Nicht wenige, darunter unser Held Tellenbach, bezweifeln das Myschkin überhaupt an Frauen interessiert ist:
„Daß er dieses Widersprüchliche im Status seines Erwachsenseins nicht als Widerspruch erlebt und daß somit dieser Widerspruch in ihm auch nicht nach Auflösung drängt: darin liegt das Eigenartige der Verschränkung von Unerwachsenem und Erwachsenem in Myschkin, der idios kosmos dieses >Idioten<. Ob dies auch für die Form seiner Geschlechtlichkeit gilt, m.aAV.: ob es sich hier um ein Konglomerat von erwachsenem und unerwachsenem Eros handelt, wäre eigens zu untersuchen. Das Erotische ist ja nicht in jedem Menschen ein unbedingt bestimmendes Daseinsmoment. Vom Narren etwa - man denke nur an Don Quijote - vom Narren also und seinem ernsten Spiel konnte man dies nicht behaupten, wohl aber z.B. vom Heiligen, weil hier das Erotische bestimmt ist, von dem konsumiert zu werden, was bei Goethe „höhere Begattung“, bei Nietzsche „Genie der Herzens“ heißt. Daß eine derartige Metamorphose in Myschkins Beziehung zu Nastasja immer wieder intendiert wird, scheint mir deutlich; aber daß auch sie vom Status des >erwachsenen Kindes< geformt wird, ist nicht ohne Bedeutung für ihr Scheitern.“
Belegstelle
In Heidelberg, so hört man, soll man der Meinung sein, dass ein Vogel auf der Neckarbrücke normalerweise ein Spatz und kein Kolibri ist. Aber selbst für so exotische Vögel wie Kolibris ist das „Erotische ein bestimmendes Daseinsmoment“ (für Spatzen so wie so).
Es muss sich um sehr seltsame Vögel oder Menschen handeln, die nicht vom Erotischen wenigstens (mit)bestimmt sind.
Wenn Tellenbach für Myschkin unterstellt, daß er kein Interesse an Sexualität hat, dann sollte man irgendeine Spur von Beweis erwarten. Aber da ist nichts außer dem allgemeinen Gerede vom Kind.
Und deswegen gibt es auch keinen Grund Tellenbach zu folgen.
Was allerdings irritiert, und zwar nicht nur Tellenbach, ist, dass Myschkin zwar die Zuneigung fast sämtlicher Frauen in diesem Roman gewinnt und sogar relativ schnell und leicht, dass seine zwei Versuche zu einer engeren Beziehung mit Natasja und Aglaja zu kommen, aber grandios scheitern.
Und dass sein Vorgehen dabei, ganz vorsichtig formuliert, seltsam ist.
So hat er eine panische Scheu davor, überhaupt von Liebe zu reden und seine Gefühle so zu nennen. Und er hat eine ebenso panische Scheu davor überhaupt aktiv zu werden.
Im Grunde gleicht er jener Prinzessin Dornröschen, zu der der erlösende Prinz auch nur durch dichtes Dornengestrüpp vordringen kann um sie mit einem Kuß aus der Erstarrung zu erlösen.
Nur mit dem Unterschied, dass Prinzessinnen normalerweise auf ihren Prinzen warten und die Prinzen ausreiten um Prinzessinnen zu suchen.
Der Fall, dass eine Prinzessin zu ihrem verwunschenen Prinzen reitet und ihn befreit, ist ziemlich selten.
Myschkin ist kein Krieger. Deswegen kann er auch kein Chevalier oder Kavalier sein. Myschkin möchte aber der „weisse Ritter“ sein, der die Frau vor dem bösen Drachen rettet. Aber normalerweise ist er dafür zu langsam und zu ungeschickt.
Zweimal hat er Glück: In der Schweiz kann er eine in jeder Hinsicht arme Frau vor dem Spott der Kinder schützen.
