Vom Tragischen im Leben und unserer unstillbaren Sehnsucht nach einem immer währenden „Sommernachtstraum“

Wer Milch und Zucker in seinen Kaffee gerührt hat, wird mit noch so viel Geschick, Geduld und Anstrengung beides nicht mehr heraus bekommen.

Deswegen haben wir eine Geschichte und was wir versäumt haben, haben wir versäumt und was geglückt ist, bleibt geglückt, was immer danach passiert.

Zart und zerbrechlich sind die Momente des Glücks und wenn wir es zu sehr festhalten wollen, werden wir es zerstören.

Deswegen war schon immer die wichtigste Frage, sowohl in der Philosophie als auch im Leben, nicht die Frage wozu wir leben, denn das ist eine alberne Frage, schließlich leben wir und das ist schon die einzig mögliche Antwort. Wir haben kein zweites Leben und es gibt keine „Wiederholen“-Taste.

Die wichtigste Frage ist: wie wir leben.

Wie uns das Leben glücken kann, was nicht heißt, dass es immer nur glücklich ist.

Myschkin und überhaupt Dostojewskis Gestalten erzählen eher vom Gegenteil: warum Leben nicht glückt. Aber gerade dadurch gerät ihm und uns diese Frage ins Zentrum.

Es ist eine alte Frage, die immer wieder neu und von Jedem und Jeder von uns beantwortet werden muss.

Und es ist zugleich eine Frage, die wir niemals nur allein beantworten können, weil die Welt um uns herum und vor allem die Menschen um uns herum ganz wesentlich bestimmen, ob wir glücklich oder unglücklich leben.

Im Garten

Die Frage nach dem guten, dem richtigen Leben führt quasi wie von selbst zu Epikur und seiner Philosophie.

Dabei stoßen wir auf die Paradoxie, dass der Philosoph der Lust aus der Lust das lustvollste, was wir kennen, den Eros, herausoperiert.

Ein ähnliches Paradoxon begegnet uns beim Apostel Paulus, der in seinem 1. Brief an die Korinther sagt: „die Liebe aber ist das Höchste“ um dann zu verkünden: „Das Weib schweige still in der Gemeinde“.

Freundschaft, Liebe, aber ohne Frauen ?

Ohne ihren Geruch, ihren Geschmack, ihre Freundlichkeit, ihren Sinn für Schönheit ?

Das ergibt eine armselige Liebe, auch wenn sie im purpurnen Ornat verkündet wird.

Und was taugt die Freundschaft, die Epikur so wichtig ist, ohne die Freundschaft zu den Frauen. Die ist aber ohne Eros nicht zu haben. Jedenfalls für all jene Männer, die Frauen lieben. Für die anderen beinhaltet schon die Männerfreundschaft eine oft unterdrückte und verleugnete erotische Komponente.

Der Garten selbst, traditionell der Ort epikureischer Philosophie, ist doch schon ein Frauenort, denn der Gärtner ist überall wo es nicht nur um englischen Rasen geht, meist eine Gärtnerin.

Wir haben gesehen, dass die Spaltung der Gesellschaft in Herren und Knechte/Mägde der Tod der Liebe ist.

Und deswegen ist die Rückgewinnung der Liebe als quasi „Hauptproduktivkraft“ jeder Gesellschaft untrennbar mit der Überwindung von Herrschaft verbunden.

Myschkin aber ist der heilige Narr, der auf der Suche nach der Liebe der Frauen ahnungslos durch die Gegend stolpert und die Gesetze von Macht und Herrschaft nicht begreift.

Weil er dies nicht begreift, verlassen ihn am Ende auch die Frauen.

Epikur und der Abschied vom Schicksal

Die Frage, ob man den Dingen einfach ihren Lauf lassen muss oder ob man sie zum Guten wenden kann, ist schon alt und immer noch aktuell.

Es ist die Frage, ob man einem Schicksal einfach ausgeliefert ist, dem man nicht entkommen kann oder ob man die Freiheit hat sein Leben selbst zu bestimmen.

Dieser Frage sind auch zwei gegensätzliche Theaterformen zugeordnet:

Die Tragödie schildert das Ausgeliefertsein, während die Komödie davon handelt, wie man dem Tod von der Schippe springt.

Die Komödie gilt als unernst, ist aber dafür um so volkstümlicher, während die Tragödie den Herrschaftsblick widerspiegelt.

Die Frage nach dem Schicksal hängt unmittelbar mit der Frage zusammen, ob und wie die Welt, so wie sie ist, determiniert ist.

Ist sie im strengen Sinne, so wie sich das z.B. Laplace vorgestellt hat, determiniert, dann müssen wir unserem Geschick folgen und alle Versuch ihm zu entkommen sindst eitel und nutzlos.

Wenn wir aber bestimmen können, ob wir an der nächsten Weggabelung nach links oder rechts gehen können, dann beeinflussen wir unser Schicksal und je nach unserer Entscheidung schaffen wir eine andere Welt.

Damit so etwas überhaupt möglich ist, damit es überhaupt Weggabelungen gibt, muss die Welt so beschaffen sein, dass A nicht notwendigerweise B folgt, sondern mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit stattdessen C oder D.

Diese Wahrscheinlichkeiten müssen selbst wieder beeinflussbar sein durch andere Ereignisse usw. Erst dadurch entsteht eine Welt die nicht voraus bestimmt ist.

Dadurch entsteht aber zugleich eine Welt in der es eine gerichtete Entwicklung gibt, dass heißt, die Fähigkeit zwischen Alternativen zu wählen und die Möglichkeit die Zeit gewissermaßen rückwärts laufen zu lassen, schließen sich gegenseitig aus.

Weil unser Schicksal nicht bis ins letzte vorbestimmt ist, ist Reversibilität eine seltene Ausnahme.

Die Grundidee bei Epikur ist ja, dass jedes Atom auf seiner Bahn um eine Winzigkeit von seinem vorbestimmten Kurs abweichen darf.

Diese Unbestimmtheit ist, wie Marx in seiner Doktorarbeit über die Differenz der epikureischen und demokritischen Naturphilosophie aufzeigt, notwendig, damit wir nicht blind und hoffnungslos einem unausweichlichen Schicksal ausgeliefert sind.

Ob Schrödingers Katze am Leben bleibt oder stirbt ist ungewiss, aber wenn es diese Ungewissheit nicht gebe, ginge es uns allen wie Ödipus, dem bei seiner Geburt schon Tereisias weissagen konnte, dass er seinen Vater erschlagen und seine Mutter heiraten werde.

Wir wären fortwährend schuldlos schuldig, weil wir gar keine Chance hätten einem vorbestimmten Schicksal zu entkommen.

Weil wir uns aber in einem Möglichkeitsraum vorwärts bewegen, in dem in jeder Sekunde tausende potentielle Zustände nicht zur Wirklichkeit gelangen und nur einer real wird, können wir unser Leben beeinflussen.

Über die Grenzen unseres Strebens nach Lust und Glück

In den Tiefen des Internets finden wir folgendes hedonistische Bekenntnis. Es hat schon fast den Charakter eines Glaubensbekenntnisses:

„Ich liebe und genieße das Leben

 

Ich bin ein sinnlicherer, lustvoller Mensch, der versucht seinen Alltag immer nach den schönen Dingen im Leben zu gestaltet oder zumindest das Schöne darin zu sehen.
Nie vergesse ich, dass ich eine Frau bin und lebe diese bewußt aus.
Ich bin geboren um zu leben und gibt es etwas schöneres als Genießen?
Genuss ist für mich sehr wichtig.
Ich genieße einen kribbelnden Augenkontakt genau so sehr wie ein gutes Essen- am Besten eigentlich in Kombination
oder ein guter Wein mit einem anregenden, geistreichen Gespräch, das mich zum Lachen bringt
oder es gibt so vieles was ich genießen kann...
eigentlich genieße ich das ganze Leben.“

 

Ich finde dieses Bekenntnis wunderschön.

Die kleinen Sprachunebenheiten zeigen, dass sie nicht „rein deutsch“ ist. Das war vielleicht auch nötig, denn das man/frau sein Leben einfach nur genießt, muss hier zu Lande erst wieder eingebürgert werden.

 

Wobei: Die Idee, dass wir leben um Schönheit zu genießen, aber auch Schönes zu schöpfen und zu schaffen, teilt die unbekannte Autorin mit der deutschen Klassik, mit Goethe und Schiller.

Nur haben uns die vielen Eckermanns darauf den Blick verstellt.

 

Freilich ging es mir bei unseren Ästheten schon immer, z.B. in den Wahlverwandschaften, ein kleines bisschen zu beschaulich zu. Da wird nicht gekämpft, da muss niemand mit irgendetwas ringen, höchstens um die Frage, wie man einen Gartenweg am besten anlegt.

 

Es gibt nun mal im Alltag auch hässliche Dinge. Es gibt Krankheit, Unglück. Wenn sich z.B. ein Myschkin mit einem Anfall auf so einem geschmackvoll angelegten Gartenweg wälzt, wie man ihn in den Wahlverwandtschaften und in Wörlitz findet, leidet dann nicht die ganze Schönheit der ästhetisch durchgestalteten Landschaft ?

Kann da nicht jede Brennnessel zum Feind werden ?

 

Schon Epikur ist mit seiner Definition der Lust als Abwesenheit von Schmerz auf ziemliche Abwege geraten und hat u.a. deswegen eine Hauptquelle jedweder Lust, den Eros, aus seiner Lustlehre verbannt.

 

Unsere unbekannte Autorin hat recht: Wir sollten alle, wie sie, das Leben lieben. Wir können auch gerne immer wieder versuchen es für uns und andere schöner zu machen und wir brauchen uns unserer Lust und unseres Verlangens nicht zu schämen.

 

Aber zum Leben gehört auch Hässliches.

 

Und wenn wir das Hässliche hassen, zerstören wir mit diesem Hass die Schönheit. Unsere eigene, so wir sie besitzen, zuerst.

 

Genuss zu haben, an dem was uns erfreut, und was erfreut uns mehr als das andere Geschlecht, ist in der Tat etwas sehr Schönes.

Aber kann nicht das Kochen ein ebenso großer Genuss sein wie das Essen ?

Und beim Kochen darf man bekanntlich die Hitze nicht scheuen und verbrennen kann man sich auch.

Haben wir nicht bei Hegel gelernt, dass der Knecht (die Magd) ein vollkommener Mensch ist, weil er (sie) nicht auf das Genießen beschränkt ist ?

 

Eine der merkwürdigsten Rittergeschichten ist die vom Tannhäuser.

Sie zeigt uns, dass ein Übermaß der Lusterfüllung auch in Unlust enden kann.

 

Das ist das eine.

 

Das andere ist, dass auch der Zwang zur Schönheit und zum Gelingen ein Zwang ist.

 

Die Klammer des obigen Bekenntnisses lautet:

„Ich liebe und genieße das Leben....

eigentlich genieße ich das ganze Leben.“

 

In dieser Klammer findet sich u.a. dieser Satz:

„Ich bin ein sinnlicherer, lustvoller Mensch, der versucht seinen Alltag immer nach den schönen Dingen im Leben zu gestaltet oder zumindest das Schöne darin zu sehen.“

Das aber kann zum Problem werden.

Und zwar dann, wenn daraus der Zwang erwachsen sollte das Hässliche oder die Hässlichen zu eliminieren.

Dann geraden sich die Liebe zum Leben und die Liebe zur Schönheit in die Haare.

Aber nur wenn das Leben und die Liebe zu ihm den Vorrang erhält, bleibt am Ende auch die Schönheit.

Nachdenken über die Schönheit.

Zwar haben schon Kinder eine Vorstellung davon, was schön und was hässlich ist, sobald wir aber „Schönheit“ definieren wollen, geraten wir in arge Schwierigkeiten.

Wissenschaftler haben experimentiert und Gesichter mittels Grafikprogrammen „gemittelt“ und dann Betrachtern vorgelegt. Das Resultat: Je mehr die Gesichter aus einer großen Zahl wirklicher Gesichter gemittelt waren, d.h. desto „durchschnittlicher“ sie waren, desto schöner wurden diese Gesichter empfunden.

Ich denke, dass der Ursprung jedes Schönheitsempfindens das sexuelle Begehren ist.

Wir entwickeln ein anderes Empfinden für Schönheit, wenn wir Frauen oder Männer begehren.

Im Internet gibt es ein Portal „Petals“. Die „Blumen“ die dort zu sehen sind, sind wunderschöne Vulvas fotografiert von ???. Dazu gibt es auch ein Buch ?????.

Der Vergleich mit Blumen trifft den Kern der Sache.

Schönheit soll man Begehren.

Deswegen ist Schönheit auch nicht neutral, sondern abhängig davon was man begehrt.

So spielen hetereosexuelle Männer in der Modebranche und speziell bei der Frauenmode eine untergeordnete Rolle.

Schwule Männer und hetereosexuelle Frauen empfinden aber gleichermaßen süße Knaben als besonders begehrenswert.

So haben wir die paradoxe Situation, dass Frauenmode und weibliches Schönheitsideal heute oft so tun, als müssten Frauen zu Knaben werden, damit wir sie begehren können.

Dabei übersehen sie, dass das, was sie begehren, nicht das ist, was wir begehren.

Für Kinder sind dagegen Mutti und Vati die schönsten, stärksten und begehrenswertesten Geschöpfe der Welt. Sie sind gewissermaßen die Urbilder der ursprünglichen Göttinnen und Götter. Ursprünglich deswegen, weil die gewalttätigen Eroberergötter einer späteren Schicht angehören.

Und davon, ob sie noch Schwestern, Freundinnen, Brüder und Freunde hatten, hängt maßgeblich ab, welchen Typ von Frau bzw. Mann wir schön finden.

So hat unser Schönheitsempfinden zwei Quellen: Das sexuelle Begehren und das kindliche Urvertrauen.

Natürlich vergeht auch Schönheit, so wie alles vergeht.

Andererseits gibt es eine Schönheit des Alters, so dass wir sagen können:

Vor dem Tod muss Schönheit nicht vergehen.

Allerdings werden alle Versuche sein Alter zu verleugnen und sich künstlich auf jung zu trimmen, mit garantierter Häßlichkeit bestraft.

Wir erhalten damit ein weiteres Paradoxon: Wer versucht das Altwerden zu verhindern und zu verleugnen, verliert seine Schönheit um so sicherer.

Solange aber das Verlangen noch nicht gestorben ist, lebt auch die Schönheit.

Vom Mitleiden

Die Vermeidung von Schmerz ist ein wichtiges Motiv in der epikuräischen Philosophie. Wir sind auf der Welt um Lust zu empfinden und der Schmerz ist der Feind unserer Lust.

Zwar ist für Masochisten der dosierte Schmerz selbst die Quelle ihrer Lust. Aber davon wollen wir hier nicht reden.

Wovon wir reden wollen, ist das Mitleiden.

Es ist eine angeborene Fähigkeit, die wir auch töten, zum Absterben in uns bringen können.

Zugleich lehrt uns die Intelligenzforschung bei Tieren (Affen, Delfinen, Elefanten, Raben), daß die Fähigkeit mit anderen Geschöpfen zu fühlen und gegebenenfalls zu leiden, die Basis unserer Denkfähigkeit ist.

Durch den/die Andere erfahren wir uns selbst. Ohne unsere Fähigkeit fremde Schmerzen zu fühlen und uns an fremder Freude zu freuen, wüssten wir noch nicht einmal was das ist: Eine Andere, ein Anderer.

Deswegen ist es gefährlich für uns, wenn wir uns gegen fremden Schmerz unempfindlich machen. Allerdings ist ein Übermaß an Schmerz, eigener oder fremder, durchaus geeignet uns das Leben zu verleiden.

D.h. aber, daß für ein lustvolles Leben das Lachen der anderen unverzichtbar ist und daß wir deswegen an einer Welt bauen müssen, die das Leid gemeinsam zu überwinden versucht.

Eine Philosophie für die das Vermeidem von Schmerz im Zentrum steht, weil sie Lust als Abwesenheit von Schmerz versteht, ist immer in der Gefahr das Leiden und vor allem das Mitleiden zu unterdrücken.

Damit amputiert sie aber einen wesentlichen Teil ihres Menschseins.

Der zentrale Einwand gegen eine Philosophie der Lust lautet demnach: Wenn alles der Lust dient, werden meine Mitmenschen zum bloßen Mittel.

Damit tritt aber nüchternes Kalkül an die Stelle des Feuers, das wir im Miteinander entzünden können.

Dieses Feuer des Mit-Leidens, vor allem aber des Mit-Freuens ist die höchste Quelle der Lust.

Von der Achtsamkeit

Ich bin grundsätzlich skeptisch, wenn Europäer (z.B. Hesse) zu Anhängern asiatischer Religionen oder Philosophien, speziell des Buddhismus, werden.

Wir leben in einer bestimmten Kultur und wir haben die Urteile und Vorurteile dieser Kultur schon mit der Muttermilch getrunken und sie ist ein Teil von uns geworden. Sie ist uns, wie man so sagt, in Fleisch und Blut übergegangen.

Die Lektüre des ein oder anderen interessanten Buches aus einer ganz anderen Kultur macht uns deswegen noch lange nicht zu einem Teil dieser anderen Kultur. Meistens ist sie nur ein bunter Umhang unter dem der alte Adam weiter wohnt.

Philosophie und Religion

Wobei man vom Buddhismus gerne sagt, es sei eher eine Philosophie als eine Religion. Das wirft die Frage auf, in wie fern sich Philosophie und Religion unterscheiden.
Sicher nicht dadurch, dass Philosophie wissenschaftlich sein soll, während Religion unwissenschaftlich ist.

Philosophie ist so wenig Wissenschaft wie Religion Wissenschaft ist.

Wissenschaft hat zum Gegenstand die Logik einer Sache. Dabei hat sie mit dem Problem zu kämpfen, dass Logik nicht alles erklärt. Zumal die vom logischen Denken unterstellten Ursache-Wirkung-Beziehungen in Wirklichkeit fast immer Wechselbeziehungen sind.

Wechselbeziehungen entbehren aber der Eindeutigkeit. Auch die Wiederholbarkeit leitet. An die Stelle der Logik, der Gesetzmäßigkeit, tritt das Erzählen einer Geschichte.

Und je mehr sich auch die Physik z.B. über die Kosmologie ihres historischen Charakters bewusst wird, desto größer wird das Gewicht der Erzählung gegenüber der bloßen Formel.

Geschichten können immer vom selben Ereignis ganz verschieden erzählt werden und trotzdem wahr sein. Vor allem aber handeln sie von dem was sich einmal ereignet hat und dann möglicherweise nie wieder.
Das Einmalige, der Augenblick, der alles ändert, ist sogar das Salz in der Suppe.

Wahrheit in der Wissenschaft ist traditionell eng verknüpft mit Eindeutigkeit. Geschichten, Bilder, Musik, was wir fühlen, haben ihre jeweils anderen eigenen Wahrheiten und ihre Schönheit liegt oft in ihrer Mehrdeutigkeit, ihrer prinzipiellen Ambivalenz.

Gegenstand der Philosophie ist einerseits die Frage, wie man Wahrheit erkennt und welche Grenzen eine solche Kenntnis hat. Aus der Frage nach der Wahrheit ergibt sich auch die Frage nach dem richtigen, wahrhaftigen Leben. Beides ist nicht zu trennen.

Dabei lebt die Philosophie von wissenschaftlicher Erkenntnis genauso wie von künstlerischen Einsichten. Sie versucht sich am großen Gesamtbild. Darin liegt der Charme, der Reiz von Philosophie, darin liegt aber auch eine große Gefahr.
Die Gefahr besteht unter anderem darin, dass ein einmal gewonnenes Bild gegen neue Erkenntnis gekehrt wird, dass eine Philosophie glaubt im Besitz absoluter, ewiger Wahrheit zu sein.

So wird aus Philosophie Religion.

Wobei Juden, Christen und Moslems es ja besser wissen müssten, wenn sie das Bilderverbot ihres ersten Gebots ernst nehmen würden:

Es heißt doch, richtig verstanden: Glaube nicht, dass Du jemals wissen kannst wer ich, Gott bin. Anders gesagt: Es ist Sünde zu glauben, man sei im Besitz absoluter Wahrheit.

Nach diesem, meinem Verständnis gibt es eine jüdische, christliche, islamische genauso wie eine hinduistische oder buddhistische Philosophie, aber es gibt all dies auch als Religion.
Dabei macht das Dogma die Religion.
Der Dogmatismus erwächst dabei aus 2 verschiedenen Wurzeln:
Einmal erwächst aus Philosophie auch die Hoffnung, die Hoffnung auf ein gutes, menschenwürdiges Leben. Wenn die Umständen unter die man geworfen ist, ein solches Leben verweigern, verkapselt sich diese Hoffnung wie ein Samen und wird jenseitig. Jenseitig in dem Sinn, dass die Hoffnung sich nun nicht mehr auf mein eigenes Leben bezieht, sondern auf ein anderes Leben. Illusionär auf ein Leben nach dem Tod, mehr realistisch auf ein besseres Leben, derer, die nach mir kommen. Die ursprünglich lebendige Hoffnung geht gewissermassen in einen Erstarrungszustand über in dem das, was mal lebendig war die Jahrhunderte der Not überdauern kann und aus dem es zu neuen Leben erweckt werden kann, wenn die Zeit reif ist.

Andererseits braucht eine bestimmte reale Gesellschaft auch ein Bild von sich selbst. Die Philosophie liefert dazu den Spiegel. Der zeigt aber oft ein hässliches Bild. Das wird dann schön geschminkt.


So entsteht aus beiden Quellen Religion. „Religion ist Opium des Volkes.“ So wurde dieser Befund mal knapp zusammengefasst.

Die Verwandlung von Philosophie in Religion, aus welchen Gründen auch immer, ist der Tod der Philosophie. Aber anders als wir, kann Philosophie aus ihrer religiösen Erstarrung erlöst und zu neuem Leben erweckt werden. Dazu wird nicht mehr gebraucht als ein Denken ohne Scheuklappen.
Denn Philosophie kennt nur das eigene Denken und das fremde Argument.

Sie kennt deswegen vor allem das Vergnügen, die Freude am Denken, das schöne Gefühl, wenn einem ein Licht aufgeht und man versteht, was verschlossen war.

Die Verehrung von Autoritäten hat dagegen mit Philosophie nichts zu tun.

Wo diese Verehrung einsetzt endet Philosophie und beginnt das religiöse Bekenntnis.

Natürlich gibt es auch eine Philosophietradition, die fest im Diesseits verankert ist und die Jenseitigkeit z.B. christlicher Philosophie ablehnt.
Aber auch diese Philosophie wird zur Religion falls sie sich der Dogmatik ergibt und anfängt „Wahrheiten“ zu verkünden, statt immer wieder neu auf der Suche nach Wahrheit und Erkenntnis zu sein.

Im Folgenden wird uns am Buddhismus nicht die Religion mit ihren Verkündigungen und Verheißungen, sondern einzig das, was im Buddhismus philosophisch gedacht wird, interessieren.
Aber auch das wäre noch viel zu viel, denn im Buddhismus wurde im Laufe der Jahrhunderte vieles und viel gegensätzliches gedacht.

Deswegen versuche ich auch nicht den Buddhismus insgesamt zu verstehen, sondern nur ein wichtiges Konzept, das Konzept der Achtsamkeit.

Dabei geht es auch darum, dass Achtsamkeit nicht nur ein Thema für Buddhisten war und ist.

Verschiedene Konzepte der Zeit


Nichts ist uns selbstverständlicher als Raum und Zeit. So selbstverständlich, dass für Kant beide den obersten Rang in seiner Metaphysik hatten.

Sie waren von allen ewigen Wahrheiten die unbezweifelbarsten.

Dass sie ihre ewige Gültigkeit verloren haben, bezeichnet das Ende jeglicher Metaphysik. Allerdings waren auch schon vorher die „ewigen Wahrheiten“ nur im europäischen Kulturkreis „ewig“ und „wahr“ gewesen.

Christentum, Judentum und Islam sind Geschwister, die alle das ursprüngliche Judentum, wie es mit Nehemia entstand (wenn man auf dem Boden der Geschichte bleibt und nicht die Sagengestalten Abraham,Moses, David und Salomon zu historischen Fakten erklärt), das die Makkabäer und diverse Messiase, darunter Jesus hervorbrachte, zu ihrer Mutter haben.

Diese oft geschmähte oder verachtete Mutter verschmolz die Sehnsucht der Sklaven nach Freiheit mit dem Glauben an den einen Gott.

Und beides steht immer noch im Zentrum dieser Religionen.

Erlösung, wenigstens im Jenseits, wurde zur zentralen Botschaft.

Dass die Erlösung dabei auch die Erlösung von Sklaverei ist, das „Go down Moses“, macht die wirkliche Originalität der mosaischen Religionen aus.

Damit verbunden ist auch ein Zeitbegriff, der nach vorne offen ist, der Zukunft mit Hoffnung verbindet.

Die Erlösung ist deswegen auch eine Erlösung zu sinnerfülltem ewigen Leben.

Das Leben ist wie ein Karawanenzug, der von irgendwo aufbricht, durch Staub, Dreck und unvorstellbare Hitze führt, bis jene Stadt auf den Bergen auftaucht, die die Erfüllung aller Wünsche verheißt, von denen man auf dem mühsamen Weg nur träumen durfte.
Und ohne jene Träume und die Gewissheit, dass sie sich am Ende erfüllen, wäre man schon längst an den Strapazen verendet.

Natürlich ist dieser Hoffnungszug, dieser Auszug aus der Sklaverei nicht die einzige Tendenz.
Der Glaube an den „allmächtigen Vater“ setzt an die Stelle vieler Herren den „HERREN“ und transformiert die Ketten an unseren Händen und Füssen zu geistigen Ketten mit denen wir nicht nur an Herrschaft und Unterdrückung gefesselt werden, sondern diese Sklaverei auch noch fröhlich bejubeln und besingen.
Bloch hat diese Ambivalenz im Gottesbegriff der mosaischen Religionen in seinem „Atheismus im Christentum“ deutlich heraus gearbeitet.

