be- und verurteilt werden.
Das fehlende Wissen um den eigenen Wert erzeugt dann genau wieder jene „kriecherischen“ Verhaltensweisen, über die die Herren Professoren dann die Nase rümpfen dürfen.
Auf jeden Fall ist es eine Konstante im Wesen eines jeden Myschkin, dass er Schuld und Versagen immer zuerst bei sich erwartet.
Und Janz meint, diese Eigenschaft ist bei Dostoevskij so ausgeprägt, dass er sogar das klinische Zerrbild eines epileptischen Mörders aus schlechten medizinischen Lehrbüchern abschreibt.
Gleichzeitig weiß Dostojevskij ja von sich, das dieses Bild nicht zutrifft und so ergibt sich eine eigenartige Mischung aus Selbstbezichtigungen und verletztem Stolz.
Wie man sich das vorstellen muss, kann man sehr schön folgender Szene aus dem 4.Band des „Idioten“ entnehmen:
„ »Aber was hat er denn nur? Fangen etwa die Anfälle bei ihm so an?« wandte sich Lisaweta Prokofjewna erschrocken an Kolja. »Beachten Sie das nicht weiter, Lisaweta Prokofjewna; ich bekomme keinen Anfall; ich werde sogleich weggehen. Ich weiß, daß ich von der Natur stiefmütterlich behandelt bin. Ich bin vierundzwanzig Jahre lang krank gewesen, bis zu meinem vierundzwanzigsten Lebensjahr. Fassen Sie auch jetzt meine Worte und Handlungen als die eines Kranken auf. Ich werde sogleich weggehen, sogleich; seien Sie dessen versichert. Ich erröte über mein Wesen nicht; denn es wäre ja wunderlich, wenn ich darüber erröten wollte, nicht wahr? Aber für die Gesellschaft tauge ich nicht ... Ich sage das nicht aus gekränktem Ehrgefühl ... Ich habe in diesen drei
Tagen viel nachgedacht und bin zu der Einsicht gekommen, daß ich Ihnen bei erster Gelegenheit meinen Entschluß offen und ehrlich mitteilen muß. Es gibt Ideen, hohe Ideen, von denen ich nicht zu reden anfangen darf, weil ich unfehlbar alle Hörer zum Lachen bringen würde; eben dies hat mir Fürst Schtsch. soeben ins Gedächtnis zurückgerufen ... Ich besitze kein schickliches Benehmen, und meine Gefühle sind maßlos; meine Worte entsprechen meinen Gedanken nicht, sondern kommen anders heraus; darin aber liegt eine Herabwürdigung dieser Gedanken. Und daher habe ich kein Recht ... Außerdem bin ich mißtrauisch; ich ... ich bin überzeugt, daß mich in diesem Haus niemand kränken will, und daß ich hier mehr geliebt werde, als ich verdiene; aber ich weiß, weiß zuverlässig, daß nach einer vierundzwanzigjährigen Krankheit notwendigerweise etwas zurückbleiben mußte, so daß die Menschen manchmal nicht umhin können, über mich zu lachen ... nicht wahr?« Er blickte sich ringsum und schien eine Erwiderung, eine Antwort auf seine Frage zu erwarten. Alle standen stumm da, peinlich erstaunt über dieses unerwartete, krankhafte und, wie es schien, jeder Ursache entbehrende Benehmen. Aber dieses Benehmen gab zu einer seltsamen Episode Anlaß. »Warum sagen Sie das hier?« rief Aglaja plötzlich. »Warum sagen Sie das zu diesen Menschen? Zu diesen Menschen! Zu diesen Menschen!« Sie schien im höchsten Grad entrüstet zu sein; ihre Augen sprühten Funken. Der Fürst stand stumm und sprachlos vor ihr und wurde auf einmal ganz blaß. »Hier ist niemand, der solcher Worte wert wäre!« fuhr Aglaja heftig fort. »Alle, die hier anwesend sind, sind nicht so viel wert wie Ihr kleiner Finger und reichen an Ihren Verstand und an Ihr Herz nicht heran; Sie sind ehrlicher als sie alle, edler als sie alle, klüger als sie alle ...! Manche sind hier nicht wert, sich zu bücken und das Taschentuch aufzuheben, das Sie soeben haben hinfallen lassen ... Warum setzen Sie sich selbst herab und stellen sich unter die andern alle? Warum karikieren Sie all Ihre guten Eigenschaften? Warum besitzen Sie so gar keinen Stolz?« »O Gott, ist es zu glauben?« rief Lisaweta Prokofjewna und schlug die Hände zusammen. »Der arme Ritter! Hurra!« schrie Kolja begeistert.“
[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 20284 -20286 (vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 4, S. 256 -257) http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]

Aglajas Reaktion ist mehr als verständlich, denn gerade das männliche Personal in diesem Roman ist von erschreckender Nichtsnutzigkeit: Wichtigtuer, Schwätzer, Schnorrer, Zyniker, Vergewaltiger, Machtmenschen mit der Intelligenz einer Kartoffel und dem Gemüt eines Fleischerhundes. Myschkin, der „Idiot“ ist unter all diesen wirklichen Idioten tatsächlich eine Lichtgestalt.
Einzig die Frauen stechen ab durch Klugheit und Menschlichkeit. Vermutlich kommt das daher, dass ihre gesellschaftliche Rolle mit der von Reitpferden und Zierrosen auf der selben Stufe steht: Sie unterstreichen den Rang ihres Gatten resp. Vaters, vor allem wenn sie französisch sprechen, schön und gebildet sind,
denn all das kostet Geld.

Aber diese Frauen haben alle nichts zu sagen, sie sind nur hübsches Ornament.
Dadurch sind sie aber viel weniger den Zwängen und Konventionen einer Gesellschaft unterworfen, in der offenbar Bildung, Klugheit und Mitmenschlichkeit eher schädlich sind für den Erfolg. Und so können sie sich als Luxusgeschöpfe den Luxus der Menschlichkeit und der Herzensbildung leisten.
Wenn wir nun Aglaja sehr gut verstehen, haben wir um so größere Probleme den Fürst (und mit ihm all die anderen Myschkins) zu begreifen von dem wir problemlos noch viele Seiten mit ähnlichen und noch abstoßenderen Selbstbezichtigungen beibringen könnten.