Und an Natasjas Geburtstag als sie verlobt werden soll, opfert er sich und erklärt er werde sie heiraten.
Wobei es ja gar kein Opfer ist, denn er liebt sie.
Es passiert sogar zum ersten, letzten und einzigen Mal, dass er sagt: „Ich liebe diese Frau !“. Ansonsten bestreitet er immer, dass er liebt und behauptet seine Gefühle seien anderer Natur.
Aber weil er kein Krieger und kein Jäger ist, sondern einer, der schon zu Zeit der Jäger und Sammler besser auf die Kinder aufgepasst hätte, kann er selten zum richtigen Zeitpunkt richtig handeln.
So sitzt er auf der Parkbank neben Aglaja als habe er überhaupt keine Hände und als sei sein Mund nur zum Sprechen gemacht. D.h. nur sein Verstand arbeitet und versagt prompt an der Überforderung.
Umgekehrt macht er Natasja sofort einen Heiratsantrag u.a. um sie vor einer arrangierten Heirat bzw. dem unberechenbaren Rogoschin zu retten. Dabei ist nicht klar, ob es sich dabei um mehr als eine Verstandesentscheidung gehandelt hat. Auf jeden Fall befindet er sich in einer Gesprächssituation und selbst wenn er da, weil er sehr erregt ist, nicht gerade brilliert, ist er doch weit davon entfernt hilflos oder ungeschickt zu sein.
In jenen „fürchterlichen 2 Wochen“ in denen er mit Natasja zusammen war, konnte aber Reden unmöglich ausreichen.
Und deswegen wurden diese Wochen auch fürchterlich.
Zwar weiß Myschkin, dass ihm die Fähigkeiten zum Rittertum fehlen, aber das wird ihn nicht gehindert haben, schon als Junge davon zu träumen, wie er den Drachen tötet, die Prinzessin rettet um dann von ihr mit allem was sie hat belohnt zu werden.
Man lässt nicht so leicht von so einem Traum, nur weil man ein Idiot ist.
Und so nutzt er auch die Gelegenheiten, die ihm sein Leben bietet, sich als Ritter zu erweisen, so gut er kann.
Myschkin erzählt den Jepantschinschen Frauen bei seinem Antrittsbesuch von seinem früheren Leben und davon, wie glücklich er war, in der Schweiz, in der Heilanstalt.
Und zur Begründung dieses seines Glückszustandes erzählt er ihnen die Geschichte von der schwindsüchtigen, krebskranken Maria und den Dorfkindern und davon wie er diese Dorfkinder von der Feindschaft zur Freundschaft mit Maria bekehrt hat.
„»Nun gut«, sagte Adelaida wieder in ihrer hastigen Art. »Aber wenn Sie ein solcher Kenner von Gesichtern sind, dann sind Sie sicherlich auch verliebt gewesen; ich habe also richtig vermutet. Erzählen Sie uns also davon!«
»Ich bin nicht verliebt gewesen«, antwortete der Fürst ebenso leise und ernst wie vorher; »ich ... ich war auf andere Weise glücklich.«
»Wie denn? Wodurch denn?«
»Nun gut, ich will es Ihnen erzählen«, sagte der Fürst; er schien in tiefes Nachdenken versunken zu sein.“
[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 19650
(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 3, S. 105)
http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]
„»Dort ... dort gab es viele Kinder, und ich bin die ganze Zeit über mit Kindern zusammen gewesen, nur mit Kindern. Es waren die Kinder jenes Dorfes, eine ganze Schar, die die Schule besuchte. Unterrichtet habe ich sie nicht, oh nein; dazu war ein Schullehrer dort, Jules Thibaut; ich habe sie wohl auch dies und das gelehrt; größtenteils aber war ich ohne solche Absicht mit ihnen zusammen, und die ganzen vier Jahre habe ich in dieser Weise verlebt. Weiter hatte ich keine Wünsche. Ich sagte ihnen alles, ohne ihnen etwas zu verheimlichen. Ihre Eltern und Verwandten waren alle auf mich ärgerlich, weil die Kinder zuletzt ohne mich gar nicht mehr leben konnten und mich immer umdrängten, und der Schullehrer wurde schließlich mein ärgster Feind. Ich hatte dort viele Feinde, alle um der Kinder willen. Sogar Schneider machte mir Vorwürfe. Und was fürchteten sie eigentlich? Man kann einem Kind alles sagen, geradezu alles; mich hat oft die Wahrnehmung überrascht, wie schlecht die Erwachsenen die Kinder ken-