Trotzdem bleibt der Auszug aus Ägyptenland ein Fixpunkt, der eine neue Zeitstruktur begründet. Ab jetzt ist die Zeit klar unterteilt in Gestern, Heute und Morgen. Und das Morgen ist das Land der Hoffnung.

Demgegenüber steht ein Zeitgefühl, bei dem Frühling, Sommer, Herbst und Winter sich immer wieder ablösen, der Geburt der Tod folgt und die Geburt, ursprünglich wegen der Ähnlichkeit der Neugeborenen mit den Verstorbenen, als Wiedergeburt mystifiziert wird.

Es ist ein bäuerliches Denken. Und deswegen war und ist dieses Denken ursprünglich auch nicht nur in Indien daheim.

Es ist auch kein vergangenes Denken, sondern immer noch lebendig.

Jedes Neugeborene wird von Tanten, Onkeln, Bekannten und Verwandten darauf hin untersucht, ob in ihm nicht eine möglicherweise längst verstorbene Tante, Großmuttter, Urgroßmusster, Großvater, Urgroßvater oder Onkel wieder kehrt.

Und es ist in der Tat verblüffend wie sehr sich Menschen ähneln können, ähneln bis hin zu typischen Handbewegungen oder anderen mehr oder weniger liebenswerten Eigenheiten, die eigentlich üblicherweise das ausmachen, was man „Persönlichkeit“ nennt. Manchmal kann man auch erschrecken

Das es so ist, war und ist ein Trost. Angesichts der Endlichkeit unseres eigenen Lebens tröstet es, wenn man weiß, dass man eingebettet ist in einen Kreislauf von Werden und Vergehen, in dem das Leben jedes Jahr stirbt um danach von neuem und in unvorstellbarer Fülle zu erwachen.

Erklärungsbedürftig ist eigentlich eher, wie es dazu kommen konnte, dass dieses Werden und Vergehen verleugnet wurde und an die Stelle der Fülle des Lebens die Dürftigkeit angeblich ewiger Wahrheiten trat.

Da Geburt und Tod auch vom hartgesottensten Metaphysiker nicht geleugnet werden können, wird daraus die Wiederkehr des Immergleichen.

Geldsetzer bringt es zum Beispiel fertig „Evolution“ so zu definieren:

„Daß dieser Zusammenhang Evolution genannt wird, dürfte selber schon eine abendländische Deutung sein, denn es gibt dafür keine Sanskritbezeichnung. Und dabei ist der Terminus Evolution selber für vielerlei Interpretationen offen. Seit Leibniz, der ihn wahrscheinlich unter dem Vorbild des neuplatonischen Emanationsgedankens stilisierte, blieb er eher ein Verlegenheitsetikett, mit dem ein recht widersprüchliches Verhältnis von objektiv identischer Substanzialität und (zeitlich) erscheinender Nicht-Identität belegt wurde. Im Emanationsgedanken (Herausfließen aus einer Quelle) blieb das Wasser der Quelle in allen seinen kaskadenhaften Verzweigungen dasselbe göttliche Sein, und doch sollte es als »geschaffenes« und »Herausgeflossenes« von der Quelle auch verschieden sein. Die Richtung des Fließens aber führt zum Dünneren, Unwesentlicheren, bis es sich im Nichtigen verliert. Im modernen Evolutionsgedanken wird die Richtung – nominalistisch-empiristisch – umgekehrt. Nun ist das Feine, Dünne, ja Unsichtbar- Verborgene der Ausgang, und dieses bleibt das Identische, die Grundlage für Vergröberungen, Sichtbarwerdungen, Unterschiedlichkeiten, Differenzierungen, die gleichwohl in einem Identischen integriert bleiben. Die Buchrolle, die alles schon enthält, aber erst beim Aufwickeln (evolvere) ihren Inhalt sicht- und lesbar macht, blieb hier immer das Denkmodell.“

[Lutz Geldsetzer: Die klassische indische Philosophie: 17. Die Samkhya-Philosophie. DB Sonderband: Klassiker der indischen Philosophie, S. 285-286]

 

Was immer die Etymologie des Wortes „Evolution“ ist, spätestens seit Darwins „Entstehung der Arten“ geht es eben nicht mehr um die Entfaltung von bereits Bekanntem, sondern darum, dass Neues, bisher nicht da gewesenes entsteht.
Geldsetzer verwechselt die Entstehung eines neuen Phänotyps aus einem bekannten und existierenden Genotyp mit der Evolution. Damit leugnet er aber die Evolution, denn ihr Thema ist ja gerade die Entstehung neuer Genotypen.

„Die Buchrolle, die alles schon enthält, aber erst beim Aufwickeln (evolvere) ihren Inhalt sicht- und lesbar macht“ mag ja Geldsetzers Denkmodell sein und es mag auch das Denkmodell der klassischen indischen Philosophie sein, aber es ist nicht das Denkmodell der Evolution. Die Behauptung des Parmenides, dass etwas ist oder nicht ist, ist zwar logisch, aber deswegen noch lange nicht wahr.

Werden und Vergehen, dass Neues geboren wird und Altes stirbt, sind reale Vorgänge und wenn die Logik damit Probleme hat, dann zeigen sich daran nur die Grenzen der Logik und des logischen Denkens.

 

Warum diese an sich triviale Erkenntnis so hartnäckig geleugnet wird, warum „Weisheit“ oft aus nichts anderem bestehen soll, als aus einer höchst artifiziellen Argumentation mit der geleugnet wird, was gar nicht zu leugnen ist, das ist es, was wirklich ein Rätsel ist.

Wir werden dieses Rätsel hier nicht lösen, aber ein paar Ideen woran es liegen könnte, möchte ich hier schon diskutieren.

Die Entstehung von Gesellschaften mit scharfer Ausbeutung und Unterdrückung, schafft auch, gerade bei denen, die herrschen, den Wunsch nach Dauer, nach Ewigkeit. Dieser Wunsch ist um so stärker, je mehr ein solche Gesellschaft auf nichts als brutaler Gewalt des einen Teils über den anderen beruht.
Wenn Krieger und Priester gemeinsam über eine unterworfene Bevölkerung herrschen, wenn der Nachschub an Sklaven ständig durch neue Kriege sichergestellt werden muss und wenn jede feindliche Belagerung damit enden kann, dass man selbst, samt Frauen und Kindern in der Sklaverei landet, dann ist in Wirklichkeit nichts sicher.
Die „Sicherheit“ kann nur eine imaginäre sein.
Soweit das Bild aus der Perspektive der Herrschenden.

Für die Beherrschten ist der Kern jedweder Erlösungsperspektive die Erlösung von den Ketten.

Und so wird das, was mal Trost war, Fluch:

Selbst der Tod erlöst den Sklaven nicht von den Ketten, denn er wird ja wiedergeboren.

Wenn man aber nicht nur als Mensch wiedergeboren werden kann, sondern z.B. als Ratte oder Schmeißfliege, dann wird aus dem was mal Trost war, schließlich ein Verhängnis.

Diesem Verhängnis zu entgehen, konstituiert ein anderes Verständnis von Erlösung.

Nun müssen wir vom Werden und Vergehen selbst erlöst werden.

Beginnend mit Parmenides „löst“ die abendländische eleatische Philosophie das Problem des Werdens und Vergehens in dem sie es verleugnet.
Die Pseudo-Lösung heißt Metaphysik. Damit wird ein Bereich konstituiert bzw.konstruiert, der dem Werden und Vergehen entzogen sein soll. Dieser Bereich soll gewissermassen den Kern, das Wesen jeder Sache verkörpern, das Ewige, das Unzerstörbare.

Parallel spalten sich die Menschen in Körper und Geist und die Seele wird unsterblich.

Ein Dualismus, der sich wohl erstmals so deutlich in Persien ausgeprägt hat.

Die Idee der Wiedergeburt wird ins Jenseits verschoben und dort zu einem einmaligen Ereignis: Ich werde wiedergeboren im Angesicht des HERRN und existiere nun an als reines Geistwesen ewig.

Dass dieses Versprechen der fleischlosen Weiterexistenz in Ewigkeit auch kritisch gesehen werden kann, zeigt uns Mark Twain:

„Sie war aber nun einmal am Himmel, dem »Ort der Glückseligen«, wie sie's nannte, angelangt und teilte mir alles mit, was sie drüber wußte. Sie sagte, alles was man dort zu thun habe, sei, den ganzen Tag lang mit einer Harfe herumzumarschieren und dazu zu singen immer und ewig. Das leuchtete mir nun gar nicht ein, ich schwieg aber und fragte nur, ob sie meine, mein Freund Tom Sawyer werde auch dort sein, was sie entschieden verneinte. Wie mich das freute! Tom muß zu mir kommen, der soll nicht wohin gehen, wo

[Twain: Abenteuer und Fahrten des Huckleberry Finn. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 76584 (vgl. Twain-Huckleberry, S. 9)

http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]

 

In Indien bleiben Himmel und Hölle auf Erden.
Als was ich wiedergeboren werde, kann Belohnung und Strafe sein.

Alles hängt davon ab, wie ich lebe.

Diesem Verhängnis will Buddha entgehen.

Erlösung ist für Buddha Erlösung vom Werden und Vergehen.

„›Genügen ist des Leidens Wurzel‹, das hat er entdeckt, ›Werden gebiert, Gewordenes altert und stirbt.‹ Darum also, ihr Mönche, sage ich, daß der Vollendete, allem Lebensdurst erstorben, entwöhnt, entrodet, entgangen, entwunden, in der unvergleichlichen vollkommenen Erwachung auferwacht ist.«“

[Indische Philosophie: Die Reden Gotamo Buddhos. DB Sonderband: Klassiker der indischen Philosophie, S. 17072

(vgl. Buddhos Bd. 1, S. 10)]

 

Im Gegensatz zu Parmenides, der das Werden und Vergehen leugnet und damit zum Begründer der Metaphysik wird, jener fragwürdigen Behauptung es gäbe ewige, unveränderliche Wahrheiten und die Philosophie handele davon, im Gegensatz zu dieser Art von Realitätsverleugnung, fordert er eine andere Art sich dem Werden und Vergehen zu entziehen: Durch Askese, durch den Versuch jedes Bedürfnis nach was auch immer ab zu töten:

 

„Hat nun, ihr Mönche, ein Mönch, das Wähnen, das wissend überwunden werden muß, wissend überwunden, das Wähnen, das wehrend überwunden werden muß, wehrend überwunden, das Wähnen, das pflegend überwunden werden muß, pflegend überwunden, das Wähnen, das duldend überwunden werden muß, duldend überwunden, das Wähnen, das fliehend überwunden werden muß, fliehend überwunden, das Wähnen, das kämpfend überwunden werden muß, kämpfend überwunden, das Wähnen, das wirkend überwunden werden muß, wirkend überwunden: so nennt man ihn, Mönche, einen Mönch, der gegen alles Wähnen gefeit ist. Abgeschnitten hat er den Lebensdurst, weggeworfen die Fessel, durch vollständige Dünkeleroberung ein Ende gemacht dem Leiden.«“

[Indische Philosophie: Die Reden Gotamo Buddhos. DB Sonderband: Klassiker der indischen Philosophie, S. 17084

(vgl. Buddhos Bd. 1, S. 15-16)]

 

Wir sind gefangen in einem ewigen Kreislauf von Geburt und Tod.

Angeblich können und müssen wir dem entkommen.

Nicht die Erlösung zum, stattdessen die Erlösung vom Leben, vom ewigen Werden und Vergehen ist das Ziel. Ewiges Leben, wiedergeboren werden, ist ein Fluch, weil ich immer wieder von neuem im Dreck geboren werde.

Die Erde ist die wahre Hölle.

Sie wird zur Hölle durch unseren Durst, durch unser Begehren. Sobald es uns gelingt aller Begierden zu entsagen, können wir wirkliches Glück erreichen.

Auch wenn dies seltsam klingen mag, aber ich sehe eine gewisse Verwandtschaft zu Epikur. Hier wie dort soll uns die Reduktion unserer Gier davor bewahren, dass uns der Lebensgenuss verleidet wird.

Nochmal über die Zeit

Heisenberg stellt sich in seiner Autobiografie „Das Sein und das Ganze“ die Frage, wieso etwa Biologie und Geschichte von der Zeit als etwas gerichtetem ausgehen, während in der Physik die Zeit angeblich vorwärts und rückwärts laufen soll.

Er hält dies für ein großes zu lösendes Rätsel.

Er vergisst oder übersieht, dass er dieses Rätsel bereits gelöst hat:

Er und Bohr haben die unausrottbare Existenz des Zufalls entdeckt oder genauer gesagt wiederentdeckt, denn Epikur wusste das schon.

Wenn aber der Zufall wesentlicher Bestandteil jeder Entwicklung ist, dann ist eine solche Entwicklung unumkehrbar. Es müssten ja sonst alle Zufälle in der genau umgekehrten Weise wieder auftreten. Dann aber wären es keine Zufälle.

Nur in einer strikt determinierten Welt können Zeit und Entwicklung nach Belieben vor- und rückwärts laufen.

In einer solchen Welt kann man auch schon bei Geburt des Ödipus wissen, dass er seinen Vater ermorden und seine Mutter heiraten wird. Und alle Versuche der Menschen ihrem Verhängnis zu entgehen, führen nur um so sicherer in den Untergang.

Zu unserem Glück leben wir nicht in einer solchen Welt.

Wir haben immer wieder die Freiheit der Wahl.

Sowohl bei den Griechen als auch bei den Indern ist das Bewusstsein dieser Freiheit untergegangen und statt dessen dem Verhängnis einer Vorbestimmung gewichen.

Dass man wiedergeboren wird, macht alles nur noch schlimmer:

Ödipus kann sich dann seinem Schicksal, seinem Verhängnis, noch nicht einmal durch Selbstmord entziehen.

Er wird wieder zur Welt kommen und dort für seine Taten aus einem vergangenen Leben büßen.

Er wird bestraft, obwohl er doch nur ein Zahnrad im ewig schlagenden Uhrwerk des Schicksals ist und nichts was er tat das Resultat seiner eigenen Tat, seines eigenen Willens war.

Zeit braucht Uhren.

Aber zu unserem großen Glück gehen auch die perfektesten realen Uhren niemals für immer genau und die angeblich „gute“ Unendlichkeit, die jeder Kreis, jeder Zyklus, beschreibt existiert nur in unserer Fantasie, weil in der realen Welt der Kreis niemals vollständig geschlossen wird, weil die Wiederholung des immer Gleichen so wenig möglich ist wie die Vorhersage der Zukunft.

Was die Zukunft bringt, steht heute noch nicht fest und deswegen kann ich es auch nicht wissen. Auch wenn mich nicht alles überraschen wird, was neu auf die Welt kommt. Schließlich habe ich es so ähnlich schon mal gesehen.

Aber ähnlich ist nicht gleich.

Die große Leere
…......
Von den wirklichen Problemen wirklicher Menschen

„Die Althegelianer hatten Alles begriffen, sobald es auf eine Hegelsche logische Kategorie zurückgeführt war. Die Junghegelianer kritisierten Alles, indem sie ihm religiöse Vorstellungen unterschoben oder es für theologisch erklärten. Die Junghegelianer stimmen mit den Althegelianern überein in dem Glauben an die Herrschaft der Religion, der Begriffe, des Allgemeinen in der bestehenden Welt. Nur bekämpfen die Einen die Herrschaft als Usurpation, welche die Andern als legitim feiern.

Da bei diesen Junghegelianern die Vorstellungen, Gedanken, Begriffe, überhaupt die Produkte des von ihnen verselbständigten Bewußtseins für die eigentlichen Fesseln der Menschen gelten, gerade wie sie bei den Althegelianern für die wahren Bande der menschlichen Gesellschaft erklärt werden, so versteht es sich, daß die Junghegelianer auch nur gegen diese Illusionen des Bewußtseins zu kämpfen haben. Da nach ihrer Phantasie die Verhältnisse der Menschen, ihr ganzes Tun und Treiben, ihre Fesseln und Schranken Produkte ihres Bewußtseins sind, so stellen die Junghegelianer konsequenterweise das moralische Postulat an sie, ihr gegenwärtiges Bewußtsein mit dem menschlichen, kritischen oder egoistischen Bewußtsein zu vertauschen und dadurch ihre Schranken zu beseitigen. Diese Forderung, das Bewußtsein zu verändern, läuft auf die Forderung hinaus, das Bestehende anders zu interpretieren, d.h. es vermittelst einer andren Interpretation anzuerkennen. Die junghegelschen Ideologen sind trotz ihrer angeblich »welterschütternden« Phrasen die größten Konservativen. Die jüngsten von ihnen haben den richtigen Ausdruck für ihre Tätigkeit gefunden, wenn sie behaupten, nur gegen »Phrasen« zu kämpfen. Sie vergessen nur, daß sie diesen Phrasen selbst nichts als Phrasen entgegensetzen, und daß sie die wirkliche bestehende Welt keineswegs bekämpfen, wenn sie nur die Phrasen dieser Welt bekämpfen.“

[Marx: Die deutsche Ideologie. Philosophie von Platon bis Nietzsche, S. 49002- 49003 (vgl. MEW Bd. 3, S. 19-20) http://www.digitale-bibliothek.de/band2.htm ]

 

„Diese Forderung, das Bewußtsein zu verändern, läuft auf die Forderung hinaus, das Bestehende anders zu interpretieren, d.h. es vermittelst einer andren Interpretation anzuerkennen.“ heißt es. Und man erkennt unschwer, dass dies der gleiche Gedanke ist, der in den „Thesen zu Feuerbach“ folgendermassen ausgedrückt wird:

„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.“

[Marx: Thesen über Feuerbach. Philosophie von Platon bis Nietzsche, S. 48555

(vgl. MEW Bd. 3, S. 7) http://www.digitale-bibliothek.de/band2.htm ]

 

Daran erkennt man aber auch, dass Adorno Unsinn schreibt, wenn er seine „Negative Dialektik“ so beginnt:

 

„Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward. Das summarische Urteil, sie habe die Welt bloß interpretiert, sei durch Resignation vor der Realität verkrüppelt auch in sich, wird zum Defaitismus der Vernunft, nachdem die Veränderung der Welt mißlang. Sie gewährt keinen Ort, von dem aus Theorie als solche des Anachronistischen, dessen sie nach wie vor verdächtig ist, konkret zu überführen wäre. Vielleicht langte die Interpretation nicht zu, die den praktischen Übergang verhieß. Der Augenblick, an dem die Kritik der Theorie hing, läßt nicht theoretisch sich prolongieren. Praxis, auf unabsehbare Zeit vertagt, ist nicht mehr die Einspruchsinstanz gegen selbstzufriedene Spekulation, sondern meist der Vorwand, unter dem Exekutiven den kritischen Gedanken als eitel abzuwürgen, dessen verändernde Praxis bedürfte. Nachdem Philosophie das Versprechen, sie sei eins mit der Wirklichkeit oder stünde unmittelbar vor deren Herstellung, brach, ist sie genötigt, sich selber rücksichtslos zu kritisieren.“

[Band 6: Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit: Einleitung. Theoder W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 2830 (vgl. GS 6, S. 15)

http://www.digitale-bibliothek.de/band97.htm ]

 

Was Adorno nicht versteht: Es ging bei der Feuerbach-Kritik von Marx und Engels nie um die Verabschiedung von Theorie zugunsten von Praxis.

Es ging darum, sich von ideologischen Nebelbildungen ohne Bezug zum wirklichen Leben wirklicher Menschen zu verabschieden.

Diese Art von Philosophie ist und bleibt überholt.

Im übrigen ist es reichlich vermessen angesichts der riesigen Veränderungen, die die letzten 200 Jahre der Welt gebracht haben, Veränderungen, die ja erkennbar noch lange nicht an ihr Ende gekommen sind, zu postulieren:

„Das summarische Urteil, sie habe die Welt bloß interpretiert, sei durch Resignation vor der Realität verkrüppelt auch in sich, wird zum Defaitismus der Vernunft, nachdem die Veränderung der Welt mißlang.“

In den letzten 200 Jahren hat sich die Welt von Generation zu Generation so grundlegend verändert, dass die Behauptung „die Veränderung der Welt mißlang“ schon näher begründet werden müsste.

Und auch wenn nicht alles zum Besseren geworden ist, ist das Geschwätz von der „guten alten Zeit“ doch reichlich abgeschmackt und ahnungslos, wenn man die Lebensrealität z.B. des Durchschnittsdeutschen von heute mit der z.B. des beginnenden 18 Jahrhunderts vergleicht.

Dass die Welt, wie sie ist, noch weit davon entfernt ist, so zu sein, wie wir es wünschen, ist kein „Mißlingen“ von Veränderung, sondern nur ein Nachweis dafür, dass die grundlegende Veränderung der Welt, die Etablierung der Freundlichkeit, des Mitleidens aber auch Mitfreuens als Prinzip, kein Ein-Generationen-Projekt war und ist.

Jede Generation, die neu antritt, hat das Recht zu glauben, dass sie das Werk der Befreiung vollenden wird.

Keine Generation, die abtritt, und dieses Werk noch nicht vollendet hat, hat das Recht zu resignieren, weil die Befreiung nicht zur Gänze gelang.

Jede Generation hat die Pflicht so viele Schritte zu gehen wie ihr möglich sind.

 

Die Absage, die Marx den Philosophen erteilt, bezieht sich darauf, dass diese Philosophen mit Ideen gegen Ideen kämpfen statt die Realität in den Blick zu nehmen und zu einem vertieften Verständnis dieser Realität bei zu tragen.

 

Die Absage ist auch eine Absage an das Denken, das die Wahrheit im Allgemeinen sucht.

Während aber Adorno bis an sein Lebensende gebraucht hat um zu verstehen, dass es nur die Wahrheit des Besonderen, Einzelnen gibt, dass Abstraktionen bloße Hilfsmittel des Denkens sind, denen keine eigene Wahrheit zu kommt, ist genau dies der Startpunkt für die Beiden.

 

Die Voraussetzungen, mit denen wir beginnen, sind keine willkürlichen, keine Dogmen, es sind wirkliche Voraussetzungen, von denen man nur in der Einbildung abstrahieren kann. Es sind die wirklichen Individuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen, sowohl die vorgefundenen wie die durch ihre eigne Aktion erzeugten. Diese Voraussetzungen sind also auf rein empirischem Wege konstatierbar.

Die erste Voraussetzung aller Menschengeschichte ist natürlich die Existenz lebendiger menschlicher Individuen. Der erste zu konstatierende Tatbestand ist also die körperliche Organisation dieser Individuen und ihr dadurch gegebenes Verhältnis zur übrigen Natur. Wir können hier natürlich weder auf die physische Beschaffenheit der Menschen selbst noch auf die von den Menschen vorgefundenen Naturbedingungen, die geologischen, orohydrographischen, klimatischen und andern Verhältnisse, eingehen. Alle Geschichtschreibung muß von diesen natürlichen Grundlagen und ihrer Modifikation im Lauf der Geschichte durch die Aktion der Menschen ausgehen.

Man kann die Menschen durch das Bewußtsein, durch die Religion, durch was man sonst will, von den Tieren unterscheiden. Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren, ein Schritt, der durch ihre körperliche Organisation bedingt ist. Indem die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, produzieren sie indirekt ihr materielles Leben selbst.

Die Weise, in der die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, hängt zunächst von der Beschaffenheit der vorgefundenen und zu reproduzierenden Lebensmittel selbst ab. Diese Weise der Produktion ist nicht bloß nach der Seite hin zu betrachten, daß sie die Reproduktion der physischen Existenz der Individuen ist. Sie ist vielmehr schon eine bestimmte Art der Tätigkeit dieser Individuen, eine bestimmte Art, ihr Leben zu äußern, eine bestimmte Lebensweise derselben. Wie die Individuen ihr Leben äußern, so sind sie. Was sie sind, fällt also zusammen mit ihrer Produktion, sowohl damit, was sie produzieren, als auch damit, wie sie produzieren. Was die Individuen also sind, das hängt ab von den materiellen Bedingungen ihrer Produktion.

Diese Produktion tritt erst ein mit der Vermehrung der Bevölkerung. Sie setzt selbst wieder einen Verkehr der Individuen untereinander voraus. Die Form dieses Verkehrs ist wieder durch die Produktion bedingt.“

[Marx: Die deutsche Ideologie. Philosophie von Platon bis Nietzsche, S. 49004 – 49006 (vgl. MEW Bd. 3, S. 20-21) http://www.digitale-bibliothek.de/band2.htm ]

 

Es ist ein hoher Anspruch, den sie stellen und dem sie sich stellen: Es soll um die wirklichen Probleme wirklicher Menschen gehen und nicht um irgendwelche „Gespenster“, irgendwelche Ideen, denen diese Menschen unterworfen sind oder sich unterwerfen sollen.

Die wirklichen Probleme wirklicher Menschen beginnen aber mit dem Essen und Trinken und damit wie man sich dieses beschaffen kann. Sie beginnen damit, aber sie enden damit nicht. Wir wollen nicht allein sein, wir wollen geliebt werden, mit allen Facetten, die Liebe haben kann und wir sorgen auch für andere, Kinder und Ältere zumal.

Wie wir uns die Mittel zum täglichen Leben beschaffen ist dabei das zentrale Problem jedes wirklichen Menschen. Und die verschiedenen Formen der gesellschaftlichen Kooperation, aber auch der Über- und Unterordnung, von Herrschaft und Knechtschaft sind prägend für uns und für unsere ganze Existenz.

Vor diesen Realitäten blamiert sich jede hehre Idee.

Reden über den Kommunismus

Wer über die „Deutsche Ideologei“ redet, kann vom Kommunismus nicht schweigen. Es ist die theoretische Begründung eines sehr praktischen Bekenntnisses.
Wer heute über Kommunismus redet, kann und darf aber über Lenin, Stalin und Mao-tse-tung auch nicht schweigen.