Wenn man das verstehen will, führt man sich am Besten vor Augen, was es heißt, was es auch für das gesellschaftliche Ansehen heißt, wenn man von Zeit zu Zeit erst einen tierischen Schrei ausstößt, um sich dann zuckend und mit blutigem Schaum vorm Maul auf dem Boden zu wälzen.
Kein Epileptiker sieht sich jemals so, aber es kommt auch gar nicht darauf an, wie er sich sieht oder nicht sieht:
Er wird so gesehen, von allen anderen.
Jede Nullität steht über ihm oder ihr und ergeht sich dann bestenfalls in Tellenbachscher Dialektik von Höhe und Tiefe oder rümpft einfach nur die Nase.
Das ist aber nur die Spitze des Eisbergs.
Man ist und bleibt, auch wenn man die Anfälle los wird, sein Leben lang der Spezialist für saudumme Fehler. Und manchmal entschuldigt man sich deswegen schon im voraus für die Fehler, die einem später mit Sicherheit noch unterlaufen werden. Die andere Strategie heisst: Alles leugnen. Beides bereitet Probleme. Insgesamt wird man ohne einen gewissen Narren- oder Idiotenbonus nicht durchs Leben kommen.
Ein nicht so naher Bekannter arbeitet beispielsweise als Briefträger. Er litt lange unter Anfällen und dürfte, nach allem, was ich von ihm weiss, ein ähliches Anfallsleiden
haben wie ich. Wahrscheinlich jemand aus dem Kollegen- oder Kolleginnenkreis hat sich einen Scherz mit ihm erlaubt und ein ganzes Bündel auszutragender Briefe aus seiner Briefträgertasche entwendet. Vermutlich haben da ein paar gewettet, dass sie das schaffen, ohne dass er es merkt.
Er hat es nicht gemerkt. Schlimmer noch: Er hat auch nicht gemerkt, dass er für eine komplette Straße keine Post hatte. Das geschah an einem Freitag, Samstags hatte er frei und Montags tauchte das fehlende Bündel anonym bei einer Briefeingangsstelle auf. Die erste Frage seiner Vorgesetzten war natürlich: „Warum haben sie uns nichts gesagt ?“. Normalerweise glaubt einem in so einem Fall niemand, was tatsächlich aber so ist: Er hat es nicht gemerkt !
Ich erinnere mich noch sehr gut an die Ermahnungen meiner Mutter:
„Kind, Du bist doch ein ganz gescheiter Bub, warum gibst Du Dir nicht mehr Mühe ? Mach's doch mir zuliebe.“ Das Problem war nur, je mehr Mühe ich mir ihr zuliebe gab, desto mehr Fehler machte ich. Wenn ich mir weniger Mühe gab,
war's nicht so schlimm.
Sie war die erste und nicht die letzte Autoritätsperson, die mich mit der Forderung, mir Mühe zu geben, konfrontierte und nicht die letzte Frau, die meinte ich sollte mich einfach ihretwegen anstrengen.
Ich täte es ja gerne, aber es geht halt nicht.

Myschkin macht Fehler, doch Rußland verzeiht keine Fehler

Das ist das, was bleibt über alle gesellschaftlichen Veränderungen hinweg.
Nun müssen wir aber auch das gesellschaftliche Umfeld beachten und welche Logik die Petersburger Gesellschaft der 60iger Jahre des 19 Jahrhunderts hatte.
Ohne uns in Details zu verlieren, wissen wir, dass sie ziemlich bürokratisch-zentralistisch war und das Rußland dies heute noch ist.
Bürokratie funktioniert aber immer nach dem gleichen Muster. Die Regeln müssen strikt befolgt werden, eigenständiges Denken ist eher schädlich („Das Denken überläßt man besser den Pferden, die haben die größeren Köpfe“ wie wir in der Schule lernten) und wer Fehler zu gibt, hat verloren und wird gegebenenfalls gehängt, denn einer muss ja schuld sein.
Man muss kein scharfsinniger Analytiker sein um zu begreifen, dass Myschkin sich für diese Welt nicht eignet.
Das strikte Befolgen aller Regeln wird im schon deswegen nicht gelingen, weil er es gar nicht kann. Jeder Fehler, denn er macht, vorzugsweise aber seine dümmsten, werden ihm immer als bewusster Regelverstoß ausgelegt. So wird er zur „epileptischen Kanaille“.
So wenig er alle Regeln immer beachten kann, so wenig kann er aufhören eigenständig zu denken, denn gerade das kann er ja wieder sehr gut.
Und er weiß natürlich schon von Kindesbeinen an, dass er Fehler macht. Manchmal scheint es regelrecht so zu sein, dass der Preis, den er dafür zahlen muss, sich in irgendein Problem ganz tief versenken zu können, die gleichzeitige Unfähigkeit ist, einfache Fehler zu vermeiden. Und da er aus diesem Grund dem Wunsch seiner Autoritätspersonen „sich Mühe zu geben“ nie gerecht werden kann, plagt ihn ein überdimensioniertes schlechtes Gewissen, das in dieser Ignorantenwelt von Rechthabern und Besserwissern das allergrößte Handikap ist, mit dem ihn die Natur ausstatten konnte.

Nun gehört er einer außerordentlich privilegierten Schicht an: Er ist Fürst und gehört damit zu jener „Nomenklatura“ die über jedem Recht und Gesetz steht.
Diese Privilegierung hat zwar die Kehrseite, dass von Zeit zu Zeit immer mal wieder einer aus dieser Schicht erhängt und in moderneren Zeiten (der technische Fortschritt !) erschossen wird, nachdem vorher alle Fehler und Sünden auf sein Haupt geladen wurden. Das dient dann der Beruhigung des Volkes, das je besser dieser Mechanismus funktioniert, desto sicherer rechtlos bleibt.
Davon abgesehen, wird ein Fürst nie wegen eines Verbrechens verurteilt werden. Aus diesem Grund tut der Kaufmannssohn Rogoschin gut daran, vor und nachdem er Natasja ermordet hat alle Verdachtsmomente auf Myschkin zu lenken, der als „Unantastbarer“ mit keiner Mordanklage, schon gar nicht wegen einer „femme fatale“, rechnen muss.
Umso unverständlicher ist dann der Schluss, in dem Rogoschin alles zugibt. Das ist nicht die einzige Ungereimtheit mit dem Ende und insgesamt hat man eher den Eindruck, dass Dostoevskij an dieser Stelle einfach Schluss machen wollte und deswegen kurzen Prozess macht.

Aber auch und gerade in der Nomenklatura mag und schätzt man keine „Idioten“, die über die Etikette genauso stolpern, wie über ihre eigenen Füße und die dann noch liberalen Ideen anhängen, z.B. der, dass das Recht für alle gelten soll.