nen, sogar die Väter und Mütter ihre eigenen Kinder. Man darf den Kindern nichts unter dem Vorwand verheimlichen, sie seien noch zu klein, und es sei für sie noch zu früh, dies und jenes zu wissen. Welch ein trauriger, unglücklicher Gedanke! Und wie gut merken es die Kinder selbst, dass die Väter sie für zu klein und unverständig halten, während sie doch in Wirklichkeit alles verstehen! Die Erwachsenen wissen nicht, dass die Kinder selbst in den schwierigsten Angelegenheiten oft einen sehr guten Rat geben können. Oh Gott, wenn einen so ein hübsches Vögelchen vertrauensvoll und glücklich anblickt, da schämt man sich ja, es zu betrügen! Vögelchen nenne ich die Kinder, weil die Vögelchen das Schönste sind, was es auf der Welt gibt. Übrigens waren alle Leute im Dorf namentlich wegen eines bestimmten Falles über mich aufgebracht ...
Thibaut aber beneidete mich einfach; am Anfang schüttelte er immer den Kopf und wunderte sich darüber, wie es zuging, daß die Kinder bei mir alles begriffen und bei ihm fast nichts; aber als ich ihm dann sagte, wir beide könnten sie nichts lehren, sondern umgekehrt sie uns, da lachte er mich aus. Und wie mochte er mich nur beneiden und verleumden, da er doch selbst in stetem Verkehr mit den Kinder lebte! Durch den Verkehr mit Kindern aber wird die Seele gesund...“
[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 19651-19652
(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 3, S. 106)
http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]
Dieses Loblied auf die Weisheit der Kinder erinnert und das ist sicher nicht zufällig, an ein anderes Loblied auf die Kinder:
„Zu derselben Stunde traten die Jünger zu Jesu und sprachen: Wer ist doch der Größte im Himmelreich?
Jesus rief ein Kind zu sich und stellte das mitten unter sie
und sprach: Wahrlich ich sage euch: Es sei denn, daß ihr umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.
Wer nun sich selbst erniedrigt wie dies Kind, der ist der Größte im Himmelreich.
Und wer ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf.
Wer aber ärgert dieser Geringsten einen, die an mich glauben, dem wäre es besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft werde im Meer, da es am tiefsten ist.“
[Luther-Bibel 1912: Das Matthäusevangelium. Die Luther-Bibel, S. 8514
(vgl. Mt 18, 1-6)
http://www.digitale-bibliothek.de/band29.htm ]
Die Perspektive des Kindes wird hier zur höheren moralischen Warte.
Und das Verhältnis zu den Kindern, zu den „Geringsten“, den Schwächsten zum Prüfstein. „Wer aber ärgert dieser Geringsten einen..“.
Aber nicht nur das, denn: „ Durch den Verkehr mit Kindern aber wird die Seele gesund“.
Kinder sind der Beginn jeder Art von Moral.
Aus der Sorge um sie sind wir soziale Wesen geworden und sie und der Umgang mit ihnen sind der wirkliche Maßstab dafür, wie gerecht es in einer Gesellschaft zu geht.
Zugleich war unsere Kindheit, so sie gut war, unser wirklicher Garten Eden und die Rückkehr dorthin ist das, was wir mit Bloch „Heimat“ nennen.