Diese Terrorregimes und die Erinnerung an sie, verdecken ganz, dass es eine Zeit gab, in der eine ganze Intellektuellengeneration in Deutschland vom Kommunismus träumte. Und ich rede jetzt nicht vom berühmten Jahr 1968, sondern von den vierziger Jahren des 19.Jahrhunderts als der Traum vom Völkerfrühling noch keinen Maifrösten zum Opfer gefallen war.

Was man sich damals unter Kommunismus vorstellte, versteht wir am deutlichsten, wenn wir uns jene berühmten Zeilen von Heine ins Gedächtnis rufen, in denen es heißt:

Ein neues Lied, ein besseres Lied,

O Freunde, will ich euch dichten!

Wir wollen hier auf Erden schon

Das Himmelreich errichten.

 

Wir wollen auf Erden glücklich sein,

Und wollen nicht mehr darben;

Verschlemmen soll nicht der faule Bauch,

Was fleißige Hände erwarben.

 

Es wächst hienieden Brot genug

Für alle Menschenkinder,

Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust,

Und Zuckererbsen nicht minder.

 

Ja, Zuckererbsen für jedermann,

Sobald die Schoten platzen!

Den Himmel überlassen wir

Den Engeln und den Spatzen.

 

Und wachsen uns Flügel nach dem Tod,

So wollen wir euch besuchen

Dort oben, und wir, wir essen mit euch

Die seligsten Torten und Kuchen.

 

Ein neues Lied, ein besseres Lied!

Es klingt wie Flöten und Geigen!

Das Miserere ist vorbei,

Die Sterbeglocken schweigen.

 

Die Jungfer Europa ist verlobt

Mit dem schönen Geniusse

Der Freiheit, sie liegen einander im Arm,

Sie schwelgen im ersten Kusse.

 

Und fehlt der Pfaffensegen dabei

Die Ehe ist gültig nicht minder

Es leben der Bräutigam und die Braut

Und ihre zahlreichen Kinder

…....

[Heine: Deutschland. Ein Wintermärchen. Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka, S. 76011-76012 (vgl. Heine-WuB Bd. 1, S. 436-437) http://www.digitale-bibliothek.de/band1.htm ]

 

Wie das dann halt so ist mit Kindern. Nicht alle geraten so, dass die Eltern auf sie stolz sein können.

So auch hier.

Und nicht immer ist das neue Lied auch ein besseres Lied.

Ganz besonders neue, hehre Ideen müssen immer erst beweisen, dass sie tatsächlich besser sind.

Der Mythos Proletariat

Auch die Idee eines Proletariats, das sich für die Befreiung der Menschheit opfert, ist eine solche hehre Idee.

Es ist ein zentraler Widerspruch im Denken von Marx und Engels, dass ihre konsequente Absage an alle hehren Ziele und Ideale, ihre konsequente Hinwendung zu den wirklichen Menschen und ihren wirklichen Interessen ausgerechnet die abgeschmackteste Hegelsche Idee, nämlich die vom irdischen Jammertal, von der Geschichte als Golgatha und der Erlösung durch die Geistwerdung, d.h. durch das Aufgehen im Weltgeist, dass ausgerechnet diese Idee in Beider Denken überlebt hat. Leicht säkularisiert zwar, mit dem Proletariat als Erlöser und dem Aufstieg eben diesen Proletariats aus den Niederungen einer unmenschlichen Existenz zu den Höhen des wahren Menschseins.

Wo also die positive Möglichkeit der deutschen Emanzipation?

Antwort: in der Bildung einer Klasse mit radikalen Ketten, einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist, eines Standes, welcher die Auflösung aller Stände ist, einer Sphäre, welche einen universellen Charakter durch ihre universellen Leiden besitzt und kein besondres Recht in Anspruch nimmt, weil kein besondres Unrecht, sondern das Unrecht schlechthin an ihr verübt wird, welche nicht mehr auf einen historischen, sondern nur noch auf den menschlichen Titel provozieren kann, welche in keinem einseitigen Gegensatz zu den Konsequenzen, sondern in einem allseitigen Gegensatz zu den Voraussetzungen des deutschen Staatswesens steht, einer Sphäre endlich, welche sich nicht emanzipieren kann, ohne sich von allen übrigen Sphären der Gesellschaft und damit alle übrigen Sphären der Gesellschaft zu emanzipieren, welche mit einem Wort der völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann. Diese Auflösung der Gesellschaft als ein besonderer Stand ist das Proletariat.

Das Proletariat beginnt erst durch die hereinbrechende industrielle Bewegung für Deutschland zu werden, denn nicht die naturwüchsig entstandne, sondern die künstlich produzierte Armut, nicht die mechanisch durch die Schwere der Gesellschaft niedergedrückte, sondern die aus ihrer akuten Auflösung, vorzugsweise aus der Auflösung des Mittelstandes, hervorgehende Menschenmasse bildet das Proletariat, obgleich allmählich, wie sich von selbst versteht, auch die naturwüchsige Armut und die christlich-germanische Leibeigenschaft in seine Reihen treten.

Wenn das Proletariat die Auflösung der bisherigen Weltordnung verkündet, so spricht es nur das Geheimnis seines eignen Daseins aus, denn es ist die faktische Auflösung dieser Weltordnung. Wenn das Proletariat die Negation des Privateigentums verlangt, so erhebt es nur zum Prinzip der Gesellschaft, was die Gesellschaft zu seinem Prinzip erhoben hat, was in ihm als negatives Resultat der Gesellschaft schon ohne sein Zutun verkörpert ist. Der Proletarier befindet sich dann in bezug auf die werdende Welt in demselben Recht, in welchem der deutsche König in bezug auf die gewordene Welt sich befindet, wenn er das Volk sein Volk wie das Pferd sein Pferd nennt. Der König, indem er das Volk für sein Privateigentum erklärt, spricht es nur aus, daß der Privateigentümer König ist.

Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen, und sobald der Blitz des Gedankens gründlich in diesen naiven Volksboden eingeschlagen ist, wird sich die Emanzipation der Deutschen zu Menschen vollziehn.“

[Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. Philosophie von Platon bis Nietzsche, S.48300-48302

(vgl. MEW Bd. 1, S.390-391)

http://www.digitale-bibliothek.de/band2.htm ]

 

Das ist großartig und faszinierend, Wort für Wort. Ein Glanzstück politischer Prosa. Aber es ist zugleich anmaßend. Warum sollte der angeblich „naive“ Volksboden auf den Blitz, und sei es den Blitz des Gedankens, warten um Früchte zu tragen ?

Die Idee, das auch die Erzieher selbst erzogen werden müssen, fehlt hier noch.

Sie kam wenige Jahre später. Aber da waren diese großartigen und wirkmächtigen Sätze schon in der Welt und taten ihre Wirkung.

 

Das Proletariat als Idee, als Erlöser, hat Generationen von Intellektuellen den Blick auf das wirkliche Proletariat, so wie es leibt, lebt und liebt konsequent verstellt. An seine Stelle ist ein Mythos getreten.

Dabei ist es ja nicht so, dass wir bzw. unsere Vorfahren in den letzten 200 Jahren nicht Teil eines weltweiten revolutionären Prozesses gewesen wären, bei dem bis heute kein Stein auf dem anderen blieb und von dem wir wissen, dass er bei Strafe unseres sonstigen Untergangs noch weiter gehen muss, bis wir mit uns selbst, aber auch mit unserer Mutter Erde versöhnt sind.

In diesem Prozess gibt es allerdings keinen Heiland. Auch keinen Heiland namens „Proletariat“. Wie viel Heil oder Unheil auf unsere Häupter kommt, ist Folge gemeinsamer Tat oder Untat.

Die Idee des Proletariats und seiner „Mission“ wurde in diesem Prozess die zentrale Einfallspforte für idealistisches Gewäsch, für eine Ideologie, die dem konkreten Proletarier seinen konkreten Anspruch auf ein möglicherweise nur kleines Glück im Namen der „großen Sache“ abspricht.

Sie wurde zur Einfallspforte für alle Arten reaktionärer Ideologien.

Wir sollten uns endlich fragen, welchen Interessen diese Ideologien tatsächlich gedient haben. Es fällt jedenfalls auf, dass die jeweiligen Ideologen, ob sie nun Kautsky, Lenin, Mao oder sonst wie hießen, immer der Meinung waren, dass das arme Proletariat ohne ihre gnädige Vermittlung der rechten Idee sein Heil verfehlen würde. D.h. es ging immer um das Gegenteil von „können wir nur selber tun !“.

Zunächst soll uns aber interessieren, wie es zu dieser Überhöhung kommen konnte.

Auch wer sagt, dass die wirklichen Menschen und ihr wirkliches Leben im Zentrum stehen sollen, verkündet erst mal eine Idee.

Es ist gerade das Besondere an unserem Kopf, dass er es uns ermöglicht die Welt zu doppeln, zu verdreifachen oder noch beliebig mehr zu vervielfachen. Dieses mächtige Werkzeug namens Gehirn bietet uns gerade wegen seiner Mächtigkeit immer die Möglichkeit der Realität zu entfliehen.

Die absolute richtige Forderung die Realität nicht mit unseren Träumen und Ideen zu verwechseln, wäre überflüssig, wenn diese Verwechslungsgefahr nicht ein ständiger Begleiter unseres Denkens wäre.

Dieser Gefahr können wir nur vollständig entgehen, wenn wir das Denken einstellen.

Deswegen ist die Forderung das immer das wirkliche Leben mit seinen wirklichen Menschen und ihren wirklichen Problemen in den Blick zu nehmen, auch eine ständige Herausforderung, eine täglich neu zu lösende Aufgabe und keine selbst zufriedene Gewissheit.

Zu der Zeit als Marx und Engels ihre „Deutsche Ideologie“ schrieben, hatte nur einer von beiden, nämlich Engels in Manchester und Wuppertal, überhaupt praktische, empirische Erfahrungen mit der Arbeiterschaft sammeln können.

Für Marx existierte das Proletariat einzig als Idee.

Ja, für die ganze damalige kommunistische Bewegung in Deutschland existierte das Proletariat nur als Idee:

„Hier in Elberfeld geschehen Wunderdinge. Wir haben gestern im größten Saale und ersten Gasthof der Stadt unsere dritte kommunistische Versammlung abgehalten. Die erste 40, die zweite 130, die dritte wenigstens 200 Menschen stark. Ganz Elberfeld und Barmen, von der Geldaristokratie bis zur epicerie (Krämerschaft W.A.), nur das Proletariat ausgeschlossen, war vertreten. Heß hielt einen Vortrag. Gedichte von Müller, Püttmann und Stücke aus Shelley wurden gelesen, ebenso die Artikel über die bestehenden Kommunistenkolonien im Bürgerbuch (Eine Zeitschrift des „wahren Sozialismus“ W.A.). Das Ding zieht ungeheuer. Man spricht von nichts als vom Kommunismus, und jeden Tag fallen uns neue Anhänger zu. Der Wuppertaler Kommunismus ist une verite, ja schon beinah schon eine Macht. Was das für ein günstiger Boden hier ist, davon hast Du keine Vorstellung. Das dümmste, indolenteste, philisterhafteste Volk, das sich für nichts in der Welt interessiert hat, fängt an, beinah zu schwärmen für den Kommunismus.“

(Friedrich Engels an Karl Marx in Brüssel, 22.2.1845. Karl Marx/Friedrich Engels, Briefwechsel 1. Band 1844-1853, Berlin 1949, Seite 19)

Die Existenz einer Bewegung zur Befreiung des Proletariats ohne Teilnahme des real existierenden Proletariats ist das eine Problem.

Das andere Problem liegt darin, dass Marx und Engels zwar Hegel und die Zerfallsprodukte seiner Philosophie konsequent kritisieren, dass sie aber in einem ganz entscheidenden Punkt Hegelianer bleiben:

Hegel hat die Dialektik zurück geholt in die Philosophie und sie über das bloße logische Denken triumphieren lassen.

Das ist seine große Leistung.

Sein entscheidender Irrtum war aber, an die Stelle der Logik eine dialektische Logik setzen zu wollen.

Die berühmte Triade aus These – Antithese – Synthese soll diese „dialektische Logik“ beschreiben.

Logisch denken heißt aber folgern, Kausalketten bilden.

Dialektisch denken heißt dagegen die Brüche zu erkennen. Dort wo Gegensätze die je eigenen eigensinnigen Logiken außer Kraft setzen.

Wenn unsere bürgerliche Gesellschaft vom Gegensatz zwischen denen, die arbeiten müssen um zu leben und jenen, die dank der Arbeit anderer reich werden, geprägt ist und wenn sie geprägt ist vom Gegensatz zwischen privater Aneignung und dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion, dann folgt aus der bloßen Existenz dieser Gegensätze nur, dass hier die gesellschaftlichen Bruchlinien verlaufen.

Wie und auf welchem Weg die Gesellschaft, d.h. die Gemeinschaft der Menschen dieser Gesellschaft, diese Probleme lösen wird, darüber können keine Aussagen gemacht werden. Noch nicht mal ob die Menschen diese Probleme lösen werden, lösen können oder ob sie sich wechselseitig blockieren, ist von vornherein klar.

Generell gilt: Die Existenz eines Widerspruchs in der Realität zeigt auf zu lösende Probleme. Aber Lösungen können auf Grund abstrakter Widerspruchsbetrachtungen niemals gefunden werden.

Manches, was Marx und Engels über das Proletariat oder die Bourgeoisie schreiben ist sehr klug und empirisch begründet, aber manches ist auch einzig dem Hegelschen Triadedenken geschuldet.

Gerade das Proletariat als Antithese zur kapitalistischen Gesellschaft hat dabei als Idee vor allem jene Intellektuellen begeistert, die aus Ländern kamen, in denen die Realität gewerkschaftlicher Kämpfe weitgehend unbekannt war, weil die realen Gesellschaften in denen sie lebten, weder ein entwickeltes Bürgertum noch als seinen Gegensatz ein selbstbewusstes Proletariat kannten.

Eng verknüpft mit dieser Ahnungslosigkeit war auch ein gewisser Abscheu gegen das Klein-Klein, das nun mal die realen Fortschritte sowohl in Tarifauseinandersetzungen als auch in der täglichen betrieblichen Interessenvertretung prägt.

Die Vertiefung in diese Kämpfe wird gern als „Ökonomismus“ abgetan. Dabei resultieren gerade aus diesen „kleinen“ alltäglichen Auseinandersetzungen die großen Veränderungen.

Aber es ist oft nicht nur Ahnungslosigkeit, es ist auch Angst. Angst davor, dass sich eben dieses Proletariat mit seiner Bourgeoisie versöhnt und damit die Perspektive einer Revolution für immer entschwindet.

In seinem „Journal“, seinem Tagebuch, erzählt Brecht oft von den „Frankfurtisten“, mit denen er in Santa Monica, in Kalifornien, Tür an Tür im Exil lebte.

Unter dem 16.6.1942 berichtet er:

„Bei Adorno beginnt das Frankfurter Institut ein Seminar. Adorno, Horkheimer, Nürnberg, Eisler, Ludwig und Herbert Marcuse, Pollock. Horkheimer zitiert, in einer Art von alarm, einen Ausspruch des Vizepräsidenten Wallace, nach diesem Krieg müsse jedes Kind der Welt ein pint Milch täglich bekommen. Er bekam nahezu keine publicity für seinen slogan, der Krieg sei eine Revolution der Völker und es komme das Jahrhundert des common man. Aber das Institut fragt sich schon, ob da nicht eine gigantische Gefahr für die Kultur heraufzieht, wenn der Kapitalismus soviel Milch (nicht nur der frommen Denkungsart) verzapft (was er nach Pollock, des Ökonomen Fachmeinung durchaus kann). Ein einziger Blick zeigt dem Institut, daß Wohlstand allein noch keine Kultur erzeugt, denn herrscht hier nicht Wohlstand und gibt es hier Kultur ?“

Wie heisst es dazu in der „Dreigroschenoper“ und nach Francois Villon:

„Oft preist man uns das Leben großer Geister...“

Die Sorge, dass das Proletariat, wenn es denn in Wohlstand angenehm lebt, mit dem Kapitalismus einverstanden sein könnte, kommt meist von Menschen, die selbst sehr angenehm leben.

Von der gleichen Furcht getrieben war auch die reichlich sophistischen Diskussionen über „antagonistische und nicht-antagonistische Widersprüche“. In der BRD der 70iger auch unter der Rubrik „systemsprengende oder systemstabilisierende Reformen“ geführt.

Dahinter verbergen sich einige grundlegende Irrtümer:

  1. 10Bedeutet die Existenz von Widersprüchen immer, dass hier sich im Bereich einer konkreten Gesellschaft unversöhnte gegensätzliche Interessen gegenüber stehen.
    Wenn wir nicht nur an menschliche Geschichte, sondern auch an Naturgeschichte denken, so stoßen an den Widerspruchskanten unterschiedliche Kräfte und Wirkprinzipien in aller Härte zusammen.

  2. 11Je härter ein Widerspruch im Raum steht, desto größer das Bedürfnis nach Versöhnung.
    Und je größer das Bedürfnis nach Versöhnung, desto mehr religiöse oder sonst wie ideologische Nebelbildung findet statt, bei der eine imaginäre Versöhnung vorgetäuscht wird. Dieser Wunsch ist immer zuerst der Wunsch derer die leiden, das Moment der Manipulation ist erst davon abgeleitet. D.h. das Volk wünscht sich den Opiumrausch und andere Räusche, weil es sonst nichts hat und das Leben kurz ist.
    Der berechtigte Wunsch nach einem bisschen Glück kann natürlich missbraucht werden, aber er darf auch nicht denunziert werden.
    Das kleine Glück steht dem großen Glück nicht im Weg. Im Gegenteil: Die Sehnsucht nach einem anderen Leben findet oft gerade in religiösen oder anderen Ideen die Form in denen sie Jahrhunderte der Trostlosigkeit übersteht. Sie ist gewissermaßen der Samen in der Wüste, der auf den Regen wartet.

  3. 12Jeder reale Schritt vorwärts etabliert ein Stück einer neuen Ordnung, eine neue Logik.
    Diese neue Logik gewinnt dadurch an Kraft. Und nur durch diese kontinuierliche, manchmal sehr kleinteilige Kraftzufuhr kann sie letztendlich dominant werden.
    Natürlich führt das auch zur Versöhnung, aber wirkliche Versöhnung ist nur möglich, wenn jede Seite ihrer Natur gemäß berücksichtigt wird.
    D.h. aber, die Widersprüche wollen tatsächlich gelöst werden. Daran führt kein Weg vorbei. Scheinlösungen garantieren nur einen vorübergehenden Scheinfrieden.

Die Logik einer feudalen Ordnung beruht auf persönlicher Abhängigkeit. Eine Herrenkaste schlägt und verträgt sich untereinander und ordnet sich eine ganze Pyramide von Knechten unter. Diesen Knechten dienen dann treue Mägde.

In einer kapitalistischen Gesellschaft tritt an die Stelle der persönlichen Abhängigkeit die Abhängigkeit vom Geldbeutel bzw.Konto.

Chinesische Wanderarbeiter machen sich auch deswegen auf den Weg in die Megastädte am Perlfluss, weil sie aus der Abhängigkeit örtlicher Mandarine, die sich ironischer Weise auch noch „Parteisekretäre der kommunistischen Partei Chinas“ nennen, fliehen.
Sie geraten dann in eine gefährliche neue Welt, in der neue Abhängigkeiten lauern. Wenn alles zur Sache, zur Ware wird, kann auch der Mensch eine solche Sache werden.
Die ungezügelte neue Welt der Geldherrschaft zeigt dann ihr hässlichstes Gesicht.

Aber die Lösung liegt eben nicht in der Rückkehr zur persönlichen Abhängigkeit, sondern in der Zügelung der Marktlogik und ihrer Unterordnung unter die Interessen der Mehrheit. Und so muss die persönliche Freiheit zur ersten Schranke der Freiheit des Marktes werden. Deswegen das Verbot der Sklaverei und deswegen beginnt jede Art von Klassenkampf mit dem Recht auf Feierabend.

Generell geht die Entwicklung weg von persönlichen Beziehungen und Abhängigkeiten hin zu sachlogisch vermittelten Beziehungen und Abhängigkeiten. Die erste und elementarste sachlogische Beziehung ist die über den Markt. Sie proklamiert erstmals alle Marktteilnehmer als gleich und frei.

Da diese Freiheit und Gleichheit im Angesicht des Marktes aber oft nur eine scheinbare ist, wird diese Logik überformt und überlagert durch andere Formen sachlogischer Beziehungen.

Nach den Regeln des Marktes ist jeder Arbeitskraftbesitzer gleichberechtigter und freier Marktteilnehmer. Da er oder sie aber faktisch von ihrem/seinem Lohn leben muss, sind sie beliebig erpressbar und damit verlieren sie jede Freiheit. Erst der Zusammenschluss zum Kollektiv überwindet dieses tatsächliche Ungleichgewicht, diese tatsächliche Unfreiheit. Im Zusammenspiel von gewerkschaftlicher Tarifmacht, die sich im Arbeitskampf bewähren muss und politischer Einflussnahme mittels des Stimmzettels, entstehen gesetzliche und vertragliche Regelungen, die die Logik des freien Arbeitsmarktes beschränken bzw. ersetzen.

Nach und nach entsteht so ein ganzes System von Regeln, Regeln für die Arbeitsbeziehungen, Regeln für die Vermietung von Wohnraum, Regeln für den Schutz der Natur und schließlich als letzte Stufe: Regeln zur Gestaltung unseres Stoffwechsels mit der Natur.

Jedes dieser Regelsysteme stellt einen mehr oder weniger großen Eingriff in die Freiheit des Marktes dar. Das ist solange kein Schaden und darf nicht mit feudaler Willkür verwechselt werden, solange eine Sachlogik durch eine andere Sachlogik ergänzt und ersetzt wird.

In so fern darf man Klientelstaaten, in denen persönliche Abhängigkeiten weiter existieren und von der Marktlogik unabhängig sind, nicht mit Sozialstaaten verwechseln, in denen die Logik des Marktes mit guten, sachlichen Gründen außer Kraft gesetzt wird.

Der Feudalismus maskiert sich heutzutage gerne als besondere Form des Sozialismus.

Das Brandzeichen, das in einer feudalen Gesellschaft jeder auf dem Arsch trägt und auf dem vermerkt ist „Ich gehöre mit Haut und Haaren dem ….“ verrät aber den wahren Charakter einer solchen Gesellschaft.

Auch wenn das Brandzeichen das Brandzeichen einer Partei oder sonstigen „ehrenwerten Gesellschaft“ ist, bleibt es ein Brandmal der Unfreiheit.

Das Konzept der zwei Revolutionen

„Die Bourgeoisie hat in der Geschichte eine höchst revolutionäre Rolle gespielt.

Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose »bare Zahlung«. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt.

Die Bourgeoisie hat alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt.

Die Bourgeoisie hat dem Familienverhältnis seinen rührend-sentimentalen Schleier abgerissen und es auf ein reines Geldverhältnis zurückgeführt.

Die Bourgeoisie hat enthüllt, wie die brutale Kraftäußerung, die die Reaktion so sehr am Mittelalter bewundert, in der trägsten Bärenhäuterei ihre passende Ergänzung fand. Erst sie hat bewiesen, was die Tätigkeit der Menschen zustande bringen kann. Sie hat ganz andere Wunderwerke vollbracht als ägyptische Pyramiden, römische Wasserleitungen und gotische Kathedralen, sie hat ganz andere Züge ausgeführt als Völkerwanderungen und Kreuzzüge.

Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war dagegen die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen. Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.

Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen.

Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet. Sie werden verdrängt durch neue Industrien, deren Einführung eine Lebensfrage für alle zivilisierten Nationen wird, durch Industrien, die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern den entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten und deren Fabrikate nicht nur im Lande selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht werden. An die Stelle der alten, durch Landeserzeugnisse befriedigten Bedürfnisse treten neue, welche die Produkte der entferntesten Länder und Klimate zu ihrer Befriedigung erheischen. An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander. Und wie in der materiellen, so auch in der geistigen Produktion. Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut. Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr unmöglich, und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur.

Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhaß der Barbaren zur Kapitulation zwingt. Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehn wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d.h. Bourgeois zu werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde.

[Marx: Manifest der kommunistischen Partei. Philosophie von Platon bis Nietzsche, S. 50062 -50066 (vgl. MEW Bd. 4, S. 464-466)

http://www.digitale-bibliothek.de/band2.htm ]

 

„ ..sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde.“ Und diese Welt ist die notwendige Voraussetzung dafür, dass danach folgende revolutionäre Veränderungen schließlich eine Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung hervorbringen.

Eine antikapitalistische Einheitsfront, bei der sich russische Bürokraten, chinesische Mandarine, deutscher Adel des Bodens und des Geistes und andere Repräsentanten feudaler Vergangenheit mit den Arbeitern gegen die Krämerseelen (wobei das Adjektiv „jüdisch“ nie weit ist) verbünden, war nie ihr Ziel.

Im Gegenteil: Dieses seltsame Klassenbündnis war in ihren Augen die Verkörperung der Konterrevolution.

Arthur Rosenberg, ehemaliger Reichstagsabgeordneter der KPD und Historiker, der u.a. eine der interessantesten Geschichten der Novemberrevolution von 1918 geschrieben hat, schrieb 1937 im amerikanischen Exil eine weitgehend unbekanntes Buch mit dem Titel „Demokratie und Sozialismus“.

Dort schildert er die Geschichte der demokratischen Partei und grenzt sie gegen der Liberalismus ab:

Während der Liberalismus die Freiheit des Eigentums verteidigt, ist ihm der demokratische Rechtsstaat Mittel zum Zweck.

Seine Legitimation bezieht der demokratische Rechtsstaat in den Augen der Liberalen in erster Linie daraus, dass in ihm die Eigentumsfreiheit garantiert ist.

Im Gegensatz dazu steht bei der demokratischen Partei die Volkssouveränität an erster Stelle. Der Wille des Volkes zählt. Und wenn dieses Volk in die „geheiligten“ Eigentumsrechte der Privilegierten eingreift, hat es dieses Recht, weil es der Souverän ist.