Mit Computern machen alle Fehler

Angeblich verzeiht der Computer keine Fehler. Das Wort „verzeihen“ ist natürlich unangebracht, den eine Maschine hat keine Gefühle, aber in der Tat ist diese Maschine gegen jede Art von Fehlern gleichermaßen intolerant. Die Unterscheidung zwischen saudummen, dummen und „Fehlern, die wir doch alle mal machen“ fällt praktisch weg. Damit wird der Computer zum Freund der Myschkins, denn alle stehen erst mal gleichermaßen dumm davor.
Unsere Fehler stechen nicht mehr so hervor und Leute, die uns sonst gerne als Trottel auslachen, müssen froh sein, wenn wir ihnen ihre Fehler erklären können.
Ja es gab und gibt sogar die Hoffnung auf eine ganz andere Kultur, auch und gerade eine ganz andere Fehlerkultur, aber auch Unternehmenskultur.

Diese Hoffnung war auch eng verknüpft mit der Hoffnung auf Firmen mit Teamwork statt Hierarchien. Inzwischen hat aber z.B. SAP genauso viele Hierarchiestufen wie ein in der Nähe, auf der anderen Seite des Rheins gelegenes großes Chemieunternehmen (ca. 15).
Hier scheint sich die alte Weisheit, dass es auf die Eigentumsverhältnisse ankommt, wieder einmal zu bewahrheiten:
SAP ist heute eine AG und die Hierarchiestufen wuchsen und stiegen mit den Aktienkursen.
Tatsächlich besteht aber die Tätigkeit der Hierarchen hier wie dort und überall nicht im Lösen von Problemen sondern im Verschieben von Verantwortlichkeiten. „Wir sind nicht schuld, die andern waren es“. Wer da gut ist, ist auch ein guter Chef.
D.h. mit der Zahl der Stufen und der Wichtigtuer sinkt die Problemlösungskompetenz einer jeden Organisation. Man kann sogar sagen, sie ist umgekehrt proportional zur Zahl der Hierarchiestufen. Gleichzeitig wächst auch wieder der Wunsch zwischen
Fehlern verschiedener Dämlichkeitsgrade zu unterscheiden.
Im Prinzip ist eine solche Entwicklung kontraproduktiv, nicht nur für die Myschkins, sondern auch für die Organisationen selbst.
Sie verträgt sich auch nicht mit der neuen Technik und ist von daher auch in dem Sinn kontraproduktiv, dass sie dazu beiträgt, dass das Potential das Computer bieten, selbst in Firmen, die vom Computer leben, nicht wirklich erschlossen werden kann.

Im Computer steckt für einen Myschkin wie mich eine Art doppelte Befreiung: Wir können den Bürokratismus an die Maschine delegieren. Die quält uns dann zwar mit der Forderung nach korrekter Eingabe, aber sie prüft auch gleich auf Korrektheit und Plausibilität. Und danach erledigt sie stur und zuverlässig ihre Arbeit.
Als Lehrling durfte ich noch Karteikarten von Hand sortieren. Obwohl mir das Alphabet durchaus bekannt ist, sortierte ich regelmäßig falsch ein.
Irgendetwas in mir rebellierte gegen den Stumpfsinn dieser Tätigkeit und spielte mir üble Streiche. Von solcher Tätigkeit erlöst zu sein, ist die erste große Befreiung.
Die zweite große Befreiung: Ich stehe gewissermaßen neben der Maschine, ich muss prüfen, ob sie in ihrer Sturheit alles richtig macht. Dieser Positionswechsel macht uns tendenziell zu Herrn statt zu Knechten.
Allerdings kann das Potential dieser Technik nicht wirklich erschlossen werden,
wenn es bei den traditionellen Eigentumsformen bleibt.
Wir sollten dem Kapitalismus stiften gehen.
Wikipedia oder die meisten Open-Source-Projekte machen uns vor wie es geht und wenn die deutsche Linke endlich ihre 60iger/70iger-Jahre Nostalgie überwindet, kann ein neuer Aufbruch zu anderen Ufern gelingen.

Hat Myschkin keinen Humor ?

Tellenbach meint:
„Wie sehr Myschkins Bezug zur Wirklichkeit bestimmt ist von einer vollen Unmittelbarkeit, läßt sich vielleicht nirgends so leicht zeigen wie an seinem Verhältnis zum Witz - gleich zu Anfang, wo er im Gesprach mit Rogoshin und Lebedew sagt, die Generalin Jepantschin sei „die Letzte ihres ganzen Ge-schlechts“. Das Gelächter über den Doppelsinn dieser Äußerung versteht Myschkin nicht. Er war „offenbar ganz verwundert darüber, daß er einen, wenn auch schwachen, Witz gemacht haben sollte“. Nun macht es ja den Witz aus, daß er zwar auf die Wirklichkeit reflektiert, aber so, daß diese eine momentane Veränderung erfährt. Die Reflexion ist hier eine sich der Realitat bemächtigende und sie verändernde Macht, die auch Schädliches entkräften oder doch abschwächen kann. Diese Elastizitat bleibt Myschkin versagt. Das erschwert auch die Gegenwehr der Mächte, die aus der Tiefe seiner Natur andrängen; denn Myschkin ist auch ohne Reflexion auf sich selbst. Er ist, was die Bergpredigt meint, wenn sie von den „Armen im Geiste“ handelt und diese selig preist: er ist Kindlichkeit, die sich ihres Reichtums nicht bewusst ist.“
( Tellenbach, Schwermut, Wahn und Fallsucht in der abendländischen Dichtung. Hürtgenwald: Guido Pressler 1993, Tellenbach, Schwermut, Wahn und Fallsucht in der abendländischen Dichtung. Hürtgenwald: Guido Pressler 1993, Dostojewskijs epileptischer Fürst Myschkin: Zur Phänomenologie der Verschränkung von Anfallsleiden und Wesensänderung, S. 212-213)

Tellenbach ist offensichtlich ein Erwachsener, der sich seiner Kindischkeit nicht bewußt ist. Ab einem bestimmten Alter beginnen Kinder zu kichern, wenn man Worte aus dem Sexual- und/oder Analbereich verwendet.
Sie geniessen den Tabubruch.
Und genauso kichern Lebedew, Rogoschin und Tellenbach.