Und je besser es gelingt dorthin zurück zu kehren, in einen Zustand in dem wir Halt finden, weil wir wissen, dass wir in der Not von anderen gehalten und gerettet werden, desto näher sind wir dem Paradies.
Deswegen können durch den Umgang mit Kindern auch kranke Seelen gesunden.
Myschkins Geschichte geht schließlich so weiter:
„ Die Kinder liebten mich zuerst nicht. Ich war so groß und immer so unbeholfen; ich weiß, daß ich unschön bin ..., dazu kam endlich noch, daß ich Ausländer war. Die Kinder machten sich anfangs über mich lustig, und dann fingen sie sogar an, mit Steinen nach mir zu werfen, als sie gesehen hatten, daß ich Marie küßte. Ich habe sie aber nur ein einziges Mal geküßt ... Nein, lachen Sie nicht!« warf der Fürst hastig ein, um ein Lächeln seiner Zuhörerinnen zu hemmen, »von Liebe war dabei ganz und gar nicht die Rede. Wenn Sie wüßten, was für ein unglückliches Geschöpf sie war, würden Sie selbst sie ebenso bemitleiden, wie ich es tat.“
[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 19653
(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 3, S. 107)
http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]
Er hat sie geküsst, aber er liebt sie nicht. Sie tut ihm leid. Sollen wir das glauben ? Das können wir glauben, denn wer wie er zu den Ersten und den Letzten zugleich gehört, muss mitleiden mit den Letzten, denn es sind seine Brüder und Schwestern. Diese Solidarität ist im wohlverstanden eigenen Interesse.
Trotzdem überrascht wie heftig er sich dagegen wehrt, er könnte die Frau auch begehrt haben. Wäre das eine Sünde ?
„Sie war aus unserem Dorf. Ihre Mutter war eine alte Frau, die in ihrem kleinen, ganz baufälligen, zweifenstrigen Häuschen das eine Fenster mit einer Art Ladentisch versehen hatte; aus diesem Fenster verkaufte sie mit Erlaubnis der Dorfobrigkeit Schnüre, Zwirn, Tabak, Seife, alles immer für ganz wenige Groschen, und davon lebte sie. Sie war krank: die Füße waren ihr dauernd geschwollen, so daß sie immer auf einem Fleck sitzen mußte. Marie war ihre Tochter, zwanzig Jahre alt, schwächlich und mager; schon längst hatte sich bei ihr die Schwindsucht zu entwickeln begonnen; aber trotzdem ging sie immer auf Tagelohn zu schwerer Arbeit in die Häuser: sie scheuerte die Fußböden, wusch Wäsche, fegte die Höfe und versorgte das Vieh. Ein durchreisender französischer Kommis verführte sie und nahm sie mit sich fort, ließ sie aber eine Woche darauf unterwegs im Stich und machte sich heimlich davon. Sich durchbettelnd, kehrte sie wieder nach Hause zurück, ganz schmutzig, in Lumpen, mit zerrissenen Schuhen; sie war eine ganze Woche lang zu Fuß gewandert, hatte im Freien übernachtet und sich stark erkältet; ihre Füße waren wund, die Hände geschwollen und rissig. Übrigens war sie auch vorher nicht hübsch gewesen; nur die Augen waren still, gut und unschuldig. Sie war im höchsten Grade schweigsam. Einmal, noch vor jenem Vorfall, fing sie bei der Arbeit auf einmal an zu singen, und ich weiß noch, daß alle sich wunderten und zu lachen anfingen: ›Marie singt! Was stellt das vor? Marie singt!‹ Sie wurde schrecklich verlegen, und ihr Gesang verstummte dann für ihr ganzes Leben. Damals hatten die Leute sie noch freundlich behandelt; aber als sie krank und heruntergekommen zurückgekehrt war, da hatte niemand mit ihr auch nur das geringste Mitleid. Wie grausam die Menschen in solchen Fällen sind! Was für herzlose Anschauungen sie von solchen Dingen haben! Als erste empfing die Mutter sie mit Zorn und Verachtung: ›Du hast mich jetzt entehrt!‹ Sie war auch die erste, die sie der Schande preisgab: als man im Dorf hörte, daß Marie zurückgekommen sei, da kamen alle eilig herbeigelaufen, um sie zu sehen, und fast das ganze Dorf versammelte sich in dem Häuschen der Alten: Greise, Kinder, Frauen, Mädchen, alle, alle, eine ergrimmte Menge. Marie lag hungrig und zerlumpt auf dem Fußboden zu den Füßen der Alten und weinte. Als alle herbeigelaufen kamen, bedeckte sie ihr Gesicht mit dem aufgelösten, wirren Haar und drückte es gegen den Boden. Alle Umstehenden betrachteten sie, als ob sie ein Scheusal wäre. Die alten Männer brachen den Stab über sie und schalten sie, die jungen Leute machten sich sogar über sie lustig, die Frauen schimpften auf sie und verdammten sie und sahen sie mit solcher Verachtung an wie eine ekle Spinne.