Während die Liberalen sehr großen Wert auf Gewaltenteilung legen, damit niemand zu mächtig wird und ihre Geschäfte stört, sind Demokraten immer in der Gefahr aus der Idee der Volkssouveränität heraus die Idee eines starken Staates zu entwickeln.

Dagegen braucht es dann den Anarchismus als Antidot.

Nach Rosenberg standen Marx und Engels immer am linken Rand der demokratischen Partei. Sie waren Vertreter der „sozialen Demokratie“.

Was heute aber schwer zu erkennen ist: Die Hinweise und Anweisungen z.B. im „Manifest der kommunistischen Partei“ waren keine überzeitlichen sprich metaphysischen Wahrheiten, sondern „Realpolitik“.

Revolutionäre Realpolitik.

1847 formulierte Handlungsanweisungen dafür, wie sich die kommunistische Partei in den zu erwartenden revolutionären Kämpfen verhalten sollte.

Genaue diese Fähigkeit die große Perspektive mit den allernächsten Schritten zu verknüpfen, ging der späteren Sozialdemokratie verloren.

Die unseelige Trennung in Lordsiegelbewahrer der reinen Lehre und prinzipienlose Pragmatiker hat sich bis heute gehalten.

Ein Ergebnis dieser Aufspaltung war auch, dass sich die Lehre vom Sozialismus in ein religiöses Bekenntnis verwandelte.

Durch diese Verwandlung wurde der Sozialismus zur Ideologie und diese Ideologie konnte, wie immer, ganz anderen Interessen dienen als denen, denen sie vorgeblich dienen sollte.

Rosa Luxemburgs Ausruf „Wir sind wieder bei Marx !“ auf dem Gründungskongreß der KPD war daher ein tragischer Irrtum.

Der Kommunismus, so wie er sich im 20 Jahrhundert etablierte, hatte nicht mehr das primäre Ziel den Kapitalismus zu überwinden. Es ging vielmehr darum ihn in Ländern wie Rußland oder China gar nicht erst entstehen zu lassen.

Und hinter der sozialistischen Maske, der Maske des „Arbeiterführers“, verbargen sich nur die alten Herrenschichten, die vor allem gegen ihren ansonsten sicheren Untergang kämpften.

Ein Untergang, der weniger durch Panzer und Kanonen herbeigeführt wird als durch die beständige Maulwurfstätigkeit von Handel und Wandel.

Und so stehen wir am Beginn des 21.Jahrhunderts vor der durch und durch paradoxen Situation, dass eine ganze Reihe untergegangener oder im Untergehen befindlicher feudaler Regimes für Sozialismus bzw. Kommunismus stehen.

In Syrien oder Nordkorea einschließlich Vererbung der Führungsposition.

Durch diesen Maskenball gerieten auch die höchst realen, über den Kapitalismus hinaus weisenden Errungenschaften, die in der Diskussion gerne unter den Begriff „Sozialstaat“ subsummiert werden, in Gefahr und ins Rutschen.

Das wirkliche Proletariat mit seinen wirklichen Problemen hat daher gut daran getan dieser Art von „Sozialismus/Kommunismus“ konsequent den Rücken zu kehren. Und der Untergang des Sowjetreiches war daher für seinen Kampf ein Segen.

Allerdings erwiesen sich noch im Untergang die Protagonisten dieses „realen Sozialismus“ als die wirklichen Feinde der arbeitenden Menschen.

Die Einbeziehung der chinesischen Bevölkerung in die kapitalistische Welt hat zusammen mit der Computerisierung die Konkurrenz unter der arbeitenden Bevölkerung weltweit maximal verschärft und das Proletariat in den bisher privilegierten entwickelten Ländern muss nun lernen, dass Solidarität mit den Armen und Schwachen dieser Welt auch im Interesse des eigenen Lohns, der eigenen Existenzbedingungen, unverzichtbar ist.

So vollendeten ausgerechnet die chinesischen Kommunisten den kapitalistischen Weltmarkt und wenn das chinesische Proletariat aus seiner gedrückten und unterdrückten Stellung heraus kommen soll, dann muss es auch in China die elementaren Rechte der bürgerlichen Revolution verwirklichen:

Rede-, Diskussions- und Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, Koalitionsrecht, das Recht beliebige Parteien zu bilden, freie, gleiche und geheime Wahlen.

Mit Hilfe dieser Rechte werden auch die chinesischen Arbeiter und Arbeiterinnen, wie überall auf der Welt, ihren Pariastatus überwinden können.

Das ist der Sinn, der in der „Deutschen Ideologie“ verkündeten Idee von der proletarischen Revolution als Vollenderin der bürgerlichen:

Das Proletariat, das Volk, herrscht mittels des Wahlzettels.

Durch die Etablierung demokratischer Verhältnisse werden in der Tat die Massen zur Herrschaft gebracht.

Natürlich versuchen zunächst die herrschenden und die Wirtschaft kontrollierenden Eliten durch die Kontrolle über die ideologische Apparate, durch Einflussnahme im politischen Raum, bis hin zu direkter Korruption, ihre Herrschaft zu erhalten und demokratische Wahlen zum bloßen Spektakel verkommen zu lassen, natürlich leben die Spuren einer 5000jährigen Unterdrückung in unseren Gehirnen und Körpern weiter.

Vor allem die Unterdrückung der Frauen durch ihre Männer und die dazu gehörige devote, unterwürfige Haltung der Frauen ist uns gewissermaßen fast zur zweiten Natur geworden.

Die Brutalität und Rücksichtslosigkeit, die uns geformt hat, prägt auch unser Verhältnis zur Natur und zu jeglicher Kreatur in ihr.

Aber diese Mühen des Wandels sind kein Argument gegen den Wandel.

Sie zeigen nur, wie schwierig es ist und welche Anstrengung es kostet die über Jahrtausende gewachsene Sklavenmentalität hinter uns zu lassen und Freiheit nicht bloß zu postulieren, sondern tatsächlich zu leben.

Unsere Welt ändert sich jeden Tag und es liegt allein an uns, dafür zu sorgen, dass es eine Veränderung zum Besseren wird.

Die bürgerliche Revolution schafft mit der Demokratie die Voraussetzungen dafür, dass die Gesellschaft im Interesse des Volkes, der großen Mehrheit, verändert werden kann.

Diese Möglichkeiten dann auch wirklich zu nutzen, das ist der revolutionäre Prozess in dem wir uns gegenwärtig befinden.

Zu diesem Prozess gehört auch, dass die parlamentarische Form der Demokratie durch vielfältige Formen direkter Demokratie ergänzt werden muss.

Die Hoffnung auf den großen Knall, der alles ändert, ist vordemokratisch. Die Erwartung, dass Veränderungen nur im Schneckentempo vor sich gehen, ahnungslos. Demokratische Prozesse können langwierig und mühsam sein, aber wenn eine Mehrheit Veränderungen will, werden sich die Lokomotiven der Geschichte in Bewegung setzen und ein Land, einen Kontinent, die ganze Welt verändern. Manchmal in wenigen Tagen.

„Proletarier und Edelinge“

Herrmann Hesse empfand jene Szene im Haus Lebedew als besonders peinlich.

Jene Szene, da einige „Revolutionäre“ zum inzwischen reichen Myschkin kommen um zu schnorren. Damit ihre Schnorrerei den rechten Drive bekommt, verfassen sie einen „kritischen“ Artikel in einer „kritischen“ Zeitung.

„Revolutionäre“ und „Etablishment“ geraten aneinander und Myschkin sitzt am Schluss mit seinem Bedürfnis alle zu versöhnen zwischen allen Stühlen.

Wie schon Hesse bemerkte, sind sich „Etablishment“ und „Revolutionäre“ erstaunlich ähnlich, bis auf einen Unterschied: Die einen haben schon die Pöstschen auf die die anderen schielen. Beide sind aus dem selben Holz.

Das Bild vom „Reaktionär“ Dostojewski speist sich nicht zuletzt aus seiner wenig schmeichelhaften Schilderung der „Revolutionäre“.

Die Reaktionäre, die ihn deswegen gerne fest in ihre Arme schließen, vergessen allerdings gerne, dass auch sie nicht gut aussehen:

 

„Da habt ihr!

Von hier aus ergießt sich schon bald in die Gassen
Mensch für Mensch euer schwabbelndes Fett,
doch ich, der Verschwender von Worten unfassbar,
hab aus Schatullen den Vers freigesetzt.

Bei ihnen, mein Herr, hängt im Bart noch ein Fuder
ungegessener Kohlreste, ölig und kraus;
und sie, meine Dame, sind dick eingepudert,
ihre Austern, sie quelln aus der Schale heraus.

Auf dreckigen Sohlen, mit und ohne Galoschen,
trampelt ihr Schmetterlings Farbenpracht aus.
Die Menge vertiert, schon kommt sie gekrochen,
die Beinchen gesträubt, hundertköpfig, als Laus.

Und wenn ich, ein Hunne, euch heute zur Last war,
grobschlächtig und bitter,
dann schert mich das nicht,
denn ich, der Verschwender von Worten unfassbar,
spucke euch lachend ins Fratzengesicht.

(Majakowski 1913 übersetzt von Eric Boerner)

Wir wollen nun das „revolutionäre Manifest“ in seiner ganzen Länge und Verworrenheit genießen und analysieren:

 

»Proletarier und Edelinge. Eine Episode aus dem täglichen und alltäglichen Räuberwesen. Fortschritt! Reform! Gerechtigkeit!

Seltsame Dinge kommen in unserem sogenannten heiligen Rußland vor, im Zeitalter der Reformen und der unternehmungslustigen Aktiengesellschaften, in dem Zeitalter des Nationalgefühls und der jährlichen Ausfuhr Hunderter von Millionen ins Ausland, in dem Zeitalter der Beschützung des Handwerks und der Lähmung der arbeitenden Hände und so weiter und so weiter; man kann nicht alles aufzählen, meine Herren, daher kommen wir sofort zur Sache. Es hat sich eine sonderbare Geschichte mit einem der edlen Sprößlinge unseres ehemaligen Gutsherrnstandes (de profundis!) zugetragen, mit einem jener Sprößlinge, deren Großväter ihr Vermögen beim Roulette verspielten, und deren Väter sich genötigt sahen, als Fähnriche und Leutnants zu dienen, und gewöhnlich im Anklagezustand wegen irgendeines harmlosen Defizits bei den Staatsgeldern starben, und die dann selbst, wie der Held unserer Erzählung, entweder als Idioten aufwachsen oder sogar in Kriminalprozesse hineingeraten (bei denen sie übrigens zum Zweck ihrer Besserung und zur Erbauung anderer von den Geschworenen freigesprochen zu werden pflegen) oder endlich zu guter Letzt eine jener Geschichten loslassen, die das Publikum in Erstaunen versetzen und unserem an sich schon hinreichend schmählichen Zeitalter zur Schande gereichen. Unser junger Edeling kehrte vor einem halben Jahr, mit ausländischen Gamaschen angetan und in einem ungefütterten Mäntelchen vor Kälte zitternd, im Winter nach Rußland aus der Schweiz zurück, wo er eine Kur gegen seine Idiotie durchgemacht hatte (sic!). Man muß bekennen, daß er Glück hatte; denn (wir reden noch gar nicht von seiner interessanten Krankheit, von der er sich in der Schweiz kurieren ließ; aber ist denn Idiotie überhaupt heilbar? Stellen Sie sich das nur einmal vor?!!) er konnte an seiner Person die Wahrheit des russischen Sprichworts beweisen: ›Eine gewisse Sorte von Menschen hat immer Glück!‹ Urteilen Sie selbst: nach dem Tod seines Vaters, der, wie es heißt, als Leutnant in der Untersuchungshaft gestorben war, weil er im Kartenspiel die ganzen Kompaniegelder verloren oder vielleicht auch einem Untergebenen eine übermäßige Portion Rutenhiebe hatte verabreichen lassen (vergessen Sie nicht, meine Herren, das war in der alten Zeit), wurde unser Baron, der als Säugling zurückgeblieben war, aus Barmherzigkeit von einem sehr reichen russischen Gutsbesitzer aufgezogen. Dieser russische Gutsbesitzer (nennen wir ihn P.!) besaß in jener alten goldenen Zeit viertausend leibeigene Seelen (leibeigene Seelen! verstehen Sie diesen Ausdruck, meine Herren? Ich verstehe ihn nicht. Man muß erst das Konversationslexikon befragen; ›nicht lang ist's her, und doch ist's kaum zu glauben‹ und war offenbar einer jener russischen Nichtstuer und Tagediebe, die ihr müßiges Leben im Ausland verbrachten, im Sommer in den Badeorten und im Winter im Pariser Château des fleurs, wo sie seinerzeit enorme Summen zurückließen. Man kann mit Bestimmtheit sagen, daß mindestens ein Drittel des gesamten in der früheren Zeit der Leibeigenschaft gezahlten Pachtzinses in die Tasche des Besitzers des Pariser Château des fleurs floß (war das ein glücklicher Mensch!). Wie dem auch gewesen sein mag, jedenfalls ließ der sorglose P. dem verwaisten jungen Herrn eine fürstliche Erziehung zuteil werden und hielt ihm Erzieher und Gouvernanten (ohne Zweifel hübsche), die er bei Gelegenheit selbst aus Paris mitbrachte. Aber der junge Edeling, der Letzte seines Geschlechtes, war ein Idiot. Die Gouvernanten aus dem Château des fleurs konnten ihm nicht helfen, und bis zum zwanzigsten Lebensjahr vermochte ihr Zögling keine einzige Sprache zu sprechen, nicht einmal die russische. Letzteres ist übrigens verzeihlich. Endlich bildete sich in P.s russischem Gutsherrnkopf die Vorstellung, man könne einem Idioten in der Schweiz Verstand beibringen lassen, übrigens eine von seinem Standpunkt aus logische Vorstellung: so ein Müßiggänger und Proprietär konnte sich sehr wohl denken, daß man für Geld sogar Verstand auf dem Markt kaufen könne, ganz besonders in der Schweiz. Fünf Jahre lang befand sich nun der edle Sprößling zur Kur bei einem bekannten Professor in der Schweiz; diese Kur kostete viele tausend Rubel: der Idiot wurde dadurch natürlich nicht klug, aber doch, wie man sagt, einem Menschen wenigstens so halbwegs ähnlich.“

 

[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 20102 – 201??

(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 4, S. 134-142)

http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]

 

Hier wird u.a. auf die sogenannte „Bauernbefreiung“ von 1861 angespielt, die auch gerne mit der preußischen Stein-Hardenbergschen Reform verglichen wird.

Allerdings verstellen solche Analogien mehr als sie erklären.

Wobei der Text sowieso eine eigenartige Ambivalenz ausstrahlt. Man weiss nicht so recht was er will und was er beklagt. Stören sich die Autoren daran, dass inzwischen das Geld regiert und sehnen sich nach den „guten alten Zeiten“ als an Stelle des Geldes die Knute regierte oder freuen sie sich im Gegenteil darüber, dass die Gutsbesitzerkaste ihre privilegierte Stellung verloren hat ?

Gleichzeitig beklagen sie, dass die Abhängigkeit vom Staat zugenommen hat und dass die Zahl derer, die an die Futterkrippe drängen soviel größer ist, als die Futterstellen. Und nun kommt auch noch dieser Idiot und erbt einfach.

Um diese Verworrenheit zu verstehen, müssen wir tiefer in die russische Geschichte eintauchen:

 

Rußland wird u.a. von Marx gerne als „halb-asiatische Despotie“ charakterisiert.

Was ist damit gemeint ?

Als sich nach der neolithischen Revolution der Ackerbau als vorherrschende Wirtschaftsform durchsetzte, geschah dies überwiegend in der Form dass Bauern und Bäuerinnen in ihren Dörfern miteinander kooperierten.

Dabei bildete sich sowohl Gemeindeeigentum als auch privates, persönliches Eigentum.
Vor allem die Schwierigkeiten bei der Bewirtschaftung von Bachtälern und schließlich sogar großer Flusstäler erforderten großräumigere Kooperationen.

Die Wirtschaftsforscherin und Nobelpreisträgerin Ostrom hat eine solche Kooperation zur Flussregulierung und Bewässerungssteuerung auf den Phillipinen untersucht.

Belegstelle
Natürlich wurden diese Kooperationen umso größer je größer die Flüsse wurden, weswegen am Beginn dieser Entwicklung auch erstmal kleinere und mittlere Flüsse urbar gemacht wurden.
Die außerordentlich hohe Produktivität dieser Bewässerungslandwirtschaft lohnte allerdings auch außergewöhnliche Mühe und erlaubte einen Teil der Bevölkerung für diese kooperative Tätigkeit, vor allem für die Organisation dieser Tätigkeit, von normaler Arbeit frei zu stellen.

Diese großen Kooperationen waren der Ursprung dessen, was man später „Staat“ nannte. Und so lange es um die Installation und Unterhaltung eines Bewässerungssystems ging, das allen zu höheren Erträgen verhalf, aber auch um gemeinsame Vorratswirtschaft, die über Ernteausfälle hinweghalf, war es überhaupt keine Frage, dass die Bauerngemeinden einen Teil ihres Mehrproduktes freiwillig an den „Palast“ weitergaben. Zumal durch die sehr hohe Produktivität frühe Überflussgesellschaften entstanden.

Im Zentrum dieses Überflusses stand aber der „Palast“. Und so wurde er zu einem Ziel von Begehrlichkeiten. Sowohl von innen als auch von außen drängten daher immer mehr Menschen zu diesem „Palast“, die sich gerne an gut gedeckte Tische setzen ohne etwas dafür zu leisten, dass die Scheuern voll sind.
Am Ende wurden diese Gesellschaften zum Opfer fremder Räuber. Da aber die Basis des großen Wohlstands der Unterhalt des Allmendegutes, des Common, z.B. das empfindliche und ständig reparaturbedürftige Bewässerungssystem war, verfiel der Wohlstand in dem Maße, in dem der „Palast“ vergaß, welchen Umständen er seinen Reichtum verdankte. Nun konnten neue Räuber zu „Befreiern“ werden, in dem sie nicht nur den Palast von zu vielen Essern befreiten, sondern auch die alte Ordnung und vor allem aber die Bewässerungssysteme wieder instand setzten. Damit beginnt dann immer eine neue Dynastie, die am Ende an ihrer eigenen Verkommenheit zu Grunde geht.

So wurde aus der ursprünglichen Kooperation ein Staat und aus der freiwilligen Abgabe im eigenen Interesse ein Zwang.

D.h. die erste Ausbeutergesellschaft überhaupt beruht auf der Unterwerfung und Ausbeutung einer ursprünglichen Allmende-Institution, eines „Common“. In einer solchen Gesellschaft gibt es kein Privateigentum. Allerdings hat sich eine Gruppe von Räubern die Kontrolle, das Monopol, über die Gemeindegüter gesichert.

Dadurch verwandelt sich aber das Verhältnis von Palast und Bauerngemeinden von einem Verhältnis der Gleichheit und Gleichberechtigung bei unterschiedlicher Funktion in der Gemeinschaft, in ein Verhältnis der Ausbeutung und Unterdrückung.

Eine solche Gesellschaft heißt bei Marx „asiatisch“. Sie könnte genauso gut „afrikanisch“ heißen, denn Ägypten ist eines der ersten Länder der Erde, in dem sich diese Entwicklung vollzieht.

Mit dem Begriff der „asiatischen Despotie“ ist demnach eine Gesellschaft gemeint, in der weitgehend autonome Bauerngemeinden eigenständig wirtschaften und über wesentliches Produktionseigentum, vor allem den Boden, zum Teil gemeinschaftlich zum Teil privat, aufgeteilt in kleine und kleinste Parzellen, verfügen.
Diese Bauerngemeinden sind einer Oberschicht tributpflichtig, die zum kleineren Teil auch eine produktive Rolle spielen kann, in dem sie z.B. Bewässerungssysteme, Strassen und andere gemeinsame Infrastruktur erhalten, zum größeren Teil schmarotzen sie aber und plündern die Länder aus, über die sie herrschen. Da ihre einzige wirkliche Legitimation die nackte Gewalt ist, ist auch die Despotie die ihnen gemäße Staatsform.

Es versteht sich von selbst, dass solche Staaten immer von dem Konflikt geprägt sind, wem denn nun gehört, was nach seiner Bestimmung allen gehören soll.
„Der Staat sind wir“ ist in so fern eine alte Losung.

Diese Staatsmaschine, sobald sie einmal oder auch mehrmals erfunden wurde, breitet sich auch weiter aus. Auch in Gebiete, in denen z.B. gar keine Bewässerungslandwirtschaft möglich ist.

Nomadenvölker unterwerfen die Flusstalbewohner und Ackerbauern. Ihre Führer usurpieren den bestehenden Staat und weiten seine Herrschaft auch auf andere Gebiete aus. Kennzeichen aller dieser Ordnungen ist fast immer, dass das Eigentum an den wesentlichen Produktionsmitteln staatlich ist.

 

In anderen Gebieten der Welt vollziehen sich andere Entwicklungen. So entstehen z.B. aus Stammesgefolgschaften, Stammeshierarchien schließlich feudale Ordnungen. Im Gegensatz zur orientalischen Despotie bleibt aber in solchen Gebilden die zentrale staatliche Instanz meist schwach.

Dafür verankert sich dort privates Eigentum viel stärker.

Auf dem Boden dieser Feudalordnung entstehen dann auch Kapitalismus und Bürgertum.

 

Am Ende einer langen Entwicklung stehen sich dann zwei gegensätzlich strukturierte Klassengesellschaften gegenüber:

In der einen herrscht jene Bürokratenkaste, die den Staat eigentlich nur verwalten soll, über die ganze Gesellschaft.

In der anderen führt wirtschaftliches Eigentum zur gesellschaftlichen und staatlichen Macht.

Beide Gesellschaften können nur dann ihren wirklichen Eigentümern, nämlich dem Volk, zurück gegeben werden, nachdem dieses in einem langen, opferreichen Kampf Demokratie in Wirtschaft und Staat erkämpft hat.

Die Völker der Welt sind heute auf diesem Weg und sie sind in verschiedenen Staaten unterschiedlich weit gekommen. Sie werden sicher noch eine Weile brauchen um endgültig ans Ziel zu kommen.

 

Die Entwicklung in Rußland war und ist nun deswegen ganz besonders kompliziert und auch entsprechend schwer zu verstehen, weil sich hier die gegensätzlichen Ordnungen mischen.

Die Kiewer Ruß war, nach allem was wir wissen, ein früh-feudaler Staat. Dieser Staat geriet nun im 13.Jahrhundert unter die Mongolenherrschaft. Der Tatarenstaat war aber eine orientalische Despotie. Und die neuen Herren taten ihr möglichstes ihren neuen Besitz nach ihrem Bild und Willen zu formen.

Dabei bedienten sie sich auch russischer Herren, z.B. der bis dato ziemlich unbedeutenden Fürsten von Moskau.

Als tatarische Steuereintreiber wurden sie bedeutend.

Schließlich befreiten sie sich sogar von der Herrschaft der Khane. Aber nur um deren Ordnung nun auf eigene Rechnung zu fortzusetzen.

 

Und so entsteht ein eigenartiger Zwitter. In diesem Zwitter nehmen wir Gutsherren und Leibeigene wahr, wie in anderen Teilen Europas.

Und wir vermuten eine Bauernbefreiung ähnlich der preußischen. Und analog zur preußischen vermuten wir auch hier, dass die Bauern mehr enteignet als befreit wurden.

Was wir aber übersehen: Letztlich gehört in diesem Land alles dem Zaren. Die zentrale Bürokratie kann jederzeit jegliches Eigentum mit wenigen Federstrichen konfiszieren.

So kommt es, dass weder die Bauern noch die Herren allzuviel Selbstbewußtsein entwickeln (können) gegenüber einer Bürokratie, die am Ende immer siegt.

 

Aber hören wir, was unsere „Revolutionäre“ noch zu sagen haben:

„Da stirbt P. unerwartet früh. Ein Testament war natürlich nicht vorhanden; die Vermögensverhältnisse befanden sich, wie das gewöhnlich der Fall ist, in arger Unordnung; es stellte sich ein Haufe gieriger Erben ein, die sich natürlich nicht im geringsten mehr um diesen letzten Sprößling seines Geschlechtes kümmerten, den der Verstorbene aus Barmherzigkeit in der Schweiz hatte von der Idiotie kurieren lassen wollen. Der junge Edeling, Idiot wie er war, versuchte doch, seinen Professor zu betrügen, und ließ sich, wie man erzählt, von ihm zwei Jahre lang gratis behandeln, indem er ihm den Tod seines Wohltäters verheimlichte. Aber der Professor war selbst ein schlauer Patron; das Ausbleiben der Zahlungen und ganz besonders der starke Appetit seines fünfundzwanzigjährigen faulenzenden Patienten machten ihn doch schließlich stutzig; er gab ihm ein Paar alte Gamaschen von sich zum Anziehen, schenkte ihm einen abgetragenen Mantel von sich und spedierte ihn aus Barmherzigkeit dritter Klasse nach Rußland; so war die Schweiz ihn losgeworden. Es könnte nun scheinen, als habe Fortuna unserem Helden den Rücken gewendet. Das war jedoch nicht der Fall: Fortuna, die ganze Gouvernements Hungers sterben läßt, schüttete auf einmal alle ihre Gaben über diesen Aristokraten aus, wie in der Krylowschen Fabel die Wolke über das ausgetrocknete Feld hinwegzieht und ihr Wasser in den Ozean hinabschüttet. Fast in demselben Augenblick, als er aus der Schweiz in Petersburg eintraf, starb in Moskau ein Verwandter seiner Mutter (die natürlich aus dem Kaufmannsstand stammte), ein alter, kinderloser, allein dastehender, langbärtiger Kaufmann und Sektierer, und hinterließ eine Erbschaft von mehreren Millionen in barem Geld, die (ja, das wäre etwas für uns beide, mich und Sie, lieber Leser!) in ihrem ganzen Betrag unanfechtbar unserem jungen Edeling zufiel, der sich in der Schweiz hatte von der Idiotie kurieren lassen! Na, nun klang die Musik natürlich anders. Um unseren Baron in Gamaschen, der schon angefangen hatte, einer bekannten Schönheit der Halbwelt den Hof zu machen, sammelte sich auf einmal ein ganzer Schwarm von Freunden; es fanden sich auch Verwandte ein und vor allem ganze Scharen vornehmer Mädchen, die danach schmachteten, mit ihm in den Stand der heiligen Ehe zu treten. Und was konnte man sich auch Besseres denken: ein Aristokrat, ein Millionär, ein Idiot, also alle Vorzüge vereint; einen solchen Mann kann man nicht einmal mit der Laterne finden oder auf Bestellung geliefert bekommen ...!«

»Das ... das übersteigt ja alles!« rief Iwan Fjodorowitsch in höchster Entrüstung.