Nun gucken wir uns mal die Stelle, von der Tellenbach spricht genauer an:
„ »Wie könnte es auch anders sein!« versetzte der Fürst sogleich. »Fürsten Myschkin gibt es jetzt außer mir gar nicht mehr; ich glaube, ich bin der letzte. Und was meinen Vater und meinen Großvater anlangt, so besaßen die nur ein einziges Gut, auf dem sie zurückgezogen lebten. Mein Vater war übrigens Leutnant bei der Linie, vorher Fähnrich. Und nun weiß ich nicht, in welcher Weise die Generalin Jepantschina zu den Myschkinschen Fürstentöchtern gehört; sie ist
ebenfalls die Letzte in ihrer Art ...« ( Kann heißen: »die Letzte ihres Geschlechtes« oder »die Geringste von ihrer Sorte«. (A.d.Ü.))“. [Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 19510
(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 3, S. 11) http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]

Dem Übersetzer scheint auch die Myschkinsche Humorlosigkeit eigen, denn er übersetzt so, dass der Witz oder besser gesagt das Witzchen verloren geht.
Und so geht es weiter:
„»Hahaha! Die Letzte in ihrer Art! Haha! Wie Sie das gedreht haben!« kicherte
der Beamte.
Auch der schwarzhaarige junge Mann lächelte. Der Blonde war etwas verlegen, daß es ihm gelungen war, ein allerdings ziemlich einfaches Wortspiel zu machen. »Seien Sie überzeugt, ich habe es ganz ohne Absicht gesagt«, erklärte er schließlich einigermaßen befangen.
»Sehr begreiflich, sehr begreiflich!« stimmte ihm der Beamte heiter bei.“
[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 19510-19511
(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 3, S. 12) http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]

Auf diese in jeder Beziehung dünne Stelle stützt Tellenbach seinen Befund über die Humorlosigkeit und die „Armut im Geiste“ Myschkins.
Dabei sind die „Normalen“ in diesem Fall der Sektierer Lebedew, der an anderer Stelle erläutert, warum mit der Eisenbahn der Ant-Christ ins heilige Rußland gekommen sei und der spätere Mörder und Psychopath Rogoschin.
Die „Abnormalität“ Myschkins hebt sich wohltuend von dieser Art „Normalität“ ab.
Dabei hat Myschkin, haben die Myschkins, tatsächlich ein Problem mit einer speziellen Art von „Humor“, nur Tellenbach begreift nichts.

„ Er stockte und sprach seine Gedanken nicht weiter aus. Trotz all seiner Aufregung war ihm das Gespräch sehr interessant. Einen besonderen Charakterzug bildete bei ihm die große Naivität, mit der er immer zuhörte, wenn ihn etwas interessierte, und die nicht mindere Naivität, mit der er antwortete, wenn dabei Fragen an ihn gerichtet wurden. Diese Naivität, dieses Vertrauen, das keinen Spott und keine scherzhafte Erwiderung von seiten des andern befürchtete, spiegelten sich in seinem Gesicht wider und kamen sogar in seiner Körperhaltung zum Ausdruck. Aber obgleich Jewgeni Pawlowitsch sich sonst immer nur mit einem besonderen Lächeln an ihn wendete, so blickte er ihn jetzt bei dieser Antwort doch sehr ernst an, als ob er eine solche Antwort von ihm in keiner Weise erwartet hätte.
»So ...! aber das ist doch seltsam«, sagte er. »War diese Antwort wirklich ernst gemeint, Fürst?«
»Hatten Sie denn nicht im Ernst gefragt?« erwiderte dieser erstaunt.

Alle lachten.
»Trauen Sie dem!« sagte Adelaida. »Jewgeni Pawlowitsch hat immer alle Leute zum besten! Wenn Sie wüßten, was für Dinge er manchmal mit dem größten Ernst erzählt!«
»Meiner Ansicht nach ist das Gespräch peinlich, und wir hätten es gar nicht anfangen sollen«, bemerkte Alexandra in scharfem Ton. »Wir wollten doch spazierengehen ...« „
[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 20270-20271
(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 4, S. 248-249) http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]


Es gibt eine gewisse Sorte von Witzbolden und Zynikern, deren „Humor“ Myschkin nicht begreift. Ja er begreift noch nicht mal, dass es sich angeblich um Humor handeln soll.
Jewgeni Pawlowitsch hält an obiger Stelle eine längere Rede gegen den russischen Liberalismus. Da er weiß, dass er sich in einem eher liberalen Umfeld befindet, meint er natürlich alles nur im „Scherz“. Myschkin geht ernsthaft auf
ihn ein, weil er nirgends irgend eine Spur von Humor erkennen kann. Die gibt es auch nicht, denn die Behauptung „ich scherze“ ist in Wirklichkeit eine Tarnung, ein Versteckspiel.
Auch ein Deutscher, der heutzutage, nach Auschwitz, antisemitische Witze erzählen möchte, wird natürlich so tun, als meine er, was er sagt nur im Scherz. Und jeder der im dafür dann die verdienten verbalen oder tatsächlichen Ohrfeigen gibt, wird sich dann vorwerfen lassen müssen, keinen Humor zu haben.
Damit erweist sich Myschkins fehlender Humor aber als Teil seiner allgemeinen Begriffsstutzigkeit gegen jede Form von Tricksen und Täuschen.
Im Prinzip muss man sich das vorstellen, wie einen Radio- oder Fernsehapparat, der hervorragend funktioniert, aber auf einem ganz bestimmten Frequenzband nichts empfängt. Sobald die Kommunikation über dieses Band läuft, ist er stumm und taub.

Über die "Naivität" Myschkins oder warum seine Ehrlichkeit ein Teil seiner Krankheit ist

Eines der hervorstechenden Merkmale Myschkins sind seine unbedingte Ehrlichkeit.
Wir hatten allerdings vorhin schon gesehen, dass am Anfang dieser Entwicklung auch eine Art „Urlüge“ steht, die daraus resultiert, dass man seine Fehler eben nicht durch Anstrengung überwindet, sondern nur verstärkt und das man deswegen so tut, als gäbe man sich Mühe, obwohl man weiß, dass Mühe oft kontraproduktiv ist.
Die Ehrlichkeit Myschkins wird gerne ethisch interpretiert. Wobei diese Interpretation etwas Heuchlerisches hat: Einerseits gilt er deswegen als moderner Jesus, andererseits gerade deswegen als naiv und damit ist gerade seine Ehrlichkeit ein Beweis seiner Idiotie.
Das ist insgesamt eine schräge Diskussion.
Wenn man davon ausgeht, dass Kinder mit der Disposition zu Aufwach- u.ä. Epilepsien schlechter sind im tricksen und täuschen als ihre Spielkameraden, dann ist es doch eine logische Reaktion dieser Kinder, wenn sie Ehrlichkeit vor ziehen.
Auf der anderen Seite ist die moralische Verurteilung der Fähigkeit zu tricksen und zu täuschen von nichts anderem geprägt als von Ahnungslosigkeit.
Alle sozialen Tiere, ob Raben, Stare, Affen oder Menschen entwickeln ihren sozialen Zusammenhalt durch ein ständiges Wechselspiel zwischen Kooperation und Nicht-Kooperation, Verlässlichkeit (z.B. in Gefahr) und der Fähigkeit zu täuschen und zu tricksen (um z.B. mehr Futter zu bekommen) stehen in keinem Widerspruch.
Im Gegenteil: Das ständige Trainieren des wechselseitigen Beschisses vermittelt Fertigkeiten, die in wirklicher Gefahr, z.B. beim Angriff eines Fressfeindes oder umgekehrt bei der Jagd, nur von Nutzen sein können.
Raben, die sich gegenseitig das Futter unter dem Schnabel weg stibitzen, werden sehr schnell auf Kooperation umschalten, wenn sie z.B. ein Raubvogel bedroht und sie werden dabei manchen beim Futter stibitzen geübten Trick erfolgreich einsetzen.
Wenn man soziales Verhalten mit dem Gefangenendilemma simuliert, dann erweist sich als erfolgreichste Strategie ein modifiziertes "Wie Du mir, so ich Dir !", d.h. bloße Ehrlichkeit ist nicht die richtige Antwort im "Spiel" des Lebens, ständiges Bescheissen genau so wenig. Der richtige Wechsel zwischen beidem ist insgesamt eine unbedingte Notwendigkeit.
Wobei der Begriff der "Ehrlichkeit" sowie so beim Gefangenendilemma eine mehr als schillernde Bedeutung erhält.
Strikte Ehrlichkeit kann aber die richtige und keineswegs naive Antwort sein, wenn man beim Tricksen eh verliert.
Wenn man dann noch zum Heiligen gekrönt wird, hat man doppelten Gewinn statt dem ansonsten fälligen sicheren Verlust.