[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 19653 - 19655
(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 3, S. 108)
http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]
Er hat tatsächlich Angst vor der Liebe, die man auch „Sünde“ nennt. Und er hat mehr als einen Grund dazu. Das ganze Dorf verachtet Maria, weil sie auch einmal als Frau begehrt werden wollte, weil sie glücklich sein wollte. Sollte er versuchen sie erneut glücklich zu machen, wäre ihm und ihr die allgemeine Verachtung sicher.
Und eine zweite Sünde wartet auf ihn, denn wie der Hausierer würde er sie sicher nicht für immer, sondern nur für eine Nacht begehren und damit, vielleicht, - dazu müssten wir Maria fragen -, ein sowieso schon erniedrigtes und beleidigtes Wesen noch mehr erniedrigen.
Aber warum verachtet ein ganzes Dorf eine arme Frau, die nichts anderes versucht hat als einmal im Leben glücklich zu sein ?
„Die Mutter ließ das alles geschehen, saß selbst dabei, nickte mit dem Kopf und billigte diese Rohheiten. Die Mutter war damals schon sehr krank und dem Tode nahe (zwei Monate darauf starb sie auch wirklich); sie wußte, daß sie bald sterben werde, wollte sich aber trotzdem bis zu ihrem Tod nicht mit ihrer Tochter versöhnen; sie redete sogar kein Wort mit ihr, jagte sie zum Schlafen auf den Flur hinaus und gab ihr fast nichts zu essen. Sie mußte ihre kranken Füße oft in warmes Wasser stellen; Marie wusch sie ihr alle Tage und versorgte ihre Mutter; aber diese nahm alle Dienstleistungen der Tochter schweigend hin, ohne ihr auch nur ein einziges freundliches Wort zu sagen. Marie ertrug alles, und als ich dann später mit ihr bekannt wurde, nahm ich wahr, daß sie diese Behandlung sogar selbst für gerecht erachtete und sich selbst für das allerschlechteste Geschöpf hielt. Als die Mutter dauernd an das Bett gefesselt war, kamen die alten Frauen des Dorfes der Reihe nach zu ihr, um sie zu pflegen; das ist dort so Sitte. Nun bekam Marie überhaupt nichts mehr zu essen; im Dorf aber jagten alle Leute sie fort, und nicht einmal Arbeit wollte ihr jemand geben. Alle behandelten sie wie eine Verworfene, und die Männer betrachteten sie gar nicht mehr als Weib, solche unflätigen Schimpfworte gebrauchten sie ihr gegenüber. Manchmal, indes nur sehr selten, warfen sie ihr, wenn sie sich sonntags betrunken hatten, des Spaßes halber ein paar Groschen hin, einfach auf die Erde, und Marie hob sie schweigend auf. „
[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 19655 - 19656
(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 3, S. 108-109)
http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]
Franz de Waals erzählt uns in „Der Affe in uns“ (S.221-223) folgende Geschichte:
„Sündenböcke
Der Sieg hat hundert Väter, die Niederlage aber ist eine Waise, sagt man. Die Verantwortung für etwas zu übernehmen, was schiefgegangen ist, zählt nicht zu unseren Stärken. In der Politik betrachten wir Schuldzuweisungen als normal. Da niemand die Schuld gern vor seiner Haustüre hat, tendiert sie zur Wander-
schaft. Das ist eine unschöne Weise der Konfliktlösung: statt zu vermitteln, zu versöhnen und zu feiern, werden die Probleme, die an der Spitze entstehen, nach unten durchgereicht.