»Hören Sie auf, Kolja!« rief der Fürst in flehendem Ton. Von allen Seiten erschollen verschiedenartige Ausrufe.

»Weiterlesen! Unter allen Umständen weiterlesen!« verlangte Lisaweta Prokofjewna auf das allerbestimmteste; sie beherrschte sich augenscheinlich nur mit größter Anstrengung. »Fürst, wenn du ihm das Weiterlesen verbietest, bekommst du es mit mir zu tun!«

Es war nichts zu machen: mit heißem Gesicht, geröteten Wangen und mit einer Stimme, die vor Aufregung zitterte, las Kolja weiter vor: »Aber während unser neugebackener Millionär sozusagen im Schoß des Glückes saß, geschah etwas von einer Seite her, von der es niemand erwartet hatte. Eines schönen Morgens erscheint bei ihm ein Besucher, mit ruhigem, ernstem Gesicht, mit höflicher, aber würdiger und rechtlicher Redeweise, bescheiden und anständig gekleidet, in seiner Denkart offenbar der fortschrittlichen Richtung angehörig, und erklärt ihm in wenigen Worten den Grund seines Kommens: er ist ein bekannter Advokat; er ist von einem jungen Mann mit der Vertretung seiner Interessen beauftragt worden und kommt in dessen Namen. Dieser junge Mann ist nicht mehr und nicht weniger als ein Sohn des verstorbenen P., obgleich er einen andern Namen trägt. Der Lüstling P. hatte in seiner Jugend ein anständiges, armes Mädchen verführt, das zu seinem Hofgesinde gehörte, aber eine westeuropäische Erziehung genossen hatte (wobei selbstverständlich die Herrenrechte der damaligen Zeit der Leibeigenschaft mit ins Spiel kamen), und als die unausbleiblichen, nahe bevorstehenden Folgen dieses Verhältnisses sichtbar wurden, sie möglichst schnell an einen erwerbstätigen, sogar in dienstlicher Stellung befindlichen Mann von edlem Charakter verheiratet, der dieses Mädchen schon lange geliebt hatte. Anfangs unterstützte er das junge Ehepaar; aber die edle Gesinnung des Ehemannes veranlaßte diesen bald, die weitere Annahme solcher Unterstützung abzulehnen. Es verging nun einige Zeit, und P. vergaß allmählich das Mädchen und seinen mit ihr erzeugten Sohn und starb dann bekanntlich, ohne testamentarische Anordnungen zu hinterlassen. Sein Sohn, der zu einer Zeit geboren wurde, als seine Mutter bereits in legitimer Ehe lebte, wuchs unterdessen unter einem andern Familiennamen heran und wurde von dem edeldenkenden Gatten seiner Mutter völlig als Sohn behandelt; aber als er bei dessen Tod mit der kränklichen, leidenden, an den Füßen gelähmten Mutter in einem abgelegenen Gouvernement zurückblieb, sah er sich vollständig auf seine eigenen Mittel angewiesen. Er selbst ging nach der Hauptstadt und verdiente sich Geld durch tägliche anständige Arbeit, indem er in Kaufmannsfamilien Privatstunden gab und sich dadurch zuerst als Gymnasiast, dann als Hörer der für ihn zweckmäßigen Universitätsvorlesungen erhielt, wobei er ein höheres Ziel im Auge hatte. Aber kann man etwa viel erwerben, wenn einem der russische Kaufmann für die Stunde zehn Kopeken gibt und man obendrein eine kranke, gelähmte Mutter hat? Auch als diese schließlich in dem abgelegenen Gouvernement starb, wurde der Sohn dadurch nicht sonderlich entlastet. Nun werfen wir die Frage auf: wie mußte unser junger Edeling gerechterweise denken? Gewiß meinen Sie, verehrter Leser, daß er zu sich folgendermaßen gesprochen hat: ›Ich habe mein ganzes Leben lang von P. alle erdenklichen Wohltaten genossen; für meinen Unterhalt und meine Erziehung, für Gouvernanten und dann in der Schweiz für die Heilung von der Idiotie sind viele, viele Tausende draufgegangen; und da besitze ich nun jetzt Millionen, während P.s edeldenkender Sohn, der an den Fehltritten seines leichtsinnigen, vergeßlichen Vaters keinerlei Schuld trägt, sich mit Privatstunden zu Tode quält. Alles, was für mich aufgewandt wurde, hätte gerechterweise für ihn aufgewandt werden sollen. Die für mich ausgegebenen gewaltigen Summen kamen mir in Wirklichkeit nicht zu. Es war dies nur ein Irrtum der blinden Fortuna; sie gehörten eigentlich dem Sohn P.s. Für ihn hätten sie verbraucht werden sollen, nicht für mich; letzteres war nur die Ausgeburt einer phantastischen Laune des leichtsinnigen, vergeßlichen P. Wenn ich im vollen Sinn ein edler, feinfühliger, gerechter Mensch wäre, so müßte ich seinem Sohn die Hälfte meiner ganzen Erbschaft abgeben; aber da ich vor allen Dingen ein kluger Mensch bin und recht gut weiß, daß die Sache nicht einklagbar ist, so werde ich ihm nicht die Hälfte meiner Millionen geben. Aber allerdings würde es von meiner Seite gar zu gemein und schamlos sein‹ (der Edeling vergaß, daß es auch nicht klug sein würde), ›wenn ich dem Sohn P.s jetzt nicht wenigstens die Tausende zurückerstattete, die P. für die Heilung meiner Idiotie ausgegeben hat. Das ist lediglich eine Forderung des Gewissens und der Gerechtigkeit! Denn was wäre aus mir geworden, wenn P. mich nicht aufgezogen, sondern statt dessen sich um seinen Sohn bekümmert hätte?‹

Aber nein, meine Herren! Unsere jungen Edelinge denken nicht so. Was für Vorstellungen ihm auch der Advokat machte, der die mühevolle Vertretung der Sache des jungen Mannes einzig und allein aus Freundschaft zu diesem und fast wider dessen Willen, beinah gewaltsam übernommen hatte, wie sehr er ihn auch auf die Pflichten der Ehre, des Anstandes und der Gerechtigkeit, ja sogar auf die Gebote der gewöhnlichen Klugheit hinwies, der Schweizer Zögling blieb unerbittlich, und was tat er? Alles Bisherige wäre noch nichts; aber nun kommt etwas, was wirklich unverzeihlich und durch keine interessante Krankheit zu entschuldigen ist: dieser Millionär, der kaum die Gamaschen seines Professors ausgezogen hatte, konnte nicht einmal so viel kapieren, daß der edeldenkende junge Mann, der sich mit Privatstunden quälte, ihn nicht um ein Almosen und eine Unterstützung bat, sondern sein Recht forderte, dasjenige verlangte, was ihm zustand, wenn auch nicht im gerichtlichen Sinne; und ebensowenig wußte der Millionär es zu würdigen, daß der junge Mann seine Ansprüche nicht persönlich erhob, sondern nur seine Freunde für ihn eintraten. Mit majestätischer Miene, berauscht von der durch seine Millionen ihm zugefallenen Macht, andere Menschen ungestraft niederzutreten, zieht unser Edeling einen Fünfzigrubelschein heraus und ist frech genug, ihn dem edeldenkenden jungen Mann als Almosen zu schicken. Sie glauben es nicht, meine Herren? Sie sind empört, beleidigt und stoßen einen Schrei der Entrüstung aus: aber trotz alledem hat er es getan! Selbstverständlich wurde ihm das Geld sogleich zurückgeschickt, sozusagen ihm ins Gesicht zurückgeschleudert. Wie soll nun die Sache erledigt werden? Gerichtlich verfolgen läßt sie sich nicht; es bleibt nur der Weg der Öffentlichkeit übrig! Wir übergeben daher dieses Geschichtchen dem Publikum, indem wir uns für seine Richtigkeit verbürgen. Man sagt, einer unserer bekanntesten Humoristen habe darüber ein reizendes Epigramm verfaßt, das nicht nur in den provinziellen, sondern auch in den hauptstädtischen Sittenschilderungen eine Stelle zu finden verdient:

 

In 'nem Mäntelchen von Schneider

Spielte Ljow fünf Jahr herum;

Unterdessen wurde leider

Nichts aus seinem Studium.

Heimgekehrt drauf in Gamaschen,

Erbt' er glücklich 'ne Million

Und bestahl trotz voller Taschen

Einen armen Musensohn.«

 

Als Kolja geendet hatte, reichte er die Zeitschrift so schnell wie möglich dem Fürsten hin, stürzte, ohne ein Wort zu sagen, in eine Ecke, drückte sich dicht hinein und verbarg das Gesicht in den Händen. Er schämte sich in einem unerträglichen Grade, und sein kindliches, an Schmutz noch nicht gewöhntes Empfinden war maßlos verletzt.“

[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 20102 - 20112

(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 4, S. 134-142)

http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]

 

Der „revolutionäre Gestus“ reduziert sich somit auf nichts weiter als blanken Neid und Schnorrertum.

Man kann zwar mit Lafarge darüber streiten, ob es nicht auch ein Menschenrecht auf Faulheit gibt, zumal Faulheit vornehm auch „Muse“ heißt und zurecht als Grundbedingung jedweden kreativen Schaffens angesehen wird. Der Gehirnforscher Spitzer kann überzeugend nach weisen, das Belohnungen („Incentives“ in neudeutsch) eher zu geistiger Minderleistung führen, d.h. wer geistig viel leisten will, muss vor allem Druck und Stress vermeiden.

Aber eine solche entspannte Atmosphäre hat nichts, aber auch gar nichts mit jener neiderfüllten „Kultur“ des Nichtstuns und der Nichtsnutzigkeit zu tun, für die diese „Helden“ stehen.

Das Privileg zu genießen, jeden Tag spazieren zu gehen und die Gedanken wandern zu lassen, darf nicht mit jener Bequemlichkeit verwechselt werden, bei der man keinen Fuß vor den anderen setzt.

Gesunde Kinder spielen gerne, Kinder, die nur noch antriebslos herum hängen, sind krank, entweder seelisch oder körperlich.

Und die russische Gesellschaft jener Zeit wird durch nichts besser charakterisiert als durch Gontscharows „Oblomov“.

Das „halbasiatische“ der russischen Gesellschaft besteht nicht darin, dass sie zur anderen Hälfte europäisch ist, sondern darin, dass in Agypten, Indien oder China die Despotie eine reale Funktion hatte (die Urbarmachung der Flüsse), während die russische Herrenkaste im Grunde durch und durch nutzlos ist.

Nachdem die Sowjetunion spätestens ab 1921 die Räte, die Sowjets, als basisdemokratische Einrichtungen beseitigt hatte, sammelte sich die alte Bürokratie unter neuen Fahnen. Die „Revolutionäre“ die uns Dostojewskij hier schildert, tragen diese konterrevolutionäre Tendenz bereits in sich.

 

Wenn wir uns dagegen nach wahrer Freiheit sehnen, sehnen wir uns nach einer Gesellschaft, die es uns erlaubt jede Arbeit zum Spiel werden zu lassen.

Arbeit wird zur künstlerischen Äusserung und damit zum kreativen Bedürfnis.

Das ist der großartige Kern jener Utopie, die uns aus der „Deutschen Ideologie“ entgegen strahlt.

Und dass ist auch der entscheinde Unterschied zu Epikur:

Das Leben soll nicht nur lustvoll genossen, sondern aktiv gestaltet werden.

Wir sitzen nicht nur im Garten, wir freuen uns an der Gartenarbeit.

Von der Diktatur des Proletariats

Über die Frage, inwiefern Denker für die Konsequenzen, gegebenenfalls mörderischen Konsequenzen, ihres Denken verantwortlich sind, gibt es unterschiedliche Auffassungen.

Intellektuelle lassen sich gerne loben für ihre brillianten Ideen, aber wenn sich infolge ihrer Ideen irgendwo die Leichen stapeln, möchte man nichts damit zu tun gehabt haben.

Platonikern sind selten die totalitären Staatsideen ihre großen Meisters peinlich, obwohl sie allen Grund dazu hätten.

Und die Fangemeinde Nietzsches lässt sich weder von seinem Aufruf zum Mord an den Schwachen im Anti-Christ noch vom offensichtlichen Antisemitismus und kaum zu übersehenden Unfug im selben Machwerk an der Verehrung ihres Heiligen hindern.

Herr Ratzinger stand den größten Teil seines Lebens einer Institution vor, die berühmt-berüchtigt dafür wurde, daß sie selbst Tote auf den Scheiterhaufen brachte, wenn sie nicht rechtgläubig waren.

Und er besaß trotzdem die Unverfrorenheit in Regensburg christliche Toleranz gegen islamische Intoleranz zu kehren. Nicht daß ich irgendeinen Fatwa-Prediger in Schutz nehmen will, aber welches Recht hat ein ehemaliger Chef der Inquisition uns über Toleranz und Meinungsfreiheit belehren zu wollen ?

Unter der Losung von der „Diktatur des Proletariats“ sind im 20.Jahrhundert einige der größten Menschheitsverbrechen verübt worden.

Und diese Verbrechen werden auch nicht dadurch entschuldbar, daß man sie gegen Auschwitz, zweifellos das größte Menschheitsverbrechen überhaupt, aufrechnet.

Allerdings pflegen Tote nicht mehr zu handeln und bevor man sie schuldig spricht, sollte man sorgfältig prüfen, ob von ihren Gedanken tatsächlich nachweisbare Verbindungslinien zu späteren Verbrechen bestehen.

Die Berufung des Papsttums und seiner „Heiligen Inquisition“ auf Jesu wurde ja von Wickliff, Hus und Luther mit guten Gründen bestritten und deswegen besteht zunächst einmal kein Grund zwischen Bergpredigt und Scheiterhaufen einen Zusammenhang her zu stellen.

Bei Marx liegt die Sache insofern etwas komplizierter als er in der Tat in einem Brief an seinen damaligen New Yorker Freund und Verleger Wedemeyer u.a. folgendes schrieb:
„Marx an Joseph Weydemeyer in New York

16. Januar 1852

28, Dean Street, Soho, London

...Was mich nun betrifft, so gebührt mir nicht das Verdienst, weder die Existenz der Klassen in der modernen Gesellschaft noch ihren Kampf unter sich entdeckt zu haben. Bürgerliche Geschichtschreiber hatten längst vor mir die historische Entwicklung dieses Kampfes der Klassen, und bürgerliche Ökonomen die ökonomische Anatomie derselben dargestellt. Was ich neu tat, war

  1. 1.nachzuweisen, daß die Existenz der Klassen bloß an bestimmte historische Entwicklungsphasen der Produktion gebunden ist;

  2. 2.daß der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führt;

  3. 3.daß diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bildet.

Unwissende Lümmel wie Heinzen,die nicht nur den Kampf, sondern sogar die Existenz der Klassen leugnen, beweisen nur, daß trotz allem ihrem bluttriefenden und humanistisch sich aufspreizenden Gebelfer, sie die gesellschaftlichen Bedingungen, worin die Bourgeoisie herrscht, für das letzte Produkt, für das non plus ultra der Geschichte halten, daß sie nur die Knechte der Bourgeoisie sind, eine Knechtschaft, die um so ekelhafter ist, je weniger die Lümmel auch nur die Größe und vorübergehende Notwendigkeit des Bourgeoisregimes selbst begreifen....“.

 

Hier steht es schwarz auf weiss: „daß der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führt;“ bezeichnet er als eine seiner zentralen Entdeckungen.

 

Und Lenin und Stalin wurden nicht müde sich bei jeder Massenerschießung auf Marx, den Klassenkampf und seine Forderung nach einer „Diktatur des Proletariats“ zu berufen.

 

Selbst die heutige Bereicherungsherrschaft der „Prinzlinge“ in der VR China legitimiert sich noch mit Marx und seiner Formel von der „Diktatur des Proletariats“.

 

Berufen sie sich zurecht ?

 

Wir werden sehen.

 

In der „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie – Einleitung“ schreibt Marx

„Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist, Verhältnisse, die man nicht besser schildern kann als durch den Ausruf eines Franzosen bei einer projektierten Hundesteuer: Arme Hunde! Man will euch wie Menschen behandeln!“

Eine Theorie, die umenschliche Zustände heute duldet, rechtfertigt oder sogar herbei führt, auch und gerade mit der Begründung es ginge um das Morgen. Motto: Wir leiden und schlimmer noch: wir verursachen Leiden, damit es unsere Kinder (vielleicht) besser haben, fällt hinter die Kritik der Religion in eine neue Religion zurück.

In jenen Regimes, die sich als „Diktatur des Proletariats“ nach Lenin/Stalinschem Muster etablierten, geschah genau dies.

Aus einer der interessantesten und anregensten Theorieschöpfung des 19.Jahrhunderts wurde eine Sammlung hohler Sprüche garniert mit Gipsköpfen.

Die missverständliche Formulierung von Marx in einem privaten Brief war dafür Rechtfertigung, nicht Ursache.

Jene, die sonst nicht müde wurden Menschen anderer Meinung als „Abweichler“ und „Renegaten“ zu beschimpfen, erlaubten sich bei der Frage des Staates die „schöpferische“ Weiterentwicklung derart, dass im von ihnen geschaffenen „Sozialismus“ der Staat, speziell der Unterdrückungsapparat, nicht etwa abstarb sondern stattdessen wie ein wucherndes Krebsgeschwür die Gesellschaft von innen zersetzte.

Aber befassen wir uns weiter mit dem Brief an Wedemeyer.

Nach meinem Kenntnisstand ist es die einzige Stelle in seinem doch recht umfangreichen Werk an der Marx den Begriff „Diktatur des Proletariats“ überhaupt verwendet.

Der Briefwechsel diente der Vorbereitung eines Zeitschriftenprojektes Wedemeyers. In dieser Zeitschrift „Revolution“ sollte auch eine Artikelserie von Marx erscheinen, die, nachdem die Zeitschrift mangels Geld eingestellt wurde, als seperate Broschüre 1853 unter dem Titel „Der 18.Brumaire des Louis Bonaparte“ erschien.

In dieser Schrift finden wir die folgende Chronologie (Es geht um die Entwicklung bis zum Staatsstreich Louis Bonapartes):

„So endete die Ordnungspartei, die legislative Versammlung und die Februarrevolution. Ehe wir zum Schluß eilen, kurz das Schema ihrer Geschichte:

  1. I.Erste Periode. Vom 24. Februar bis 4. Mai 1848. Februarperiode. Prolog. Allgemeiner Verbrüderungsschwindel.

  2. II.Zweite Periode. Periode der Konstituierung der Republik und der konstituierenden Nationalversammlung.

  1. 1.4. Mai bis 25. Juni 1848. Kampf sämtlicher Klassen gegen das Proletariat. Niederlage des Proletariats in den Junitagen.

  2. 2.25. Juni bis 10. Dezember 1848. Diktatur der reinen Bourgeois-Republikaner. Entwertung der Konstitution. Verhängung des Belagerungszustandes über Paris. Die Bourgeoisdiktatur am 10. Dezember beseitigt durch die Wahl Bonapartes zum Präsidenten.

  3. 3.20. Dezember 1848 bis 28. Mai 1849. Kampf der Konstituante mit Bonaparte und der mit ihm vereinigten Ordnungspartei. Untergang der Konstituante. Fall der republikanischen Bourgeoisie.

  1. III.Dritte Periode. Periode der konstitutionellen Republik und der legislativen Nationalversammlung.

    1. 1.18. Mai 1849 bis 13. Juni 1849. Kampf der Kleinbürger mit der Bourgeoisie und mit Bonaparte. Niederlage der kleinbürgerlichen Demokratie.

    2. 2.13. Juni 1849 bis 31. Mai 1850. Parlamentarische Diktatur der Ordnungspartei. Vollendet ihre Herrschaft durch Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts, verliert aber das parlamentarische Ministerium.

    3. 3.31. Mai 1850 bis 2. Dezember 1851. Kampf zwischen der parlamentarischen Bourgeoisie und Bonaparte.

      1. a)31. Mai 1850 bis 12. Januar 1851. Das Parlament verliert den Oberbefehl über die Armee.

      2. b)12. Januar bis 11. April 1851. Es unterliegt in den Versuchen, sich der Administrativgewalt wieder zu bemächtigen. Die Ordnungspartei verliert die selbständige parlamentarische Majorität. Ihre Koalition mit den Republikanern und der Montagne.

      3. c)11. April 1851 bis 9. Oktober 1851. Revisions-, Fusions-, Prorogationsversuche. Die Ordnungspartei löst sich in ihre einzelnen Bestandteile auf. Der Bruch des Bourgeoisparlaments und der Bourgeoispresse mit der Bourgeoismasse konsolidiert sich.

      4. d)9. Oktober bis 2. Dezember 1851. Offner Bruch zwischen dem Parlament und der Exekutivgewalt. Es vollzieht seinen Sterbeakt und unterliegt, von seiner eigenen Klasse, von der Armee, von allen übrigen Klassen im Stiche gelassen. Untergang des parlamentarischen Regimes und der Bourgeoisherrschaft. Sieg Bonapartes. Imperialistische Restaurationsparodie.“

[Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. Marx/Engels: Ausgewählte Werke, S. 11780-11782 (vgl. MEW Bd. 8, S. 192-193)

http://www.digitale-bibliothek.de/band11.htm ]

 

Soweit Marx. Es fällt unmittelbar auf, daß das, was hier als „Diktatur“ bezeichnet wird, mit unserem heutigen Begriff von Diktatur nichts zu tun hat.

 

Ein Beispiel:

„25. Juni bis 10. Dezember 1848. Diktatur der reinen Bourgeois-Republikaner. Entwertung der Konstitution. Verhängung des Belagerungszustandes über Paris. Die Bourgeoisdiktatur am 10. Dezember beseitigt durch die Wahl Bonapartes zum Präsidenten.“

 

Diktaturen die einfach durch reguläre Wahlen beendet werden, sind nach unserem Verständnis keine.

 

Ein anderes Beispiel:
„13. Juni 1849 bis 31. Mai 1850. Parlamentarische Diktatur der Ordnungspartei. Vollendet ihre Herrschaft durch Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts, verliert aber das parlamentarische Ministerium.“

„Parlamentarische Dikatur“ geht nach unserem Verständnis überhaupt nicht, das ist sowas wie ein schwarzer Schimmel oder ein weißer Rappen.

 

Was tut hier Marx ? Beherrscht er die deutsche Sprache nicht ?

 

Nun, Begriffe unterliegen einem Bedeutungswandel.

 

Ein Diktator war in der römischen Republik ein für ein Jahr vom Volk gewählter Staatschef in dessen Hände die ansonsten getrennten Rechte und Kompetenzen des Senats und der Konsuln vereinigt wurden.

Eine Diktatur war demnach ein verfassungsgemäßer, durch die Verfassung bestimmter und begrenzter Zustand, in dem eine Person oder eine Gruppe „durchregieren“ konnte (um es mit einer zeitgemäßen Phrase auszudrücken).

Was wir heute unter einer Diktatur verstehen, nämlich eine gesetzlose Willkürherrschaft, hätten die Römer und hätte vor allem Marx als Despotie bezeichnet.

 

Und von einer „Despotie des Proletariats“ hat Marx nie geredet.

Von Despotien, egal unter welchem Firmenschild, hat er auch nie etwas gehalten.

Das große Thema des „18.Brumaire“ ist der Verfall der bürgerlichen Demokratie, ihr Münden in eine Despotie als Konsequenz der brutalen Unterdrückung des Pariser Proletariats.

Weil man sich vor dem Proletariat fürchtet, amputiert man die Demokratie, setzt sie gegen seine Proletarier, aber auch weitere Gegner außer Kraft. Und sobald man dies getan hat, kommen andere und nutzen die bereit gestellten Mittel um ihrerseits die Demokratie weiter zu demontieren. Die Unterdrücker werden unterdrückt. Das geht solange, bis sich alle in den Händen eines Spielers und Abenteurers befinden.

Die verschiedenen Bourgeoisie-Fraktionen befinden sich in einem Dilemma aus dem sie nicht herausfinden:

Weil sie das Proletariat fürchten (und fürchten müssen), demontieren sie die Demokratie. In dem Maße in dem sie das tun, liefern sie anderen die Werkzeuge, mit denen auch sie unterdrückt werden können und schließlich unterdrückt werden. Und am Ende schießt eine entfesselte Soldeska feiernde Anhänger der Partei der Ordnung, die gerade mit Champaner auf ihrem Balkon auf den Sieg der „Ordnung“ und Bonapartes über das Proletariat anstoßen wollen, von der Brüstung. Der Sieg war auch ein Sieg der Lumpen über sie.

Als zentralen politischen Widerspruch jeglicher Bourgeois-Herrschaft identifiziert Marx einerseits die Furcht vor dem unberechenbaren Volk, vor allem der gut organisierten Arbeiterschaft. Dieses Volk bildet immer die Mehrheit und deswegen fürchtet man es.

Die Mehrheit ist berufen zu herrschen, aber wer schützt dann das Eigentum der Bourgeoisie z.B. vor dem Zugriff einer progressiven Vermögens- und Einkommenssteuer.

Andererseits: Der Verzicht auf Demokratie und Rechtstaatlichkeit etabliert einen Räuberstaat, in dem das Eigentum der einzelnen Bourgeois auch nicht sicher ist, weil sich Räuber selten damit zufrieden geben nur den Nachbarn zu beklauen.