Mangelnder Respekt

In jener Zeit, als die Hauptschulen noch Volksschulen hießen, Realschulen noch selten waren, vor allem auf dem Land und man sich gelegentlich sogar noch daran erinnerte, dass diese Realschulen ursprünglich eigentlich nicht die dritte Säule in einem schichtendifferenzierten Bildungssystem sein sollten, sondern eine der Welt zu gewandte Alternative zum weltfernen Gymnasium, in dieser Zeit also besuchte ich gemeinsam mit 52 anderen Jungen die 7. „Knabenklasse“ der Valentin-Ostertag-Schule, einer Volksschule, in Bad Dürkheim. Es gab daneben noch eine ungefähr gleich große Mädchen- und eine etwas kleinere gemischte Klasse. Wir waren der Geburtenberg nach dem Krieg.

Wir lebten in einer Zeit großer persönlicher Brüche und Umbrüche, die man an unserem gelegentlichen Piepsen in der Stimme gut erkennen konnte und die kommenden politischen und gesellschaftlichen Gewitter wetterleuchteten schon am Horizont und waren in Gestalt von „Negermusik“ von den Beatles, den Stones, den Animals, den Yardbirds und ihren wirklich schwarzen Vorbildern namens Howlin Wolf und Muddy Waters sogar schon bis in unser Klassenzimmer vorgedrungen.

Unser Lehrer war beim besten Willen nicht zu beneiden.

Aber wir waren nicht sein größtes Problem.

Er war als 18jähriger in die Hölle der Ostfront geraten und das Blut, das er an den Ufern des Dnepr und des Dnestr hatte fließen sehen und fließen lassen, hatte ihn traumatisiert.

Und dieses Trauma forderte seinen regelmäßigen Tribut.

Und so wechselte er oft vom Rechnen in die neuere Zeitgeschichte, genauer: Hitler und der Krieg.

Nach solchen Stunden gönnte er sich gerne eine längere Schulpause.

Und bei uns ging es während dessen hoch her.

Wobei ich eher einer der „Braven“ war. Vor allem deshalb, weil ich es hasste auch nur einer Sekunde meiner kostbaren Freizeit etwas so Überflüssigem wie Hausaufgaben zu widmen.

Ich erledigte meine Hausaufgaben in der Schule. Unter der Bank, während des Unterrichts oder in den Pausen. Meistens gelang es mir, die Hausaufgaben von heute auch heute gleich zu erledigen, manchmal war ich im Rückstand und hatte dann während der Pause die Aufgabe für die nächste Stunde zu machen.

Mit meinem System der effizienten Hausaufgaben-Erledigung war ich nicht allein, sondern ich hatte im Laufe der Zeit ein paar Mitstreiter bekommen.

Wenn es dann gerade so ganz richtig hoch her ging und Leben im Klassenzimmer war, kam meistens der Lehrer der 8.Nachbarklasse zur Tür herein.

Er war nicht besonders groß aber wichtig! Und er wollte noch was werden und zwar Rektor. Deswegen diente sein Eingreifen auch mehreren Zwecken: Es unterstrich seine heutige und erst recht künftige Bedeutung und es machte unmissverständlich klar, dass sein gleichaltriger Kollege kein ernsthafter Konkurrent sein konnte.

Die jedem Schüler geläufige Methode in dieser Situation war und ist es, sofort sehr beschäftigt aus zu sehen und den eigenen Gesichtszügen den Ausdruck eines friedlichen, unschuldigen, etwas dämlichen Lamms zu verleihen.

Eigentlich hatte ich, weil ich meistens meine Hausaufgaben erledigte, sogar gegenüber meinen Mitschülern einen Vorsprung.

Aber es half alles nichts: Statt unter mich zu schauen, schaute ich auf und der Anblick dieses Wichtigtuers zauberte stets ein breites Grinsen auf mein Gesicht.

Also rief er mich jedes Mal zu sich um mir eine Ohrfeige zu verpassen. Da er mindestens einen Kopf kleiner war als ich und er deswegen Mühe hatte überhaupt zu mir hoch zu kommen, blieb die Bestrafung mehr symbolisch.

Die Klasse feixte und freute sich, dass ich den Sündenbock gab.


Leuten wie mir fehlt jedes Gespür für Rangordnungen und weitgehend die Fähigkeit mich in ihnen ein bzw. unter zu ordnen.
Deswegen löste das Erscheinen des Lehrers bei mir nicht die gleichen Unterwerfungsgesten aus wie bei allen anderen.
Ganz abgesehen davon, dass ich sowieso selten der erste war, der seine Anwesenheit bemerkte.

 

Am Beginn des „Idioten“ begegnen sich 3 Reisende im selben Abteil: Myschkin, Rogoschin und eine Person, die zunächst nur „der Beamte“ heißt.