Jede Gesellschaft hat ihre Sündenböcke, die extremsten Fälle aber beobachtete ich bei neugegründeten Makakengruppen. Bei diesen Tieraffen gibt es strenge Hierarchien, und während die weiter oben auf der Leiter ihre Rangordnung festlegten - was ziemlich unangenehm werden kann -, war für sie nichts einfacher, als sich en masse gegen die Armen am unteren Ende zu wenden. Ein Weibchen namens Black wurde so oft attackiert, daß die Ecke, in die es
sich flüchtete, bei uns nur noch "Blacks Corner“ hieß. Dort kauerte Black, während der Rest der Gruppe sich um sie scharte, wobei meistens nur gegrunzt und gedroht wurde; manchmal wurde Black aber auch gebissen oder bekam händeweise Haare ausgerissen.
Was den Umgang mit Primaten angeht, hat es meiner Erfahrung nach keinen Zweck, der Versuchung nachzugeben, den Sündenbock aus der Gruppe zu entfernen: schon am nächsten Tag hatte ein anderes Individuum seinen Platz eingenommen. Offensichtlich braucht man ein Auffangbecken für Spannungen. Aber als Black ihr erstes Junges bekam, veränderte sich alles, denn das
Alphamännchen schützte den Säugling. Der Rest der Gruppe weitete die Animositäten gegenüber Black auf deren ganze Familie aus, also wurde auch dieses kleine Affenbaby bedroht und angegrunzt, doch dank des Schutzes von höchster Stelle hatte es nichts zu fürchten und war von dem ganzen Theater nur ziemlich irritiert. Black gewöhnte sich bald an, in der Nähe ihres Sohnes zu
bleiben, wenn Probleme auftauchten, denn dann wagte niemand, gegen sie handgreiflich zu werden.
Sündenböcke sind so effizient, weil sie ein zweischneidiges Schwert darstellen. Erstens löst ein Sündenbock Spannungen zwischen dominanten Individuen. Einen unschuldigen, harmlosen Außenstehenden zu attackieren ist für sie eindeutig weniger riskant, als sich gegenseitig anzugreifen. Zweitens scharen sich so die Höherrangigen um eine gemeinsame Sache. Während sie dem
Sündenbock drohen, binden sie sich aneinander, manchmal umarmen oder besteigen sie sich auch, womit sie zeigen, daß ihre Reihen fest geschlossen sind. Natürlich ist das eine reine Farce: Primaten suchen sich oft Feinde, die kaum Probleme bereiten. Bei einer Gruppe von Tieraffen pflegten alle Mitglieder zum Wasserbassin zu stürmen und ihre eigenen Spiegelbilder zu bedrohen. Im
Gegensatz zu Menschen und Menschenaffen erkennen sich Tieraffen in ihren Spiegelbildern nicht wieder, und so hatte diese Gruppe Feinde gefunden, die sich bequemerweise nicht wehrten. Die Schimpansen von Arnheim hatten ein anderes Ventil. Wenn bei ihnen Spannungen bis zum kritischen Punkt eskalierten, begann einer von ihnen in Richtung der Löwen und Geparden im an-
grenzenden Safaripark zu bellen. Die Großkatzen waren perfekte Feinde. Bald bellte die gesamte Kolonie mit „Wraaa!“ aus vollem Hals diese gräßlichen Bestien an, vor denen sie, durch einen Graben, einen Zaun und einen Streifen Wald getrennt, sicher waren. Die Spannungen waren bald vergessen.