Ohne eine Ordnung, in der Verträge gehalten und Gesetze beachtet werden, funktioniert auf Dauer keine kapitalistische Wirtschaft.

D.h. aber Rechtssicherheit und Verlässlichkeit ist im Zweifelsfall für die Bourgeois wichtiger als Demokratie. Vor allem das Wahlrecht für alle ist aus dieser Perspektive entbehrlich.

Es zeigt sich aber, dass ohne Demokratie auch die Rechtssicherheit nicht garantiert ist. Machthaber streben gerne zu der ganzen Macht und Despotien stellen sich über das Gesetz, selbst Bundeskanzler, die zu lange im Amt waren, tendieren ja bekanntlich dazu ihr „Ehrenwort“ über das Gesetz zu stellen.

So braucht die Bourgeoisie das Volk, das sie zugleich fürchtet.

Umgekehrt braucht das Volk, braucht gerade die Arbeiterschaft das allgemeine, gleiche und geheime Wahlrecht um überhaupt Einfluss nehmen zu können.

Das ist die notwendige Bedingung dafür, dass die Interessen des Proletariats und anderer unterpriveligierten Schichten sich überhaupt gegen das große Geld behaupten können.

Aber das ist nur eine notwendige Bedingung. Das Recht sich zu organisieren und die Fähigkeit, dieses Recht auch umfassend zu nutzen sind Grundvoraussetzungen dafür, dass aus der Möglichkeit eigene Interessen zu vertreten und durch zu setzen auch Wirklichkeit werden kann.

Das Recht sich zu organisieren beinhaltet ohne Zweifel auch das Recht sich in einer neuen Gewerkschaft zu organisieren, wenn die alte vergessen hat, wessen Interessen sie zu vertreten hat und es beinhaltet selbstverständlich auch das Recht die Wahl zwischen mehreren Parteien zu haben.

Und es ist gut und nicht schlecht, wenn sich diese Parteien darum streiten, wer die Interessen des Volkes am effektivsten vertritt.

Andernfalls, wenn es nur eine wählbare Partei gibt, wird es zu einfach die Führer zu kaufen. Und selbst wenn die Führer nicht käuflich sind, können sie immer noch unfähig sein.

 

Sowohl bei der Wahl (schon auf Grund der Stimmenzahl) als auch bei der Frage, wie viel demokratische Institutionen (z.B. Parlamente) tatsächlich praktisch ausrichten können, darf man die Größe und Eigenständigkeit das Staatsapparats nicht unberücksichtigt lassen.

Für Marx ist dies im „18.Brumaire“ ein großes und ungelöstes Problem. Der Apparat neigt dazu sich zu verselbständigen.

Gerade die französische Konstruktion: Starker Präsident mit umfassender Exekutivgewalt und zentralistischem Durchgriff, kann leicht dazu führen, dass sich die Beamten einer imaginären Staatsräson mehr verpflichtet fühlen als der parlamentarischen Mehrheit.

Aber auch die eher föderale Struktur Deutschlands hat uns ja keineswegs vor Geheimdiensten bewahrt, denen ihr Korpsgeist höher steht als der Respekt vor dem Parlament, vor den gewählten Vertretern des Volkes.

Marx sieht dieses Problem, nimmt es sehr ernst und beklagt, dass Ansätze zur Selbstverwaltung eher unterdrückt werden.

Weil er dieses Problem für zentral hält,deswegen ist er auch später nochmal darauf zurück gekommen.

Und wir werden darauf auch zurück kommen.

Zuvor wollen wir uns aber noch kurz mit beider Wissenschaftsverständnis befassen.

Alles ist Geschichte

In der Deutschen Ideologie finden wir unter den gestrichenen Stellen folgende Passage (im Kapitel 1. Die Ideologie überhaupt, speziell die deutsche Philosophie):

„Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte. Die Geschichte kann von zwei Seiten aus betrachtet, in die Geschichte der Natur und die Geschichte der Menschen abgeteilt werden. Beide Seiten sind indes nicht zu trennen; solange Menschen existieren, bedingen sich Geschichte der Natur und Geschichte der Menschen gegenseitig. Die Geschichte der Natur, die sogenannte Naturwissenschaft, geht uns hier nicht an; auf die Geschichte der Menschen werden wir indes einzugehen haben, da fast die ganze Ideologie sich entweder auf eine verdrehte Auffassung dieser Geschichte oder auf eine gänzliche Abstraktion von ihr reduziert. Die Ideologie selbst ist nur eine der Seiten dieser Geschichte.“

Die These, dass es in der menschlichen Gesellschaft und in der physikalischen und biologischen Welt immer nur um Geschichte geht, d.h. darum wie etwas geworden ist und wie und warum es wieder vergeht, war reichlich kühn.

Zumal in einer Zeit, in der nicht nur die Philosophie vor allem von „ewigen“ Wahrheiten handelte und nichts anderes bedeutet schließlich Metaphysik. In der Biologie stand Darwin noch bevor und die Physik war erst recht ein Hort ewig gültiger Newtonscher Gesetze.

Deswegen ist die Streichung verständlich.

Wenn wir diese Streichung für uns zurück nehmen, brauchen wir angesichts der Tatsache, dass Physiker heute über die Entstehung der Atome forschen, keinen wirklichen Mut mehr.

Die Erkenntnis, dass alles was ist, geworden ist und daher eine Geschichte hat, setzt sich mehr und mehr durch.

Andererseits bedeutet die Streichung eines vielleicht allzu kühnen Satzes noch lange nicht, dass dieser Satz nicht prägend war für beider Wissenschaftsverständnis.

Deswegen ist der entscheidende Verrat an ihrem Vermächtnis immer der Versuch, daraus ewige Wahrheiten zu destillieren.

Marx Satz von 1852 im Brief an Wedemeyer war geprägt von den französischen Erfahrungen zwischen 1848, als zum erstenmal auf der Welt überhaupt zumindest ein Vertreter der Arbeiterschaft einer Regierung angehörte und dem Untergang der Demokratie 1852 im 2.Kaiserreich.

Für ihn war damals klar, dass die organisierte Arbeiterschaft in einer künftigen Revolution die Dominanz, die Hegemonie anstreben musste um die ganze Gesellschaft über einen längeren Zeitraum im eigenen Interesse um zu bauen.

Die Idee einer despotischen Herrschaft im Namen des Proletariats war für ihn unvorstellbar und lag vollständig außerhalb seines Denkhorizonts.

Weil alles Geschichte ist und weil alle Erkenntnis nur aus der Untersuchung der tatsächlichen Entwicklung kommen kann, deswegen hat er die Ökonomie immer am Beispiel Englands erforscht, als Philosoph war er deutsch, aber einer der dem aufkeimenden und später so verhängnisvollen deutschen Nationaldünkel kritisch und äußerst reserviert gegenüber stand und als politischer Denker, als Revolutionär, war er von Kopf bis Fuß und mit Haut und Haaren Franzose.

Dass es heute nicht reicht nur Franzose zu sein und wir ebenso sehr Chinesen, Vietnamesen, Tunesier, Lybier, Ägypther und Syrer sein müssen, macht sicher vieles schwieriger, aber auch spannender und interessanter.

Was wir ihm an geschichtlicher Erkenntnis voraus haben ist vor allem dies:

  1. 1.Vergesellschaftung darf niemals mit Verstaatlichung gleich gesetzt werden, weil man sich sonst mit älteren Ausbeuterklassen gegen die Bourgeoisie verbündet und damit nur einen Form der Unterdrückung gegen eine andere tauscht. Die Skepsis von Marx und Engels gegen die Lasseallaner und ihre Bereitschaft sich gegen die Bourgeoisie mit dem Junker Bismarck und dem preußischen Staat zu verbünden, war voll gerechtfertigt.

  2. 2.Der mögliche gemeinsame Untergang aller Klassen, der ganzen Menschheit ist heute das entscheidende Problem, das gelöst werden muss.
    Die Menschheit kann sich selbst umbringen.

Vor diesem Hintergrund kann uns niemand das eigene Denken abnehmen. Dieses eigene Denken kann aber von zwei sehr originellen Denkern des 19.Jahrhunderts entscheidende Anstöße erhalten.

Mehr jedenfalls als von den so geschätzten Schopenhauers und Nietzsches.

Die Pariser Kommune

Weil alle Wissenschaft für Marx Wissenschaft der Geschichte ist, deswegen war auch für sein eigenes theoretisches Verständnis der weitere Gang der Geschichte, speziell in Frankreich, der entscheidende Lehrmeister.
Die große, theoretisch und praktisch ungelöste Frage, die die Jahre zwischen 1848 und 1852 aufgeworfen hatten, war die Frage, wie das Volk allgemein und speziell die Arbeiterschaft in einer Demokratie den Staatsapparat so kontrollieren kann, dass er ihren Interessen dient und nicht zur Selbstbedienungsmaschine wird, die am Ende, wie unter Louis Bonaparte, unser aller Freiheit vernichtet.

Als 1870 die Preußen vor Paris standen und das Kaiserreich fallierte, wählte das Volk von Paris einen neuen Stadtrat und entfaltete ein bis dahin beispielloses Experiment der Selbstverwaltung und direkten Demokratie.

Dieses Experiment scheiterte und musste scheitern angesichts der Überlegenheit der preußischen Militärmaschine und angesichts der Prinzipienlosigkeit der nach Versailles geflohenen Nationalversammlung, die ihre zweifelhafte Legitimation noch aus unter Napoleon III manipulierten Wahlen bezog und sich nun mit dem preußischen Feind gegen das eigene Volk verbündete.

Nach dem Untergang der Pariser Kommune schrieb Marx seine berühmte Generaladresse der 1. Internationale in der er in einem großartigen Wurf die theoretischen Schlussfolgerungen aus diesem historischen Lehrstück zu ziehen versuchte.

Selbstverwaltung und Selbstorganisation auf lokaler Ebene ist demnach der Schlüssel zur Lösung einer Reihe praktischer Probleme, die die parlamentarische Demokratie bis dahin nie zufriedenstellend lösen konnte.

Im Zentrum stehen dabei für ihn vor allem zwei eng miteinander verflochtene Probleme:
Die Existenz eines staatlichen Gewalt- und Verwaltungsapparats, der sich oft wenig bis gar nicht darum schert was das Volk will, selbst wenn dieser Wille klar und unmissverständlich durch seine gewählten Repräsentanten zum Ausdruck gebracht wird.

Und andererseits die Neigung eben dieser Repräsentanten ihre möglicherweise ja klugen und gewählten Worte schon für Taten zu halten. Im Umfeld von Parlament und Regierung entsteht oft eine Scheinwelt, die mit der Realität in der abfällig so genannten „Provinz“ wenig bis gar nichts zu tun hat (wobei die „Provinz“ immer schon in den Stadtteilen der jeweiligen Hauptstadt beginnt).

Gegen beide Tendenzen ist direkte Demokratie das gelebte Gegengift.

Und die Kommune hat gezeigt, wie eine solche direkte Demokratie praktisch aussehen und funktionieren könnte.

Das ist ihr bleibendes Resultat.

Gegen den „freien Volksstaat“

Ende der 60iger Jahre des 19 Jahrhunderts drohte Marx den frisch vereinten „Eisenacher“ und „Lassalleanischen“ Sozialldemokraten mit dem Bruch.

Grund war das „Gothaer Programm“ von ??? des Vereinigungsparteitags.

Der dortige Programmsatz:

„Die Sozialdemokraten erstreben einen freien Volksstaat“ erregte seinen prinzipiellen Zorn:

Zitat

Vermutlich diente die Phrase vom „freien Volksstaat“ nur als allzu vorsichtige Umschreibung des Ziels einer parlamentarischen Republik, aber Marx sieht sich genötigt sein grundsätzliches Staatsverständnis zu formulieren:

Der Staat ist immer ein Gewaltapparat, eine Maschine zur Unterdrückung. Wirklich frei können die Menschen, kann eine Gesellschaft deswegen nur dann sein, wenn sie keinen Staat mehr braucht.

Die Abwesenheit des Staates ist geradezu ein Gradmesser der Freiheit.

Umgekehrt ist ein Staat, dem nicht die strengsten und engsten, auch und gerade institutionelle Fesseln angelegt werden, nichts anderes als eine Despotie.

Man muss sich entscheiden: Entweder Freiheit oder Staat.

Und danach entwickelt er seine berühmte, später von Lenin schändlich missbrauchte 2-Phasen-Theorie des Kommunismus:

In der ersten Phase existiert der Staat noch, aber es ist ein Staat, den die arbeitende Bevölkerung politisch kontrolliert.

In dieser Phase richtet sich die staatliche Macht, z.B. über Vermögens- und progressive Einkommensbesteuerung, gegen die bisher herrschenden Ausbeuterklassen und beseitigt ihre Privilegien.

Gleichzeitig wird der Bereich der Selbstverwaltung, der Selbstkontrolle auch und gerade durch staatliches Handeln ausgeweitet, so dass immer mehr gesellschaftliche Bereiche, vor allem in der Wirtschaft, der Kontrolle der Citoyens, in der Wirtschaft: Derjenigen, die die Arbeit machen, unterliegen.

Das sich immer mehr ausweitende Netz an „freier Assozation“ macht schließlich den Staat überflüssig. An die Stelle von Zwang tritt die Kooperation.

Dieses Ziel bezeichnet er als „Kommunismus“.

5-Jahr-Pläne und staatliche Planvorgaben sind in diesem Konzept nicht vorgesehen.

Marx betont von Anfang an (z.B. in der „Deutschen Ideologie“) immer die Notwendigkeit den Widerspruch zwischen dem eigentlich gesellschaftlichen Charakter der Produktion und der privaten Aneignung zu lösen.

Das ist für ihn das zentrale Problem, das die Menschheit bei Strafe ihres Untergangs lösen muss.

Aber gerade in seiner „Kritik des Gothaer Programms wird deutlich, dass für ihn „Verstaatlichung“ überhaupt nicht die Lösung des Problems ist.

Die „Idealstaaten“ für Marx, aber auch für Engels, waren die USA oder die Schweiz, weil dort (fast) alles durch Wahl oder Abstimmung entschieden wird.

Und die befreiende Wirkung der „Pariser Kommune“ bestand für ihn darin, dass hier der arbeitende Teil der Pariser Bevölkerung begonnen hatte, sein Leben selbst zu organisieren.

Für ihn war genau das „Kommunismus“.

Staat statt Revolution – Der Leninismus

Selten haben sich Theorie und Praxis mehr widersprochen als bei Lenins wohl bekanntestem und berühmtesten Werk „Staat und Revolution“.

Scheinbar knüpft er dabei an Marx an, aber bei genauerem Hinsehen offenbaren sich bemerkenswerte Brüche und Verzerrungen.

Marxens Kritik an den Unzulänglichkeiten des Parlamentarismus und des Rechtsstaats wird gewissermassen kurzgeschlossen, so dass am Ende die große Nacht entsteht, bei der bekanntlich alle Katzen grau erscheinen.

Die praktische Frage, die Lenin umtreibt und die den Hintergrund seiner theoretischen Bemühungen bildet, lautet kurz und prägnant:

Können die Bolschewiki in Rußland die Macht übernehmen ?

Und die Antwort lautet:

Ja, wenn 200.000 Aristokraten Rußland regieren konnten, werden das 200.000 Bolschewiki genauso gut, wenn nicht besser, hin bekommen

Belegstelle

Der eigentliche theoretische und praktische Zweck seiner Broschüre „Staat und Revolution“ besteht darin, dieses spätere Handeln so zu legitimieren, dass aus einem bloßen Putsch eine revolutionäre Tat, die Erfüllung des Traums von der Kommune werden konnte.

Das war aber nur möglich durch eine geschickte (Ver)fälschung dieses Traums.

Dabei kam ihm auch der Bedeutungswandel, den das Wort „Diktatur“ inzwischen gemacht hatte, sehr zu pass.

Für Marx und das frühe 19 Jahrhundert waren „Diktatur“ und „Despotie“ zwei klar von einander geschiedene Begriffe:

Eine Diktatur war eine rechtstaatliche Ordnung, bei der die Macht vorübergehend oder für längere Zeit in den Händen einer oder weniger Personen bzw. (bei Marx) in den Händen einer Gesellschaftsklasse oder einer bestimmten Klassenfraktion war.

Eine Despotie bedeute dagegen Willkürherrschaft eines von allen rechtlichen Fesseln freien Staatsapparats, unabhängig davon, ob an der Spitze einer solchen Despotie einer oder mehrere ihrer Willkür freien Lauf lassen durften.

Bei Lenin ist Diktatur und Despotie dasselbe, nämlich Willkürherrschaft.

Stattdessen ist es nach seiner Meinung allein entscheidend wer herrscht nicht wie Herrschaft ausgeübt wird und sich legitimiert.

Überhaupt ist Legitimation nur bürgerlicher Schwindel und jede Herrschaft somit Willkürherrschaft.

„Wer wenn“ ist demnach die einzige relevante Frage: Wer beherrscht wenn.

Das Etikett „proletarisch“ rechtfertigt dann alles.

Das Etiketten in Wirklichkeit gar nichts besagen und es darauf ankommt, was sich dahinter verbirgt, ist zwar dem „Marxisten“ nicht fremd, aber ihm fehlt jedes Bewusstsein dafür, dass Regeln, gesellschaftliche Normen und Gebräuche staatliche Macht tatsächlich einschränken können.

Sein „Materialismus“ ist beschränkt. Macht ist für ihn immer der Knüppel, der regiert (und allenfalls durch Revolver u.ä. revolutioniert wird). Dass Vertrauen, Verlässlichkeit, Vertragstreue, eine von der Exekutive unabhängige Justiz Faktoren sind, die für einen halbwegs funktionierenden Kapitalismus gebraucht werden und dass ihr Fehlen (beispielsweise im Faschismus, im bonapartistischen Frankreich oder im heutigen „kommunistischen“ China) auf längere Sicht dysfunktional ist, liegt jenseits seines Horizonts.

Er hat lange in der Schweiz gelebt und die Schweizer Schokolade genossen, aber er hat nicht begriffen, dass die Schweizer Demokratie und die bekannte Qualität Schweizer Produkte, die Fähigkeit der Schweizer, was sie machen, gut zu machen, zusammen hängen.

Das eine ist nicht ohne das andere zu haben.

Dass die auch von ihm immer wieder beklagte „mangelnde russische Kultur“ vor allem in einem Fehlen rechtlicher Schranken gegen staatliche Willkür begründet ist, übersteigt seinen Horizont.

Die direkte, die Rätedemokratie stellt er in einen Gegensatz zur parlamentarischen. Wobei in vor allem der Formalismus parlamentarischer Verfahren suspekt ist.

Dagegen sollen die Sowjets die „wahre Demokratie“ fern von jedem Formalismus verkörpern. Damit inszeniert er sich als den Vollender Marxscher Ideen.

Da er aber gleichzeitig jede wirkliche institutionelle Sicherung, jegliches Abrücken von bloßer Willkür, jeglichen Ruf nach verbindlichen Regeln als „bürgerlich“ abtut, bleibt die Herrschaft der Sowjets eine bloße Illusion, die spätestens 1921 von Tuchaschewski in Kronstadt im Blut ertränkt wurde.

Auch direkte Demokratie braucht verbindliche Regeln, an die man sich auch dann noch hält, wenn die Mehrheit gegen einen ist.

So wurde, was als Revolution begann, zur Erneuerung der russischen Despotie, zur Fortsetzung der zaristischen Willkürherrschaft im Zeichen von Hammer und Sichel.

„Das Schlimme aber ist, dass Bucharin nicht an Bescheidenheit leidet.“

1928 vollzog Stalin einen radikalen Kurswechsel. Damals entstand der erste 5-Jahr-Plan, die Bauern wurden durch die sogenannte „Entkulakisierung“ in Not und Elend gestürzt. Und auf dem Land, in den „Kornkammern“ des Landes, vor allem in der Ukraine, entwickelte sich in Folge dieser katastrophalen Politik eine der größten Hungersnöte des 20.Jahrhunderts.

Der Kurswechsel betraf auch die Kommunistische Internationale, hier vor allem die Kommunistische Partei Deutschlands, die damals größte kommunistische Partei nach der KPdSU.

Das ZK der KPD hatte gerade Thälmann abgesetzt, weil sein Skatbruder Wittlich Parteigelder unterschlagen hatte.

Stalin sorgte dafür, dass Thälmann im Amt blieb und stattdessen die ausgeschlossen wurden, die die Unterschlagung aufgedeckt hatten.

Viel schlimmer war aber, dass Stalin Thälmann und Genossen auf einen abenteuerlichen Kurs einschwor: Die Sozialdemokraten sind der Hauptfeind und die linken Sozialdemokraten die Schlimmsten, weil sie verhindern, dass die Massen zu den Kommunisten strömen.
Deswegen müssen die Kommunisten hauptsächlich die Sozialdemokraten, die nun Sozialfaschisten genannt wurden, bekämpfen.

Ohne diese Politik wäre Hitler vermutlich nie an die Macht gekommen.
Dazu trug sowohl die Konzentration des Kampfes auf die Sozialdemokraten als auch die inflationäre Verwendung des Begriffs „Faschismus“ bei, die entscheidend dafür sorgte, dass die Nazis verharmlost wurden.

So wurde Stalins Kurswechsel für zwei Länder zum Verhängnis und führte schnurstracks in die grösste Katastrophe die Europa jemals erlebt hat.

Begründet wurde all dies mit seiner Theorie der „Klassenverlagerungen“. Ein ausgesprochen seltsames Wort, jedenfalls im Deutschen.

Nach dieser Theorie führt der Erfolg des Sozialismus in der Sowjetunion (in Wirklichkeit eher ein Potemkinsches Dorf) automatisch zur Verschärfung des Klassenkampfs zwischen Bourgeoisie und Proletariat.

In diesem Kampf geht für „aufrechte Kommunisten“ wie Stalin die grösste Gefahr von den anderen Linken aus. Sie werden zur letzten Bastion des Kapitalismus im Kampf gegen den siegreichen Sozialismus.

Deswegen kann und darf man auch mit Faschisten paktieren. Sie sind weniger gefährlich.

Diesen ganzen theoretischen Stuss breitete er u.a. auf einer ZK-Tagung 1929 aus:

„Über die rechte Abweichung in der KpdSU(B) – Aus einer Rede auf dem Plenum des ZK der KPdSU (B) im April 1929“

(J.Stalin, Fragen des Leninismus, Verlag für fremdsprachige Literatur, Moskau 1946, Seite 261 ff.)

Es ist bemerkenswert, dass auch Stalin behauptet einen Kurs der Mitte zu fahren, warnt er doch vor „linken“ und „rechten“ Abweichungen.

Dabei macht er es wie andere Politiker auch und behauptet, wo er stehe sei die „Mitte“.

Es ist überhaupt etwas Merkwürdiges an diesem Begriff der „Mitte“.

„Links“ und „rechts“ bezeichnen normalerweise Positionen die Gleichheit fordern, wenn sie links sind oder die Ungleichheit für gottgegeben halten, wenn sie rechts sind.

Traditionell sind daher die Begriffe links und rechts auch mit den Begriffen „progressiv“ und „konservativ“ verknüpft.

Die Vertreter der Ungleichheit wünschen für gewöhnlich die Welt so ungleich zu belassen, wie sie ist und gelten deswegen als konservativ.

Allerdings haben diese Status-Konservativen durch Ökologiebewegung und grüne Parteien mittlerweile Konkurrenz bekommen: Wer das ökologische Gleichgewicht wahren will, muss skeptisch sein gegen vieles was als „Fortschritt“ daher kommt, aber deswegen ist man noch lange nicht dafür, dass der Herr Herr bleibt und der Knecht Knecht.

Im Gegenteil: Gerade weil der Anteil der Frauen an der Umweltbewegung eher überdurchschnittlich ist, ist auch der Wille endlich die Gleichberechtigung der Geschlechter herzustellen, sehr groß.

D.h. es gibt jetzt auch einen linken Konservativismus.

Was bedeutet in diesem Zusammenhang nun „Mitte“ ?

Es ist der Wunsch des Spießers man möge es in keiner Weise und in keine Richtung übertreiben.

Nicht zu viel Gleichheit, weil dann die eigenen Privilegien in Gefahr geraten, aber auch nicht zuviel Ungleichheit, weil man sich dann zu tief vor anderen bücken muss.

Und der Fortschritt soll gemäßigt bzw. der Konservativismus trotzdem fortschrittlich sein.

Deswegen gelten Umweltschützer manchmal als „extremistisch“ weil sie ein bestimmtes Stück Natur unbedingt erhalten wollen und nicht dafür sind es bloß ein bisschen zu zerstören.

Die Kämpfer um die „Mitte“ können dann im Zweifel sehr militant werden.

Man spricht deswegen auch vom „Extremismus der Mitte“.

Stalin war ein solcher mittiger Extremist.

Wobei seine Mitte er war und niemand sonst.

Er gehört zu jener gar nicht so seltenen Spezies Mann, die das erste Gebot am liebsten auf sich selbst beziehen:

„Ich, ich der ich hier stehe, bin der HERR Dein Gott und Du sollst keine anderen Götter neben mir haben !“.

Im Falle Stalins war es für jeden neben ihm gefährlich, ja lebensgefährlich, wenn ER auch nur den Eindruck gewinnen konnte, da könnte ihm einer überlegen sein.

Bucharin war ihm überlegen, jedenfalls im Denken, keineswegs aber in der Beherrschung der bürokratischen Machtmaschine.

Natürlich wurden die „Rechten“ und ihre Politik von Stalin nicht bekämpft weil sie irgendwelchen falschen Prinzipien folgten. Stalins Stärke beruhte ja gerade darauf, dass er keine Prinzipien kannte, nur Machtstreben und das Verlangen nach Unterwerfung.