Dostoevskij charakterisiert ihn so:

„Diese Herren Alleswisser begegnen einem manchmal, und in einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht sogar ziemlich häufig. Sie wissen alles; der ganze unruhige Forschungstrieb ihres Verstandes und ihre gesamten Fähigkeiten streben unaufhaltsam nach einer Seite hin, natürlich infolge des Mangels an wichtigeren Lebensinteressen und Anschauungen, wie ein moderner Denker sich ausdrücken würde. Bei dem Ausdruck »sie wissen alles« muss man übrigens an ein ziemlich beschränktes Gebiet denken: wo der und der angestellt ist, mit wem er bekannt ist, wieviel Vermögen er besitzt, wo er Gouverneur gewesen ist, was er für eine Frau genommen hat, wieviel Mitgift er dabei erhalten hat, wer sein Vetter und sein entfernterer Vetter ist usw., usw., und sonst noch allerlei von dieser Art. Großenteils gehen diese Alleswisser mit durchgestoßenen Ellbogen umher und bekommen siebzehn Rubel Gehalt monatlich. Die Leute, über die sie alle möglichen Einzelheiten wissen, würden natürlich nicht sagen können, warum jene an ihnen ein derartiges Interesse nehmen; und dabei finden viele dieser Alleswisser an diesem Wissen, das einer ganzen Wissenschaft gleichkommt, ein entschiedenes Vergnügen und gelangen dadurch zu Selbstachtung und sogar zu einem sehr hohen Grad seelischer Zufriedenheit. Und es ist auch eine verführerische Wissenschaft. Ich habe Gelehrte, Literaten, Dichter und Staatsmänner gekannt, die in dieser Wissenschaft ihre größte Befriedigung, ihr höchstes Ziel fanden und sogar entschieden nur hierdurch Karriere machten.“

[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 19508-19509

(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 3, S. 9-10)

http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]

 

Man spürt förmlich die Verachtung Dostoevskij/Myschkins für diesen Typus Mensch. Aber man sollte sich keine Illusionen machen. Myschkin reagiert reichlich hilflos auf diesen Menschen, von dem man bald darauf erfährt, dass er Lebedew heißt, und diese Hilflosigkeit resultiert schlicht und ergreifend daraus, dass ihm diese „Wissenschaft“ von seinem Wesen her fremd ist.

 

Ich war mal Buchhändler. Als Buchhändler liebt man nicht nur Bücher, als Buchhändler ist man in erster Linie Teil eines Betriebs, der Bücher in Rangordnungen sortiert. Einerseits sind da die Bestsellerlisten, andererseits das was frau/mann liest, wenn sie/er zum gebildeten Teil eines Landes gehören wollen. Beides ist nicht dasselbe, aber beides war mir immer fremd und so konnte ich nur ein schlechter Buchhändler sein.

 

Dabei geht es nicht darum, dass ich nicht wissen könnte, was gerade auf der Bestsellerliste oder anderen Bestenlisten steht. Ich kann ja lesen.
Aber so etwas wissen zu sollen, beleidigt meinen Verstand.

Jedes Buch hat eine eigene Qualität und manchmal besteht die einfach darin, dass es nichts taugt. Aber wenn es was taugt, wozu muss es dann in eine quantitative Relation zu einem anderen Buch gebracht werden. Wo liegt da der Informationsgehalt?

Aber bei diesem Besten- und Bestseller-Gerangel geht es doch darum, dass man diese Qualität in eine Ziffer übersetzt, d.h. quantifiziert und am Ende glaubt man zu wissen wie viel Schiller einen Goethe ergeben oder ob Brecht über oder unter Heine steht.

Das ist natürlich Schwachsinn, aber der Literaturbetrieb existiert nur, weil er aus diesem Schwachsinn eine Wissenschaft macht. Und im Literaturbetrieb sind die BuchhändlerInnen vergleichbar den einfachen Arbeitern und Angestellten einer Fabrik.

Unsere moderne Welt lebt von und in der Quantifizierung. Das Wissen um Qualität und darum, dass Qualitäten sich grundsätzlich der Messbarkeit entziehen, ist verloren gegangen.

Umgekehrt hat Myschkin erhebliche Probleme diesen Quantifizierungen zu folgen. Das Studium der Rangordnungen als „Wissenschaft“ entzieht sich seiner Art die Welt zu verstehen und zu begreifen.
Für ihn ist der Wert eines Buches oder Menschen nicht quantifizierbar, weil auch seine eigene Wertigkeit sich einer Quantifizierung entzieht. Seine Fähigkeiten, bzw. fehlenden Fähigkeiten liegen zu weit auseinander um sich sinnvoll in einem Mittelwert abbilden zu lassen.

Von der Verachtung Dostoevskij/Myschkins für die Lebedews darf man sich nicht täuschen lassen. Myschkin ist Lebedew nicht gewachsen.

Überhaupt sollte man sich fragen, ob die Lebedews nicht die wahren Herren Rußlands sind. Erst als Stützen der zaristischen Selbstherrschaft, dann von Lenin fleißig mit Sowjetöl gesalbt, als Stalins willige Vollstrecker und nun als Putindemokraten.

Lebedew jedenfalls trägt auf allen Schultern Wasser. Man denke nur an die denkwürdige Szene in seinem Haus, an dem er die Nihilisten mit grosser Geste des Hauses verweist und der todkranke Ippolit offenbart, dass er Keller bei der Abfassung eines Schmähbriefs gegen Myschkin beraten hat.

Taxi nach Ringsted

Als wir am Kopenhagener Hauptbahnhof ankamen, hatten wir noch Zeit. Direkt neben dem Bahnhof gibt es eine originelle Kneipe. „Jenerbanen“ ist eine Eisenbahner-Bierschwemme mit eigener Biermarke.
Es wird viel geraucht im „Jenerbanen“ , soviel, dass man manchmal die Hand vor den Augen nicht sieht, die Leute stehen um die Theke, die Wände sind mit Bildern bepflastert und wer ein Bier bestellt, bekommt eine Rabatkarte in die Löcher gezwickt werden, Mengenrabatt für die Schluckspechte. Wenn Sie mal nach Kopenhagen kommen, schauen Sie unbedingt rein, es ist ein Erlebnis.
Wir tranken ein Bier und dann noch ein 2.tes. Zwar war mein Kollege der Meinung, dass der Nachtzug um 18:40 losfahren sollte, aber ich war der felsenfesten Überzeugung, dass die Abfahrt um 19 Uhr ist und habe das so überzeugend vertreten, dass keiner von uns beiden auf die Idee kam, einfach unsere Fahrkarten zu checken.

Nach dem zweiten Bier zahlten wir und gingen etwas „früher“ um dann am Bahnsteig dem abfahrenden Zug hinterher zu schauen.

Es war der Nachtzug nach Deutschland und damit unsere einzige Möglichkeit die Nacht nicht auf harten Bänken im Bahnhof zu zu bringen.

Ich fasste mich am schnellsten: „Wir gehen zum Taxistand und fahren zum nächsten Bahnhof“.

Im Eiltempo ging es zum Taxistand vor dem Bahnhof gegenüber vom Tivoli.

Der Taxifahrer war ein Palästinenser oder Jordanier.

Wir einigten uns schnell mit ihm, dass der nächste Bahnhof, Hoje Taastrup, zu nah ist, um vor dem Zug dort zu sein.