Die „Rechten“, aber mehr noch die Ergebnisse ihrer Politik: wirtschaftliche Entwicklung, Handel und Wandel, wurden seiner Macht gefährlich.
Bis 1928 wurde ja wirtschaftspolitisch eine Art staatliche Marktwirtschaft betrieben. Der Außenhandel war monopolisiert, der Getreideaufkauf war staatlich, aber die Bauern waren selbstständig, die meisten Handwerker auch, sofern sich nicht in Genossenschaften zusammen geschlossen hatten. Die Großindustrie war staatlich, allerdings operierten die einzelnen Betriebe auf eigene Rechnung und konnten bankrott gehen.

Das neue System ähnelte in vielerlei Hinsicht dem alten, nur dass die Herren gewechselt hatten.

Dieses System, das übrigens nicht ganz zufällig dem heutigen chinesischen System ähnelt, schließlich war Deng tsia ping Bucharin-Schüler in damaliger Zeit und auf der Moskauer Kommintern-Schule, wollte Bucharin weiter entwickeln.

Inwiefern bei einer solchen Weiterentwicklung irgendwann auch mehr Demokratie und Selbstverwaltung auf der Tagesordnung gestanden hätte, bleibt natürlich spekulativ.

Unbestritten sollte aber sein, dass Marktbeziehungen, wie staatlich gebändigt der Markt auch immer ist, die Macht bürokratischer, hierarchischer Organisationen unterspülen. Marx und Engels beschreiben diesen Prozess ja am Anfang des „Kommunistischen Manifests“ sehr eindrücklich. Genau daraus leitet sich ja ihre These ab, dass in einer kapitalistischen Welt früher oder später jede andere Form von Ausbeutung und Unterdrückung weg gespült wird.

Bucharin und die „Rechten“, hier konnten sie sich übrigens vollkommen zu Recht auf Lenin berufen, wollten aber den Kapitalismus entwickeln um zum Sozialismus zu kommen. Damit gefährdeten sie aber das ganz besonders vom „Generalsekretär“ Stalin erfolgreich restaurierte bürokratisch-despotische Regime in seinen Grundfesten (ob sie es wussten oder nicht). Das war ihr eigentliches Verbrechen.

Wenn man nun schaut, wie Stalin in diesem ZK-Plenum argumentiert, stellt man erstaunt fest, er argumentiert gar nicht. Er stellt fest:

„Worin bestehen unsere Meinungsverschiedenheiten, womit hängen sie zusammen ?

Sie hängen vor allen Dingen mit der Frage der Klassenverlagerungen zusammen, die in letzter Zeit in unserem Lande und in den kapitalistischen Ländern vor sich gehen. Manche Genossen glauben, daß die Meinungsverschiedenheiten in unserer Partei zufälligen Charakter tragen. Das ist unrichtig, Genossen. Das ist völlig unrichtig. Die Meinungsverschiedenheiten in unserer Partei sind entstanden auf der Grundlage der Klassenverlagerungen, auf der Grundlage der Verschärfung des Klassenkampfs, die in letzter Zeit vor sich geht und die einen Umschwung in der Entwicklung hervorruft. Der Hauptfehler der Gruppe Bucharins besteht darin, daß sie diese Verlagerungen und diesen Umschwung nicht sieht, sie nicht sieht und nicht bemerken will.“

(a.a.O. Seite 261)

Da es das Wort „Klassenverlagerungen“ im Deutschen definitiv nicht gibt, sich aber die „rechten“ Kommunisten des schweren Verbrechens schuldig gemacht haben sollen ein Wort, das sie vielleicht ebenfalls nicht kennen, nicht beachtet zu haben, erwartet man als gespannter Leser, dass Stalin erklärt was er meint.

Nur diese Hoffnung ist vergeblich.

Es wäre dann auch zu schnell aufgefallen, dass das ganze Geheimnis dieser „Theorie“ darin besteht Menschen aus anderen Arbeiterparteien, aber auch die eigenen GenossInnen zu „Klassenfeinden“ zu erklären und damit aus soziologischen Begriffen wie „Kleinbürger“, „Arbeiter“ oder „Bourgeois“ bloße Etiketten zu machen, die man seinen politischen Gegnern oder Freunden anheftet.

Wobei diese Begriffsverwirrung ihre tiefere Ursache zweifellos darin hat, dass der Bürokrat Stalin durch substanzlose Polemik davon ablenken musste, dass er und seine Parteigänger es eigentlich waren, die mit dem Auf- und Ausbau ihrer Herrschaft ihre angeblichen Ideale schon lange verraten hatten.

Auch in diesem Fall blamiert sich die Idee vor dem Interesse.

Stalins Vorwürfe an Bucharin gipfeln dann darin, dass er ihm vorwirft eine eigene, von Lenin abweichende Meinung vertreten zu haben:

„Das Schlimme aber ist, dass Bucharin nicht an Bescheidenheit leidet. Das Schlimme ist, dass er nicht nur nicht an Bescheidenheit leidet, sondern sich sogar unterfängt, unseren Lehrer Lenin in einer ganzen Reihe Fragen zu belehren, und zwar vor allen Dingen in der Frage des Staates. Das ist das Schlimme, Genossen.“

(a.a.O. Seite 302)

Der Seminarist Dschugaschwili hat hier einen Mitschüler ertappt, der sich tatsächlich traut eigenständig über Fragen des Glaubens nach zu denken.

Dabei gehört es sich doch für einen Rechtgläubigen, dass er die großen Lehrer fleissig zitieren kann und es dabei belässt. Denn im eigenen Denken lauert die Häresie. Allerdings besteht die große Kunst des Zitierens auch darin, dass das wirkliche Leben oft weit von den Lehren entfernt ist und dass man dann so zitiert als hätten die große Lehrer schon immer die gegenwärtige Praxis legitimiert.

Im weiteren Verlauf zitiert er dann fleissig die „Kirchenlehrer“ Lenin und Engels zur Rolle des Staates im Sozialismus. Wobei ihm Engels erkennbar Pobleme macht, denn Engels geht ganz selbstverständlich davon aus, dass in einer sozialistischen Gesellschaft vom Beginn an Schritt für Schritt staatliche Funktionen durch genossenschaftliche Selbstverwaltung abgelöst und ersetzt werden.

„Indem die kapitalistische Produktionsweise mehr und mehr die große Mehrzahl der Bevölkerung in Proletarier verwandelt, schafft sie die Macht, die diese Umwälzung, bei Strafe des Untergangs, zu vollziehn genötigt ist. Indem sie mehr und mehr auf Verwandlung der großen, vergesellschafteten Produktionsmittel in Staatseigentum drängt, zeigt sie selbst den Weg an zur Vollziehung dieser Umwälzung. Das Proletariat ergreift die Staatsgewalt und verwandelt die Produktionsmittel zunächst in Staatseigentum. Aber damit hebt es sich selbst als Proletariat, damit hebt es alle Klassenunterschiede und Klassengegensätze auf, und damit auch den Staat als Staat. Die bisherige, sich in Klassengegensätzen bewegende Gesellschaft hatte den Staat nötig, das heißt eine Organisation der jedesmaligen ausbeutenden Klasse zur Aufrechterhaltung ihrer äußern Produktionsbedingungen, also namentlich zur gewaltsamen Niederhaltung der ausgebeuteten Klasse in den durch die bestehende Produktionsweise gegebnen Bedingungen der Unterdrückung (Sklaverei, Leibeigenschaft oder Hörigkeit, Lohnarbeit). Der Staat war der offizielle Repräsentant der ganzen Gesellschaft, ihre Zusammenfassung in einer sichtbaren Körperschaft, aber er war dies nur, insofern er der Staat derjenigen Klasse war, welche selbst für ihre Zeit die ganze Gesellschaft vertrat: im Altertum Staat der sklavenhaltenden Staatsbürger, im Mittelalter des Feudaladels, in unsrer Zeit der Bourgeoisie. Indem er endlich tatsächlich Repräsentant der ganzen Gesellschaft wird, macht er sich selbst überflüssig. Sobald es keine Gesellschaftsklasse mehr in der Unterdrückung zu halten gibt, sobald mit der Klassenherrschaft und dem in der bisherigen Anarchie der Produktion begründeten Kampf ums Einzeldasein auch die daraus entspringenden Kollisionen und Exzesse beseitigt sind, gibt es nichts mehr zu reprimieren, das eine besondre Repressionsgewalt, einen Staat, nötig machte. Der erste Akt, worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt – die Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft – ist zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat. Das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebiete nach dem andern überflüssig und schläft dann von selbst ein. An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht »abgeschafft«, er stirbt ab. Hieran ist die Phrase vom »freien Volksstaat« zu messen, also sowohl nach ihrer zeitweiligen agitatorischen Berechtigung wie nach ihrer endgültigen wissenschaftlichen Unzulänglichkeit; hieran ebenfalls die Forderung der sogenannten Anarchisten, der Staat solle von heute auf morgen abgeschafft werden.“

[Engels: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft. Marx/Engels: Ausgewählte Werke, S. 8145-8147

(vgl. MEW Bd. 20, S. 261-262)

http://www.digitale-bibliothek.de/band11.htm ]

 

Was wirklich gewesen war zu wissen und zu begreifen, ist nicht einfach. Zu verstehen was ist, was hier und jetzt mit uns geschieht, ist noch viel, viel schwerer.

Aber die Zukunft zu wissen ist unmöglich.

Wer weiß schon wohin die Schmetterlinge fliegen werden, schließlich wissen sie es selbst noch nicht.

Deshalb ist das Nachdenken über die Zukunft auch der Ort der Hoffnung und des Glaubens. „Glaube, Liebe, Hoffnung diese drei, aber die Liebe ist das Höchste“ wie es Paulus formuliert hat.

Nicht nur religiöse Menschen glauben. Niemand kann über die Zukunft sprechen, ohne dass Glauben eine Rolle spielt. Und der paulinische Dreiklang beschreibt den Kompass, den wir brauchen, wenn wir uns ins Morgen auf den Weg machen.

Auch wenn Engels von der Zukunft spricht, weiß er nicht, sondern er glaubt. Er glaubt, dass das Proletariat die Staatsmacht erobern und die Produktionsmittel verstaatlichen wird. Und dass es gewissermaßen schon am Tag danach damit beginnt, staatliche Macht in Selbstverwaltung zu überführen.

Er weiß nicht, oder besser er sieht es nicht und will es vielleicht gar nicht sehen, dass am Anfang aller Ausbeutergesellschaften eine Gesellschaft steht, in der der Staat tatsächlich die Kontrolle über alle Produktionsmittel hat.

Diese Gesellschaft nennt Marx aber „orientalische Despotie“.

Wobei der Begriff „orientalisch“ irreführend ist, denn diese Gesellschafts- und Staatsform findet sich auf (fast) allen Kontinenten.

Ja mehr noch: Als der junge Marx durch seine Geburtsstadt Trier spazierte, konnte er auf Schritt und Tritt den baulichen Resten des untergegangenen römischen Reiches begegnen. Dieses war aber spätestens seit den Tagen des Augustus eine „orientalische Despotie“.

Was ist typisch für eine solche Staats- und Gesellschaftsform ?

Eine schmale Herrenschicht, die vermittels des Staates und einer ausgeklügelten Bürokratie die ganze Gesellschaft, einschließlich der Wirtschaft, im Griff hat.

Karl-August Wittfogel, Ende der 20iger Jahre noch Mitrbeiter der KOMINTERN und Bucharins, später amerikanischer Professor, hat darüber 1957 ein Buch veröffentlicht. Er weist dort darauf hin, dass bei Marx und Engels zwei gegensätzliche Staatsvorstellungen nebeneinander existieren.

Einmal die „europäische“: Der Staat als „ideeller Gesamtkapitalist“ vertritt die übergreifenden Interessen der herrschenden Klasse, ist aber von dieser abhängig. Im „18.Brumaire“ analysiert Marx dies am Beispiel Frankreichs und man merkt, diese Analyse bereitet ihm Unbehagen, weil dieser Apparat sich unter Führung eines gewissenlosen Spielers namens Louis Bonaparte verselbständigt.

Deswegen sein lauter Jubel über die Pariser Kommune. Direkte Demokratie und kommunale Selbstverwaltung schienen die richtigen Gegenmittel gegen diese Verselbständigung des Staatsapparats zu sein (und vermutlich sind sie es auch).

Die „orientalische Despotie“ ist nun genau nichts anderes als dieser verselbständigte Staatsapparat, der alle gesellschaftlichen Bereiche, einschließlich der Wirtschaft, kontrolliert.

Insofern ist die Forderung nach Verstaatlichung aller Produktionsmittel potentiell gefährlich, weil sie zur Allmacht des Staatsapparats beitragen kann, auch dann wenn sie im Namen des Proletariats vollzogen wird.

Diese Gefahr war Engels nicht bewusst.

Rußland war schon unter dem Zar eine Despotie und blieb es auch unter den Bolschewiki. Die schon für Europa problematische Losung der Verstaatlichung erhielt hier eine andere Bedeutung und wurde zur Losung für die Erneuerung, die Modernisierung der alten despotischen Ordnung.

Die bei der Pöstchenvergabe zu kurz gekommenen Lebedews waren die sozialen Träger dieses durch und durch reaktionären und restaurativen Prozesses. Und Stalin war ihr Mann bei den Bolschewiki.

Seine „Säuberungen“ sollten jeden Rest anderer Ideen und Interessen in der herrschenden Elite tilgen.

Wie sehr der „Revolutionär“ Stalin dabei dem von Dostjewskij erfundenen „Revolutionär“ Lebedew gleicht, kann vielleicht folgendes Zitat aus der oben erwähnten Rede Stalins verdeutlichen:

„Hier hat man ein Beispiel hypertropischer Anmaßungen eines Theoretikers (Bucharin W.A.), der noch zu lernen hat.“
(a.a.O. Seite 307)
Dazu muss man wissen, dass sich russische Parteiführer auch durch theoretische Ausführungen als Führer legitimieren mussten. Stalin hatte in seiner früheren Zeit über die Nationalitätenfrage reüssiert, besser gesagt, der hilfsbereite Bucharin hatte ihm dazu die wesentlichen Ideen geliefert, möglicherweise sogar den kompletten Text.

Ähnelt er damit nicht in verblüffender Weise Lebedew, der dankbar sein muss, dass sich Myschkin in sein Haus einmietet, weil er und seine Familie davon lebt und der sich trotzden oder vielleicht sogar deswegen nicht entblödet, einen Hetzartikel gegen Myschkin in die Zeitung zu setzen ?

Woher nimmt eine theoretische Null namens Stalin eigentlich die Unverfrorenheit einem Bucharin Noten zu geben ?
Was für eine Anmaßung ist das denn ?

Es geht bei Stalin so weiter:

„Es ist durchaus möglich, dass Nadesda Kostantinowa (d.h. die Frau Lenins W.A.) tatsächlich mit Bucharin über die Dinge gesprochen hat, über die Bucharin hier schreibt (d.h. dass die Krupskaja Bucharin gesagt hat, dass Lenin seine, Bucharins Staatstheorie für richtiger erklärt hat als seine eigene W.A.).
Was folgt aber daraus ?“ (a.a.O. Seite 307).

Für jeden normal denkenden Menschen folgt daraus, dass sich der todkranke Lenin bei Bucharin für eine frühere Polemik entschuldigt hat, bei der er Bucharin sehr hart angegangen ist.

Allerdings gelten für Stalin, der vorher besserwisserisch die Leninsche Polemik aus dem Jahre 1916 in epischer Breite zitiert hat um den Bucharin des Jahres 1929 damit zu widerlegen, offensichtlich andere Regeln als die Regeln der Logik.

Er fährt fort:
„Daraus folgt nur das eine, dass Lenin eine gewisse Veranlassung hatte zu glauben, dass Bucharin hab sich von früheren Fehlern losgesagt oder sei bereit es zu tun. Das ist alles. Aber Bucharin kalkuliert anders. Er fand, dass von nun an nicht mehr Lenin, sondern er, d.h. Bucharin, als der eigentliche Schöpfer oder zumindest Inspirator der marxistischen Staatstheorie an zu sehen sei.“
(a.a.O. Seite 307).

Der denunziatorische Tonfall wäre des Gespanns Lebedew/Keller durchaus würdig. Dass auch das, was inhaltlich gesagt wird, mit der Wahrheit nichts zu tun hat, entspricht genauso völlig den Dostojewkischen „Vorbildern“.

Lenin schreibt in „Staat und Revolution“ seitenlang Marx und Engels ab und versucht vor allem zu beweisen, dass er der wahre, der authentische Exeget der von Marx und Engels niedergelegten ewigen Wahrheiten ist.
Bucharin liefert eine von Lenin abweichende Exegese und wird deswegen vom Herren verbellt.

Aber beide sind bloße Exegeten.

Und Marx und Engels, die tatsächlichen Schöpfer dieser Theorien haben sich immer und mit der gebotenen Deutlichkeit dagegen verwahrt, dass man Ideen überhaupt einen Ewigkeitscharakter zu spricht.

Die Exegese wahr niemals ihr Geschäft.

Zum Problem der -ismen

Wenn Aufklärung der Ausgang der Menschheit aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit ist, dann besteht diese Unmündigkeit auch darin, dass man sich seines Kopfes nicht ohne fremde Hilfe bedient, dass man das Korsett einer Religion, Lehre, Weltanschauung benötigt, die man dann erfolgreich wiederkäut.

Natürlich denken wir nicht im luftleeren Raum sondern beeinflusst von unserer Umwelt. Und in dieser Umwelt ist das, was andere denken oder gedacht haben ein wesentlicher Einflussfaktor.

Wir haben Vorbilder im Denken und eifern ihnen nach. Wir finden und erfinden das Wenigste selbst, wir ernähren uns vom Denken unserer Mitmenschen.

Aber wirklich aufgeklärt im Sinne Kants sind wir erst, wenn wir uns gegenseitig das Selber-Denken erlauben.

Insofern ist jeder „ismus“ eher ein Zeichen von Unsicherheit, eine Art Laufstall in dem man gehen lernt.

Sobald man gehen kann, sollte man diesen Laufstall verlassen.

Der Versuch andere auf einen Kanon von erlaubten Gedanken fest zu legen, ist dagegen der Versuch das Denken an die Kette zu legen.

Das Resultat ist dann irgendein Glauben bzw. Aberglauben

Natürlich brauchen wir einen Satz von Überzeugungen, unser Bild von der Welt.

So etwas zu haben ist eine wesentliche und notwendige Voraussetzung dafür, dass wir überhaupt so etwas besitzen wie eine Identität.

Wir können nicht wirklich „ich“ sagen ohne eine Idee von uns und der Welt.

Deswegen ist ein erfolgreicher Angriff auf unser Weltbild, wenn er tief geht und grundsätzlich ist, auch meist mit einer Identitätskrise verbunden.
Und deswegen kann unsere Abwehr sehr heftig, ja gewalttätig sein.
Es geht dann um unseren Wesenskern.

Weil das so ist, wird das Angebot von „Autoritäten“, die einem sagen, was ist, so gerne angenommen. Sie bieten uns als Preis für eine bleibende Abhängigkeit ein Gefühl von Sicherheit.

„Aufklärung“ ist daher harte Arbeit auch und gerade an sich selber. Wenn diese Arbeit glückt, dann wird man im besten Fall zu einem Menschen, der sicher in sich ruht, ohne allzu selbstgewiss und zu selbstsicher zu sein.

Wir müssen lernen den Zweifel, auch an uns selber, zu unserem Freund zu machen. Dieser Zweifel darf uns jeden Tag besuchen und wir reden entspannt mit ihm, ohne jemals zu verzweifeln.

Den Zweifel für sich und für die Gesellschaft produktiv zu machen und ihn mit der Hoffnung zu versöhnen ist eine der schwierigsten Übungen überhaupt, die uns das Leben zu bieten hat.

Die Mühe ist sicher gross, aber der Gewinn, der uns daraus erwächst unermesslich: Wir sind dann wir selbst, aber wir sind es, obwohl wir uns jeden Tag ändern können. Und wir bleiben was wir sind, obwohl wir uns ständig wandeln.

Die Macht der vereinigten Individuen

„Der Kommunismus unterscheidet sich von allen bisherigen Bewegungen dadurch, daß er die Grundlage aller bisherigen Produktions- und Verkehrsverhältnisse umwälzt und alle naturwüchsigen Voraussetzungen zum ersten Mal mit Bewußtsein als Geschöpfe der bisherigen Menschen behandelt, ihrer Naturwüchsigkeit entkleidet und der Macht der vereinigten Individuen unterwirft. Seine Einrichtung ist daher wesentlich ökonomisch, die materielle Herstellung der Bedingungen dieser Vereinigung; sie macht die vorhandenen Bedingungen zu Bedingungen der Vereinigung. Das Bestehende, was der Kommunismus schafft, ist eben die wirkliche Basis zur Unmöglichmachung alles von den Individuen unabhängig Bestehenden, sofern dies Bestehende dennoch nichts als ein Produkt des bisherigen Verkehrs der Individuen selbst ist.“

[Marx: Die deutsche Ideologie. Philosophie von Platon bis Nietzsche, S. 49102

(vgl. MEW Bd. 3, S. 70-71)

http://www.digitale-bibliothek.de/band2.htm ]

 

So beginnt das Kapitel „Kommunismus. – Produktion der Verkehrsform selbst“ in der deutschen Ideologie.

Man kann nun gewiss nicht behaupten, dass das was da steht und erst recht das was noch folgt zu den leicht verständlichen Passagen der „Deutschen Ideologie“ gehört.

„Kommunismus“ soll demnach zu aller erst bedeuten, dass die Menschen, jedes Individuum, seine/ihre Geschichte selbst macht.

An die Stelle von „Schicksal“ tritt die freie Entscheidung und damit die „Unmöglichmachung alles von den Individuen unabhängig Bestehenden, sofern dies Bestehende dennoch nichts als ein Produkt des bisherigen Verkehrs der Individuen selbst ist“.

D.h. insoweit unser Schicksal von uns und unseren Mitmenschen bestimmt ist, bestimmen wir selbst. Umgekehrt: Vor einer Natur, die sich von Menschen nicht bestimmen lässt, endet diese unsere gemeinsame Macht.

„Die Kommunisten behandeln also praktisch die durch die bisherige Produktion und Verkehr erzeugten Bedingungen als unorganische, ohne indes sich einzubilden, es sei der Plan oder die Bestimmung der bisherigen Generationen gewesen, ihnen Material zu liefern, und ohne zu glauben, daß diese Bedingungen für die sie schaffenden Individuen unorganisch waren.
Der Unterschied zwischen persönlichem Individuum und zufälligem Individuum ist keine Begriffsunterscheidung, sondern ein historisches Faktum.
Diese Unterscheidung hat zu verschiedenen Zeiten einen verschiedenen Sinn, z.B. der Stand als etwas dem Individuum Zufälliges im 18. Jahrhundert, plus ou moins auch die Familie. Es ist eine Unterscheidung, die nicht wir für jede Zeit zu machen haben, sondern die jede Zeit unter den verschiedenen Elementen, die sie vorfindet, selbst macht, und zwar nicht nach dem Begriff, sondern durch materielle Lebenskollisionen gezwungen.“
[Marx: Die deutsche Ideologie. Philosophie von Platon bis Nietzsche, S. 49102-49103 (vgl. MEW Bd. 3, S. 71) http://www.digitale-bibliothek.de/band2.htm ]

„Der Unterschied zwischen persönlichem Individuum und zufälligem Individuum ist keine Begriffsunterscheidung, sondern ein historisches Faktum.“

Mein „Ich“ ist zunächst bestimmt dadurch, wo und wann ich geboren bin, durch mein Geschlecht, meine DNA und durch die Frage, welchen gesellschaftlichen Rang meine Eltern hatten.
All dies ist mir zufällig.

Wobei diese Zufälle eine unterschiedliche Qualität haben, weil sie einerseits meiner Natur und andererseits meiner gesellschaftlichen Position geschuldet sind. Gleichzeitig wechselwirken Natur und Gesellschaft vielfältig.


Zum persönlichen Individuum werde ich durch das, was ich aus mir mache.

Das hängt aber eng mit der Frage zusammen, was ich überhaupt aus mir machen kann.

 

„Kommunismus“ hieße demnach, dass mich keine Gesellschaft daran hindert zu entfalten, was in mir steckt.

Das wäre demnach aber das genaue Gegenteil von „Kollektivismus“ im Sinne von: Du musst sein wie alle anderen.

Das hat aber sehr viel Ähnlichkeit mit Martin Luther Kings berühmter „I have a dream ..“-Rede. „Kommunismus“ wäre demnach genau diesen Traum zu träumen.

 

Weil ich gleichviel wert bin, wie alle anderen, darf ich so sein, wie es mir gemäss ist.

Wie weit ich dabei komme, hängt davon ab, welche Möglichkeiten mir meine Zeit bietet. Und meine Zeit, die Gesellschaft, die in meiner Gegenwart existiert, sieht sich in der Verpflichtung mir und jedem anderen auch diese Möglichkeit der Selbstverwirklichung in ihren historischen Grenzen zu bieten.

 

„Was als zufällig der späteren Zeit im Gegensatz zur früheren erscheint, also auch unter den ihr von der früheren überkommenen Elementen, ist eine Verkehrsform, die einer bestimmten Entwicklung der Produktivkräfte entsprach. Das Verhältnis der Produktionskräfte zur Verkehrsform ist das Verhältnis der Verkehrsform zur Tätigkeit oder Betätigung der Individuen. (Die Grundform dieser Betätigung ist natürlich die materielle, von der alle andre geistige, politische, religiöse etc. abhängt. Die verschiedene Gestaltung des materiellen Lebens ist natürlich jedesmal abhängig von den schon entwickelten Bedürfnissen, und sowohl die Erzeugung wie die Befriedigung dieser Bedürfnisse ist selbst ein historischer Prozeß, der sich bei keinem Schafe oder Hunde findet (widerhaariges Hauptargument Stirners adversus hominem), obwohl Schafe und Hunde in ihrer jetzigen Gestalt allerdings, aber malgré eux, Produkte eines historischen Prozesses sind.) Die Bedingungen, unter denen die Individuen, solange der Widerspruch noch nicht eingetreten ist, miteinander verkehren, sind zu ihrer Individualität gehörige Bedingungen, nichts Äußerliches für sie, Bedingungen, unter denen diese bestimmten, unter bestimmten Verhältnissen existierenden Individuen allein ihr materielles Leben und was damit zusammenhängt produzieren können, sind also die Bedingungen ihrer Selbstbetätigung und werden von dieser Selbstbetätigung produziert.Die bestimmte Bedingung, unter der sie produzieren, entspricht also, solange der Widerspruch noch nicht eingetreten ist, ihrer wirklichen Bedingtheit, ihrem einseitigen Dasein, dessen Einseitigkeit sich erst durch den Eintritt des Widerspruchs zeigt und also für die Späteren existiert. Dann erscheint diese Bedingung als eine zufällige Fessel, und dann wird das Bewußtsein, daß sie eine Fessel sei, auch der früheren Zeit untergeschoben.“

[Marx: Die deutsche Ideologie. Philosophie von Platon bis Nietzsche, S. 49103 – 49104 (vgl. MEW Bd. 3, S. 71-72) http://www.digitale-bibliothek.de/band2.htm ]

Es geht also um die Freiheit des Individuums, nicht als etwas bloß behauptetes sondern als wirklich gelebte Freiheit.