Also war das nächste Ziel Ringsted

Nun protestierte aber unser Fahrer. Er wisse nicht, wie er fahren müsse um nach Ringsted zu kommen.

Nach einigem Hin und Her fuhr er schließlich an den Straßenrand.

In selben Moment als er an die Seite fuhr, hatte ich das Gefühl, als hätte jemand einen Staubsauger angemacht und würde damit mein Gehirn und jeden vernünftigen Gedanken darin weg saugen.

Für mich war in diesem Moment alles verloren.

Der Taxifahrer drückte mir einen Stapel Karten in die Hand und meinte, ich solle ihm darauf den Weg nach Ringsted zeigen, ich saß auf dem Beifahrersitz und ich wusste noch nicht mal mehr wie rum ich die Karte halten muss, geschweige denn, dass ich hätte wissen können wo Ringsted ist.

Zum Glück für mich, behielt mein Kollege die Nerven und die Übersicht. Er machte dem Taxifahrer unmissverständlich klar, dass er losfahren und sein Navigationssystem nutzen sollte. Mit immer wieder wiederholtem „keep going“ und der Antwort „you put me under pressure“ erreichten wir schließlich mehr oder weniger in letzte Minute Ringsted. Während dessen kehrte mir auch mein Verstand wieder langsam zurück.

Der Halt am Straßenrand stak mir allerdings noch länger in den Knochen.

Wenn man dieses absolute Gefühl der Leere, der totalen Unfähigkeit zu handeln, einmal erlebt hat, vergisst man es nie mehr.

Und ich erlebte es in dieser Woche zum zweiten Mal: Montags und Freitags.

Beim ersten Mal hatte ich hilflos in einem Aufzug gestanden.

Es ist als verabschiede sich mein Ich von mir und zurück bleibt eine leere Hülle.

Was passiert da?

Eigentlich arbeitet unser Gehirn immer, selbst im Schlaf. Aber es arbeitet in verschiedenen Modi. Im Schlaf z.B. wird die Verbindung zur Außenwelt mehr oder weniger vollständig unterbrochen.

Im Wachen gibt es Modi unterschiedlicher Wachheit, vom Tagträumen bis zu einem Zustand den ich als „Hellwach“ bezeichnen möchte.

Diese Zustände unterscheiden sich durch die Intensität mit der wir unsere Umwelt wahrnehmen.

Beim Tagträumen nehmen wir nur das Nötigste wahr, im Hellwach-Zustand haben wir gewissermaßen alle Antennen auf Empfang.

Hellwach sind wir, wenn es um etwas geht, im Beruf, in der Politik oder in der Liebe.

Wobei es eigentlich falsch ist, wenn ich „wir“ sage, denn den Zustand „hellwach“ erreichen ich nicht, weil nicht alle meine Antennen empfangen können oder weil nicht alle Signale, die meine Antennen erreichen, weiter verarbeitet werden.

Das Resultat ist dasselbe, nur die Ursache ist anders. Wobei ich persönlich eher Probleme bei der Signalverarbeitung als ursächlich ansehe d.h. die Antennen funktionieren vermutlich, aber die Fähigkeit „abzuschalten“ und damit die Fähigkeit Signale weg zu blenden, damit sie das Hirn nicht beim Denken stören, ist überentwickelt und kann nicht weit genug zurück gefahren werden.

Mein Gehirn will vom Träumen niemals lassen.

So gut es geht gleicht mein Verstand diesen Umstand aus und so gelingt es mir, wenn ich Glück habe, solche eine „ich muss jetzt hellwach sein“-Situation heil zu überstehen.

Ich kann auch in so fern Glück haben, dass mir jemand aus der Patsche hilft.

Selbst wenn mir niemand aus der Patsche hilft, kann ich mich einfach nach den anderen richten und dann habe ich auch Glück.

Aber ich habe nicht immer Glück.

Und manchmal kann mir niemand helfen.

Nach dem „Hellwach“-Zustand gibt es dann noch „höchster Alarm“. Das ist kein Normal- sondern ein Ausnahmezustand. Wenn dieser Level erreicht wird, schaltet mein Gehirn ab und auf meiner Stirn erscheint ein Schriftband „Wegen Überforderung vorübergehend geschlossen“.

So war es an diesem Freitag im Taxi.

Zu meinem Glück und im Unterschied zu anderen Situationen konnte ich mich einfach im Sitz zurücklehnen und auf den wachen Verstand meines Kollegen hoffen.

Vor einigen Wochen wurde der bekannte Sexualwissenschftler Günther Amendt überfahren.

Das Auto raste in Hamburg ungebremst über den Gehsteig und riss mehrere Passanten in den Tod.

Inzwischen weiß man, dass der Autofahrer ein Epileptiker war, der sich sein „Recht auf einen Führerschein“ vor Gericht erkämpft hatte.

Nun wird darüber spekuliert, ob er möglicherweise einen Anfall gehabt hatte, als er mehrere Menschen überfuhr.

Er muss keinen Anfall gehabt haben, es reicht, wenn auch sein Verstand, wie meiner manchmal, vorübergehend außer Betrieb war.

Übrigens können auch vollkommen Gesunde in so einen Zustand der Starre geraten. Es muss ihnen aber mehr passieren, damit das passiert.

Die Konsequenz daraus kann nur sein, dass wir uns gegenseitig weniger überfordern. Idioten wie ich müssen zwangsläufig zu Versagern werden, manchmal sogar zu gefährlichen Versagern, wenn unser Leben so eingerichtet wird, dass man nicht nebenher vor sich hin träumen darf, weil immer die volle Aufmerksamkeit gefordert ist.

Auf der anderen Seite müssen wir Idioten uns auch der Zumutung des immer bereit und aufmerksam sein Müssens energischer widersetzen.

Es ist doch eine bittere Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet Günter Amendt, der vielen von uns ein entspannteres, stressfreieres Verhältnis zu unserer Sexualität vermittelt hat, dass ausgerechnet er von einem epileptischen Idioten überfahren wird, der mit großem Einsatz und zweifelhaftem Erfolg darum gekämpft hat als Mann nicht ohne Auto und Führerschein da zu stehen.

Für manche Männer ist ja der Verlust ihres fahrbaren Untersatzes fast eine Kastration. Nicht ohne Grund findet man im Zeitschriftenladen die Zeitschriften mit den vielen PS direkt neben den Blättern mit den großen Busen.

Wir müssen lernen wieder mit unserer Unvollkommenheit zu leben und uns nicht dafür zu schämen, sagen zu müssen: Ich kann das nicht!

Übrigens gelingt das Frauen heute schon viel besser als den meisten Männern.