Diese Freiheit ist jeweils historisch bedingt und beschränkt und davon abhängig wie die Menschen ihren Stoffwechsel mit der Natur organisieren.
Dabei begrenzen uns unsere Fähigkeiten und Werkzeuge, aber auch die Beziehungen, die wir untereinander und miteinander eingehen.

Sie können gleichermaßen ein Moment der Freiheit oder der Unfreiheit sein.

 

Die Idee, der Einzelne könne unabhängig von seiner Gemeinschaft mit allen anderen, die Idee der Robinsonade, erweist dagegen als ahistorische Illusion, die nur in der persönlichen Katastrophe enden kann.

Der einsame Cowboy stirbt nicht nur einsam, er stirbt vor allem lange vor seiner Zeit.

Der Einzige und seine Einbildung

„Ich hab mein Sach auf nichts gestellt“ behauptet Max Stirner in seinem „Der Einzige und sein Eigentum“ und fährt fort:

„Was soll nicht alles meine Sache sein! Vor allem die gute Sache, dann die Sache Gottes, die Sache der Menschheit, der Wahrheit, der Freiheit, der Humanität, der Gerechtigkeit; ferner die Sache meines Volkes, meines Fürsten, meines Vaterlandes; endlich gar die Sache des Geistes und tausend andere Sachen. Nur meine Sache soll niemals meine Sache sein. »Pfui über den Egoisten, der nur an sich denkt!«

Sehen wir denn zu, wie diejenigen es mit ihrer Sache machen, für deren Sache wir arbeiten, uns hingeben und begeistern sollen.“

[Stirner: Der Einzige und sein Eigentum. Philosophie von Platon bis Nietzsche, S. 47277 (vgl. Stirner-Einzige, S. 22)

http://www.digitale-bibliothek.de/band2.htm ]

 

Vor allem nach Hitler und seinen ungeheuren Verbrechen war dies fast das Glaubensbekenntnis einer ganzen Generation von missbrauchten Hitlerjungen und um ihre Jugend betrogenen „deutschen Mädchen“.

Dass das Menschenopfer Gott nicht wohlgefällig ist, wissen wir seit Abrahams Tagen. Allerdings ist in unseren Tagen an die Stelle des Götzen der „Sachzwang“ getreten, was aber gegebenenfalls am Blutdurst nichts ändert.

Stirners Antwort auf diese Zumutung ist das Bekenntnis zum Egoismus.
Er stützt seine Argumentation darauf, dass er sagt: „Alle denken an sich, nur ich soll an andere denken.“
Dieses etwas simple Argument wird nun durchgekaut. Erst kommt der egoistische Gott, dann die ebenso egoistische Menschheit:

 

„Wie steht es mit Menschheit, deren Sache wir zur unsrigen machen sollen? Ist ihre Sache etwa die eines andern und dient die Menschheit einer höheren Sache? Nein, die Menschheit sieht nur auf sich, die Menschheit will nur die Menschheit fördern, die Menschheit ist sich selber ihre Sache. Damit sie sich entwickle, läßt sie Völker und Individuen in ihrem Dienst sich abquälen, und wenn diese geleistet haben, was die Menschheit braucht, dann werden sie von ihr aus Dankbarkeit auf den Mist der Geschichte geworfen. Ist die Sache der Menschheit nicht eine – rein egoistische Sache?“

[Stirner: Der Einzige und sein Eigentum. Philosophie von Platon bis Nietzsche, S. 47278 (vgl. Stirner-Einzige, S. 22-23) http://www.digitale-bibliothek.de/band2.htm ]

 

Uns fällt sofort die „Heilige Familie“ ein, denn die Menschheit ist genauso ein Abstraktum wie Obst. Und so wenig man Obst als Obst essen kann, sondern immer nur Äpfel, Birnen, Zwetschgen, Mirabellen etc.pp. so wenig wird man der „Menschheit“ jemals persönlich begegnen.

 

Entsprechend vernichtend fällt auch das Urteil von Marx und Engels über Stirner aus:

 

„Für die Philosophen ist es eine der schwierigsten Aufgaben, aus der Welt des Gedankens in die wirkliche Welt herabzusteigen. Die unmittelbare Wirklichkeit des Gedankens ist die Sprache. Wie die Philosophen das Denken verselbständigt haben, so mußten sie die Sprache zu einem eignen Reich verselbständigen. Dies ist das Geheimnis der philosophischen Sprache, worin die Gedanken als Worte einen eignen Inhalt haben. Das Problem, aus der Welt der Gedanken in die wirkliche Welt herabzusteigen, verwandelt sich in das Problem, aus der Sprache ins Leben herabzusteigen.

Wir haben gezeigt, daß die Verselbständigung der Gedanken und Ideen eine Folge der Verselbständigung der persönlichen Verhältnisse und Beziehungen der Individuen ist. Wir haben gezeigt, daß die ausschließliche systematische Beschäftigung mit diesen Gedanken von seiten der Ideologen und Philosophen und damit die Systematisierung dieser Gedanken eine Folge der Teilung der Arbeit ist, und namentlich die deutsche Philosophie eine Folge der deutschen kleinbürgerlichen Verhältnisse. Die Philosophen hätten ihre Sprache nur in die gewöhnliche Sprache, aus der sie abstrahiert ist, aufzulösen, um sie als die verdrehte Sprache der wirklichen Welt zu erkennen und einzusehen, daß weder die Gedanken noch die Sprache für sich ein eignes Reich bilden; daß sie nur Äußerungen des wirklichen Lebens sind.

Sancho(d.i Stirner), der den Philosophen durch Dick und Dünn folgt, muß notwendig nach dem Stein der Weisen, der Quadratur des Zirkels und dem Lebenselixier suchen, nach einem »Wort«, welches als Wort die Wunderkraft besitzt, aus dem Reich der Sprache und des Denkens ins wirkliche Leben hinauszuführen. Sancho ist so angesteckt von seinem langjährigen Umgang mit Don Quijote, daß er nicht merkt, daß diese seine »Aufgabe«, dieser sein »Beruf«, selbst nichts weiter als eine Folge des Glaubens an seine dickleibigen philosophischen Ritterbücher ist.

 

Sancho beginnt damit, die Herrschaft des Heiligen und der Ideen in der Welt abermals, und zwar in der neuen Form der Herrschaft der Sprache oder der Phrase, uns vorzuführen. Die Sprache wird natürlich zur Phrase, sobald sie verselbständigt wird.“

[Marx: Die deutsche Ideologie. Philosophie von Platon bis Nietzsche, S. 49831 -49833 (vgl. MEW Bd. 3, S. 432-433)

http://www.digitale-bibliothek.de/band2.htm ]

 

„Feuerbach sagte, »Philosophie der Zukunft«, p. 49:

»Das Sein, gegründet auf lauter Unsagbarkeiten, ist darum selbst etwas Unsagbares. Jawohl, das Unsagbare. Wo die Worte aufhören, da fängt erst das Leben an, erschließt sich erst das Geheimnis des Seins.«

Sancho hat den Übergang aus dem Sagbaren in das Unsagbare, er hat das Wort gefunden, welches zu gleicher Zeit mehr und weniger ist als ein Wort.

Wir haben gesehen, daß das ganze Problem, vom Denken zur Wirklichkeit und daher von der Sprache zum Leben zu kommen, nur in der philosophischen Illusion existiert, d.h. nur berechtigt ist für das philosophische Bewußtsein, das über die Beschaffenheit und den Ursprung seiner scheinbaren Trennung vom Leben unmöglich klar sein kann. Dies große Problem, sobald es überhaupt in den Köpfen unsrer Ideologen spukte, mußte natürlich den Verlauf nehmen, daß zuletzt einer dieser fahrenden Ritter ein Wort zu suchen ausging, das als Wort den fraglichen Übergang bildete, als Wort aufhörte, bloßes Wort zu sein, als Wort in mysteriöser, übersprachlicher Weise aus der Sprache heraus auf das wirkliche Objekt, das es bezeichnet, hinweist, kurz, unter den Worten dieselbe Rolle spielt wie der erlösende Gottmensch unter den Menschen in der christlichen Phantasie. Der hohlste und dürftigste Schädel unter den Philosophen mußte die Philosophie damit »verenden « lassen, daß er seine Gedankenlosigkeit als das Ende der Philosophie und damit als den triumphierenden Eingang in das »leibhaftige« Leben proklamierte. Seine philosophierende Gedankenlosigkeit war ja schon von selbst das Ende der Philosophie, wie seine unaussprechliche Sprache das Ende aller Sprache. Sanchos Triumph war noch dadurch bedingt, daß er unter allen Philosophen am Allerwenigsten von den wirklichen Verhältnissen wußte, daher bei ihm die philosophischen Kategorien den letzten Rest von Beziehung auf die Wirklichkeit und damit den letzten Rest von Sinn verloren.

Und nun gehe ein. Du frommer und getreuer Knecht Sancho, gehe oder vielmehr reite auf Deinem Grauen ein zu Deines Einzigen Selbstgenuß, »verbrauche« Deinen »Einzigen« bis auf den letzten Buchstaben,...“

[Marx: Die deutsche Ideologie. Philosophie von Platon bis Nietzsche, S. 49836 -49838 (vgl. MEW Bd. 3, S. 435-436) http://www.digitale-bibliothek.de/band2.htm ]

Während Stirner mit Abstraktionen kämpft, begegnen mir jeden Tag Menschen. Und ihnen gegenüber habe ich das ganz praktische Problem, dass ich nicht ihre Sache, ihr Eigentum, ihr Sklave sein will, sie aber das gleiche von mir erwarten.

Der scheinbar so illusionslose Egoismus Stirners steckt voller Illusionen.

 

„Fort denn mit jener Sache, die nicht ganz und gar meine Sache ist! Ihr meint, meine Sache müsse wenigstens die »gute Sache« sein? Was gut, was böse! Ich bin ja selber meine Sache, und ich bin weder gut noch böse. Beides hat für mich keinen Sinn.

Das Göttliche ist Gottes Sache, das Menschliche Sache »des Menschen«. Meine Sache ist weder das Göttliche noch das Menschliche, ist nicht das Wahre, Gute, Rechte, Freie usw., sondern allein das Meinige, und sie ist keine allgemeine, sondern ist – einzig, wie ich einzig bin.

Mir geht nichts über mich! „

[Stirner: Der Einzige und sein Eigentum. Philosophie von Platon bis Nietzsche, S. 47280-47281 (vgl. Stirner-Einzige, S. 24) http://www.digitale-bibliothek.de/band2.htm ]

 

Es liegt mir völlig fern jedem meiner Mitmenschen (und natürlich ganz besonders mir) das Recht auf ein gutes, sattes, sinnerfülltes Leben ab zu sprechen.

Das Problem bei diesem „Mir geht nichts über mich!“ ist, das es das genaue Gegenteil von dem ist, was Brecht als „klugen Egoismus“ bezeichnete.

Es geht nicht darum, wie Stirner meint, irgendeine Sache heilig zu sprechen, es geht nur darum, meinen Mitmenschen das gleiche Recht auf Vertreten und Verteidigen ihrer Interessen zu zu sprechen als mir selbst.

Das ist kluger Egoismus. Und sobald ich an diesem Punkt bin, weiß ich, dass Stirners Konzepte etwas zu simpel und zu einfach sind für diese komplizierte Welt.

 

Um so mehr erstaunt, dass sich Deuschlands Geschichte in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts fast wie eine Paraphrase auf Stirner auffassen lässt:
Der „Egoismus“ der Nationalidee hat Deutschland und die Welt in Trümmer gelegt, der Ich-Egoismus der Kriegskinder war darauf die angemessene Antwort.

Überhaupt unterstellt das von Hans G.Helms verfasste Nachwort meiner Hanser-Ausgabe aus dem Jahre 1968 des „Einzigen“ Stirner eine große Wirkungsgeschichte.

„In den ersten drei Jahrzehnten des 20.Jahrhunderts befanden sich unter den Anhängern Stirners staats- und herrschaftsfeindliche Anarchisten wie Mackay, Rudolf Rocker, Gustav Landauer und Erich Mühsam und totalitäre Herrschaft anstrebende Faschisten wie Mussolini und Hitlers Mentor und erster Chef des „Völkischen Beobachters“, Dietrich Eckart.“
( Max Stirner Der Einzige und sein Eigentum und andere Schriften, Herausgegeben von Hans G.Helms, Hanser München 1968, S.273-274)

„Als noch wirkungsvoller denn die direkt auf Stirner bezogene Publizistik erwiesen sich die indirekten Bezüge und Verherrlichungen in künstlerischer Gestaltung. Nach den Russen Turgenev und Dostoevksij und den deutschen Literaten und Musikern des Vormärz ließen sich von Stirner – zumeist positiv – beeinflussen: Bruno Wille, der Begründer der Volksbühnenbewegung, die literatischen Brüder Heinrich und Julius Hart und ihre Freunde Carl Henckell, Ola Hansson und Stanislaw Przybyszewski; Carl Sternheim ebenso wie Frank Wedekind und Paul Scheerbarth; Ludwig Rubiner, Raoul Hausmann, Theodor Plievier und der anonyme Erfolgsautor B.Traven, Georg Brandes, Georg Bernhard Shaw, Andre Gide, Andre Breton, Francis Picabia und Alfred Kubin sind zu nennen.“ (a.a.O S.274).

Das Namedropping geht dann noch weiter und auch Heiddeger, Carl Schmitt, Rudolf Steiner, Albert Camus und Satre bleiben nicht unerwähnt.

Selbst wenn man an der behaupteten Bedeutung Stirners hier und da Fragezeichen setzt, bleibt doch eine erstaunliche geistige Nachwirkung für jemand von dem Marx und Engels urteilen:

„Der hohlste und dürftigste Schädel unter den Philosophen mußte die Philosophie damit »verenden « lassen, daß er seine Gedankenlosigkeit als das Ende der Philosophie und damit als den triumphierenden Eingang in das »leibhaftige« Leben proklamierte.“

 

Es kann unmöglich die Grösse seines Denkens gewesen sein, die ihm diese Nachwirkung bescherte.

Andererseits: Egoismus, Egoismus ohne das geringste schlechte Gewissen, ist heute eine so selbstverständliche Haltung, dass die Inszenierung als Tabubrecher, in der sich Stirner und seine Nachfolger so gerne gefallen, unbeschreiblich lächerlich ist.

Aber auch die angebliche Gegenpartei, für die „Hedonismus“ das schlimmste Schimpfwort überhaupt ist, ist mindestens genauso abgeschmackt.
Es ist ein Schein-Gegensatz um den ein aufwendiger Schein-Kampf geführt wird.

 

Warum soll ein Staat überhaupt die Unterstützung seiner Bürger geniessen, wenn sein Zweck nicht darin besteht, seinen Bürgern Wohlstand und Wohlergehen zu sichern?
Institution sind niemals Selbstzweck und sie müssen verschwinden, wenn ihre Kosten ihren Nutzen für die BürgerInnen übersteigen.

 

Was die Egoisten angeht: Jede Gesellschaft geht unter, wenn sich ihre BürgerInnen nur für das eigene Wohl interessieren und engagieren. Und kein Individuum ist lebensfähig ohne ein gesellschaftliches Umfeld.

Wie gut es mir geht, wie gut ich lebe, hängt ganz wesentlich vom guten funktionieren der Gesellschaft und ihrer Institutionen ab.

 

In der verdrehten Welt Stirners stand der „Egoismus des Staates“ gegen den „Egoismus des Einzelnen“.

In der wirklichen Welt verlangen die Repräsentanten, vor allem die eigentlich überlebter Institutionen, Unterwerfung und Gehorsam, während sich die Stirnerschen Egoisten durch nichts, auch nicht von altehrwürdigen Institutionen, von der eigenen Bereicherung abbringen lassen wollen. Der Kompromiss, den oft beide finden, ist, solche Institutionen in ebenso viele Quellen privater Bereicherung zu verwandeln.
Diese Misere spiegelt sich in der Stirnerschen Ideologie.

Morgens Fischer, mittags Jäger – die Befreiung des Individuums durch eine „wirkliche Gemeinschaft“

„Die Verwandlung der persönlichen Mächte (Verhältnisse) in sachliche durch die Teilung der Arbeit kann nicht dadurch wieder aufgehoben werden, daß man sich die allgemeine Vorstellung davon aus dem Kopfe schlägt, sondern nur dadurch, daß die Individuen diese sachlichen Mächte wieder unter sich subsumieren und die Teilung der Arbeit aufheben. Dies ist ohne die Gemeinschaft nicht möglich. Erst in der Gemeinschaft [mit Andern hat jedes] Individuum die Mittel, seine Anlagen nach allen Seiten hin auszubilden; erst in der Gemeinschaft wird also die persönliche Freiheit möglich. In den bisherigen Surrogaten der Gemeinschaft, im Staat usw. existierte die persönliche Freiheit nur für die in den Verhältnissen der herrschenden Klasse entwickelten Individuen und nur, insofern sie Individuen dieser Klasse waren. Die scheinbare Gemeinschaft, zu der sich bisher die Individuen vereinigten, verselbständigte sich stets ihnen gegenüber und war zugleich, da sie eine Vereinigung einer Klasse gegenüber einer andern war, für die beherrschte Klasse nicht nur eine ganz illusorische Gemeinschaft, sondern auch eine neue Fessel. In der wirklichen Gemeinschaft erlangen die Individuen in und durch ihre Assoziation zugleich ihre Freiheit.“

[Marx: Die deutsche Ideologie. Philosophie von Platon bis Nietzsche, S. 49108-49109 (vgl. MEW Bd. 3, S. 74-75)

http://www.digitale-bibliothek.de/band2.htm ]

 

Unsere Freiheit wird also dadurch bedingt wie wir uns in Gemeinschaften organisieren. Das Ziel muss dabei die freie Entfaltung jedes Individuums sein. „In der wirklichen Gemeinschaft erlangen die Individuen in und durch ihre Assoziation zugleich ihre Freiheit.“ Das ist der Maßstab an dem jede Gemeinschaft auf ihre Tauglichkeit zu prüfen ist, an der sich ermisst, ob eine Gemeinschaft eine wirklich Gemeinschaft ist bzw. wie weit sie schon auf dem Weg fortgeschritten ist.

Die bloße Behauptung eine Gemeinschaft diene dem Wohl aller, reicht dafür keineswegs.

Dabei geht es vor allem um die Überwindung jener Bornierheit, die mich zum Schuster macht, weil ich als Schuster geboren wurde und für den Rest meines Lebens erwartet wird, dass ich bei meinem Leisten bleibe.

Ich soll die Freiheit haben, heute ein Anderer zu sein als gestern.

„Ferner ist mit der Teilung der Arbeit zugleich der Widerspruch zwischen dem Interesse des einzelnen Individuums oder der einzelnen Familie und dem gemeinschaftlichen Interesse aller Individuen, die miteinander verkehren, gegeben; und zwar existiert dies gemeinschaftliche Interesse nicht bloß in der Vorstellung, als »Allgemeines«, sondern zuerst in der Wirklichkeit als gegenseitige Abhängigkeit der Individuen, unter denen die Arbeit geteilt ist. Und endlich bietet uns die Teilung der Arbeit gleich das erste Beispiel davon dar, daß, solange die Menschen sich in der naturwüchsigen Gesellschaft befinden, solange also die Spaltung zwischen dem besondern und gemeinsamen Interesse existiert, solange die Tätigkeit also nicht freiwillig, sondern naturwüchsig geteilt ist, die eigne Tat des Menschen ihm zu einer fremden, gegenüberstehenden Macht wird, die ihn unterjocht, statt daß er sie beherrscht. Sowie nämlich die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat jeder einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muß es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will – während in der kommunistischen Gesellschaft, wo jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden. Dieses Sichfestsetzen der sozialen Tätigkeit, diese Konsolidation unsres eignen Produkts zu einer sachlichen Gewalt über uns, die unsrer Kontrolle entwächst, unsre Erwartungen durchkreuzt, unsre Berechnungen zunichte macht, ist eines der Hauptmomente in der bisherigen geschichtlichen Entwicklung, und eben aus diesem Widerspruch des besondern und gemeinschaftlichen Interesses nimmt das gemeinschaftliche Interesse als Staat eine selbständige Gestaltung, getrennt von den wirklichen Einzel- und Gesamtinteressen, an, und zugleich als illusorische Gemeinschaftlichkeit, aber stets auf der realen Basis der in jedem Familien-und Stamm-Konglomerat vorhandenen Bänder, wie Fleisch und Blut, Sprache, Teilung der Arbeit im größeren Maßstabe und sonstigen Interessen – und besonders, wie wir später entwickeln werden, der durch die Teilung der Arbeit bereits bedingten Klassen, die in jedem derartigen Menschenhaufen sich absondern und von denen eine alle andern beherrscht. Hieraus folgt, daß alle Kämpfe innerhalb des Staats, der Kampf zwischen Demokratie, Aristokratie und Monarchie, der Kampf um das Wahlrecht etc. etc., nichts als die illusorischen Formen sind, in denen die wirklichen Kämpfe der verschiednen Klassen untereinander geführt werden (wovon die deutschen Theoretiker nicht eine Silbe ahnen, trotzdem daß man ihnen in den »Deutsch-Französischen Jahrbüchern« und der »Heiligen Familie« dazu Anleitung genug gegeben hatte), und ferner, daß jede nach der Herrschaft strebende Klasse, wenn ihre Herrschaft auch, wie dies beim Proletariat der Fall ist, die Aufhebung der ganzen alten Gesellschaftsform und der Herrschaft überhaupt bedingt, sich zuerst die politische Macht erobern muß, um ihr Interesse wieder als das Allgemeine, wozu sie im ersten Augenblick gezwungen ist, darzustellen. Eben weil die Individuen nur ihr besondres, für sie nicht mit ihrem gemeinschaftlichen Interesse zusammenfallendes suchen, überhaupt das Allgemeine illusorische Form der Gemeinschaftlichkeit, wird dies als ein ihnen »fremdes« und von ihnen »unabhängiges«, als ein selbst wieder besonderes und eigentümliches »Allgemein«-Interesse geltend gemacht, oder sie selbst müssen sich in diesem Zwiespalt bewegen, wie in der Demokratie. Andrerseits macht denn auch der praktische Kampf dieser beständig wirklich den gemeinschaftlichen und illusorischen gemeinschaftlichen Interessen entgegentretenden Sonderinteressen die praktische Dazwischenkunft und Zügelung durch das illusorische »Allgemein«-Interesse als Staat nötig. Die soziale Macht, d.h. die vervielfachte Produktionskraft, die durch das in der Teilung der Arbeit bedingte Zusammenwirken der verschiedenen Individuen entsteht, erscheint diesen Individuen, weil das Zusammenwirken selbst nicht freiwillig, sondern naturwüchsig ist, nicht als ihre eigne, vereinte Macht, sondern als eine fremde, außer ihnen stehende Gewalt, von der sie nicht wissen woher und wohin, die sie also nicht mehr beherrschen können, die im Gegenteil nun eine eigentümliche, vom Wollen und Laufen der Menschen unabhängige, ja dies Wollen und Laufen erst dirigierende Reihenfolge von Phasen und Entwicklungsstufen durchläuft.“

[Marx: Die deutsche Ideologie. Philosophie von Platon bis Nietzsche, S. 49027-49030 (vgl. MEW Bd. 3, S. 32-34)

http://www.digitale-bibliothek.de/band2.htm ]

 

Jetzt müssen wir erstmal durchatmen.

Der Reihe nach: Die Teilung der Arbeit, wird hier gesagt, bedingt auch die Teilung der Gesellschaft. Sie ist die eigentliche Basis der Klassengesellschaft.

Das heisst umgekehrt: Ohne Aufhebung dieser Teilung keine wirkliche Freiheit.

Es ist die Utopie von der Identität individueller und kollektiver Interessen.

Das bedeutet aber, erst wenn ich leben kann und in der Lage bin „heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden“, erst wenn diese Bedingung gegeben ist, bin ich frei.

Das kann aber nur so sein, wenn die notwendige Arbeit, die Arbeit, die wir leisten müssen um leben zu können, essen und trinken, wohnen und nicht frieren, mich hübsch kleiden, baden, waschen, ins Kino oder Theater gehen, nur noch einen Bruchteil unseres Lebens ausmacht.

Und wenn ich leben kann ohne in irgendeinem Zusammenhang funktionieren zu müssen.

Die Gesellschaft so zu verändern, dass Mittel und Möglichkeiten der Gesellschaft auch meine Mittel und Möglichkeiten sind, dass ich meinen Beitrag leiste, dass ich aber auch gehalten werde und mich nach den Möglichkeiten dieser Gesellschaft frei entfalten kann, das ist ein ausgesprochen anspruchsvolles Programm. Und dieses Programm nennen die beiden Autoren „Kommunismus“.

Andre Gorz hat diese Marxsche Arbeitsutopie einer grundsätzlichen Kritik unterzogen.

Befreiung der Arbeit oder Befreiung von der Arbeit ?