Die Letzten werden die Ersten sein und die Ersten werden die Letzten sein

Die Bergpredigt, aus der dieses Zitat stammt, ist eine der wenigen Stellen aus der der historische Jesus durch all die Schichten der Überlieferung hindurch direkt zu uns spricht.
Er ermahnt alle, die die Welt gerne in Sieger und Besiegte aufteilen nie zu vergessen: The times they are be changed !
Und so dringt ein Strahl der Hoffnung aus diesem Satz auf alle „looser“ und eine unzweideutige Mahnung an alle „winner“.
Vergesst nie: Ihr werdet die Plätze tauschen.
Keiner der an der Sonne sitzt wird immer dort sitzen bleiben und auch im Schatten kann es irgendwann hell und warm werden.
Das ist gewissermaßen die Gründungsurkunde der Sklavenreligion Christentum. Und so sehr sich christliche Würdenträger in den kommenden Jahrhunderten bemüht haben, diesen Jesus mit aller Macht zu versöhnen, so wenig war, ist und wird es jemals möglich sein, diesem Satz seine Sprengkraft zu nehmen.

Aber gerade weil dieser Wechsel immer wieder alle festen Verhältnisse sprengt, ist es sehr schwierig dieses „die Ersten werden die Letzten und die Letzten werden die Ersten sein“ in der eigenen Person, gewissermaßen in der ersten Person Singular zu verkörpern.
Genau das aber ist unser Schicksal.
Im deutschen Schulsystem wird in jeder Schulstunde sortiert: „Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen“ nur dass die Schlechten nicht gefressen, sondern ausgespuckt werden.
Als Myschkin wechselt man mit jeder Schulstunde seinen Platz. Vom Gewinner zum Verlierer und wieder zurück.
Man lernt, was es heißt aussortiert zu werden, weil man ein Nichtskönner ist und man lernt, dass einem deutlich mehr erlaubt ist, wenn man besser ist als alle anderen.
Mit dieser Gleichzeitigkeit klar zu kommen ist alles andere als einfach und deswegen darf niemand erwarten, dass wir am Ende einfache Menschen werden.
Aber in dieser Gleichzeitigkeit liegt zugleich, falls sie uns nicht zerreist, eine große Kraft und eine große Chance. Wobei es erst mal großer Kraft und großer Hilfe bedarf, davon nicht zerrissen zu werden.

Myschkin scheitert und sein Schöpfer Dostoevskij hat eher ein unglückliches Leben geführt, auch wenn er sehr Großes geleistet hat.
Manche meinen ja, er wäre nie ein solcher Ausnahme-Schriftsteller geworden, wenn es ihm besser gegangen wäre. Das ist natürlich grober Unfug.
Es ist überhaupt eine der schlimmsten Lügen andere für sich stellvertretend am Kreuz sterben zu lassen.
Insofern ist das Christentum im doppelten Sinne eine Sklavenreligion: In dem es
die Erinnerung an einen bemerkenswerten jüdischen Wanderprediger aus der Zeit des Augustus wach hält, der das Ende jeder Sklaverei und die Gleichwertigkeit aller Menschen gepredigt hat und dessen Ideen an Sprengkraft über die Jahrtausende nichts verloren haben.
Und in dem es den Kreuzestod dieses Predigers zum angeblich notwendigen Übel erklärt, zur Untat, die uns erretten soll. Damit werden alle Sklaven getröstet: Ihr tragt wie er nur euer Kreuz. Und Gott in seiner unerforschlichen Weisheit hat Euch dieses Kreuz gebracht, damit alle frei werden.
Aber kann man am Kreuz wirklich frei sein?
Ist die Behauptung der Weg zur Freiheit gehe über Golgatha nicht überhaupt einer der schlimmsten Lügen, die unserer Freiheit im Wege stehen?
Eine Lüge, die sich übrigens nicht nur in der Bibel findet sondern auch bei Karl Marx, der in seiner „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie – Einleitung“ so großartig beginnt:
„...
Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.
Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks.“

[Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. Marx/Engels: Ausgewählte Werke, S. 543 (vgl. MEW Bd. 1, S. 378-379) http://www.digitale-bibliothek.de/band11.htm ]
Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist,..“
[Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. Marx/Engels: Ausgewählte Werke, S. 556-557 (vgl. MEW Bd. 1, S. 385) http://www.digitale-bibliothek.de/band11.htm ]
Um am Schluss so jämmerlich zu enden:
Wo also die positive Möglichkeit der deutschen Emanzipation?
Antwort: in der Bildung einer Klasse mit radikalen Ketten, einer Klasse der
bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist, eines Standes, welcher die Auflösung aller Stände ist, einer Sphäre, welche
einen universellen Charakter durch ihre universellen Leiden besitzt und kein besondres Recht in Anspruch nimmt, weil kein besondres Unrecht, sondern das Unrecht schlechthin an ihr verübt wird, welche nicht mehr auf einen historischen, sondern nur noch auf den menschlichen Titel provozieren kann, welche in keinem einseitigen Gegensatz zu den Konsequenzen, sondern in einem allseitigen Gegensatz zu den Voraussetzungen des deutschen Staatswesens steht, einer Sphäre endlich, welche sich nicht emanzipieren kann, ohne sich von allen übrigen Sphären der Gesellschaft und damit alle übrigen Sphären der Gesellschaft zu emanzipieren, welche mit einem Wort der völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann.“[Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. Marx/Engels: Ausgewählte Werke, S. 566 (vgl. MEW Bd. 1, S. 390) http://www.digitale-bibliothek.de/band11.htm ]
Da befinden wir uns wieder auf der berühmten Schädelstätte, nur das am Kreuz nun das Proletariat hängen soll.
Es hat selten jemand in so kurzer Distanz den Weg von der Religionskritik zur Begründung einer neuen Religion zurück gelegt. Man kann auch sagen, da ist der Hegel mit ihm durchgegangen.
Die Formel das der Weg zum Glück durchs Leid führt, war immer schon verlogen, aber noch nie so falsch wie heute.
Auch bei Dostoevskij war es nicht das Leid sondern seine große Begabung, die ihn zum großen Erzähler gemacht hat. Und wäre er nicht ein noch viel größerer Erzähler, einer der sich nicht so gerne im Unglück und Selbstmitleid suhlt, wenn ihm sein Leben besser geglückt wäre ?
Deswegen muss es darum gehen, dass aus dieser eigenartigen Kombination aus Unfähigkeit und Begabung, die jeden Myschkin auszeichnet, Menschen emporwachsen, die ihr Potential realisieren können und an ihrer Unfähigkeit nicht scheitern.
Eine Gesellschaft die weniger Wert darauf legen würde die „Unfähigen“ aus zu sondern und mehr darauf jeden in dem zu fördern und zu fordern, das er kann, wäre da hilfreich.