In einer gut etablierten Gruppe gibt es in der Regel kein bestimmtes Individuum, das immer wieder in die Ecke gejagt wird. Vielmehr ist das Fehlen eines Prügelknaben ein sicheres Anzeichen, daß die Hierarchiefragen geklärt sind. Aber die Transposition von Aggressionen, wie Fachleute das nennen, muß nicht not-
wendigerweise bis zur untersten Stufe der sozialen Leiter fortgesetzt werden. Alpha droht Beta, und der schaut sich sofort nach Gamma um. Dann droht Beta Gamma und schielt gleichzeitig nach Alpha, denn für ihn wäre es ideal, wenn jetzt Alpha für Beta Partei ergriffe. Die Transposition von Aggressionen kann über vier bis fünf Stufen weitergehen, bis sie schließlich im Sand verläuft.
Die Intensität der Aggressionen ist oft gering - ungefähr das Äquivalent von Schimpfworten oder Türen schlagen -, erlaubt den Höherrangigen aber noch immer, Dampf abzulassen. Und alle Gruppenmitglieder wissen, was da vor sich geht: bei den ersten Anzeichen von Spannungen an der Spitze gehen die Untergeordneten in Deckung.
Der Ausdruck „Sündenbock“ geht auf das Alte Testament zurück. Bei den Feierlichkeiten am Versöhnungstag wurde zunächst ein Ziegenbock geopfert, ein zweiter aber kam mit dem Leben davon. Auf ihn übertrug man symbolisch alle Sünden des Volkes, und dann schickte man ihn buchstäblich in die Wüste. Auf
diese Weise befreiten sich die Menschen von Schuld. Ähnlich nennt das Neue Testament Jesus „das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinweg nimmt“ (Johannes 1:29).
Modernen Sündenböcken gibt man die Schuld für etwas, was sie gar nicht zu verantworten haben; sie werden dämonisiert und verfolgt. Das gräßlichste Beispiel der Menschheitsgeschichte dafür lieferte der Holocaust, aber es gibt noch ein ganzes Spektrum weiterer Möglichkeiten, auf Kosten anderer Dampf abzulassen, beispielsweise die Hexenverfolgungen im Mittelalter, Vandalismus
durch Fans unterlegener Sportmannschaften und das Verprügeln von Ehefrauen nach Konflikten am Arbeitsplatz. Und die Hauptmerkmale dieses Verhaltens - die Unschuld des Opfers und das Lösen von Spannungen durch Gewalt - sind bei Menschen und anderen Tieren verblüffend ähnlich.“
Soweit de Waals.
Es ist eine sehr grausame Welt, diese Welt der Hierarchien und der Hierarchen.
In dieser Welt gibt es immer jemand und muss es mit Notwendigkeit immer jemand geben, der am unteren Ende der Leiter steht.
Und dem oder der geht es schlecht, denn die „Schwachen und Kranken müssen zugrunde gehen und man soll ihnen dazu helfen.“(Nietzsche,Antichrist).
Man täte den Affen unrecht, wenn man Nietzsche eine Affenmoral unterstellen würde, denn immerhin rettet der Oberaffe in diesem Fall die Situation, in dem er mit dem rangniedrigsten Weibchen schläft. Damit macht er die Letzte zur Frau des Ersten und rettet sie dadurch.
Überhaupt scheinen die Affengruppen ihre Methoden zu haben, diese mörderische Konsequenz von Hierarchien ab zu mildern. Die einfachste Methode dafür ist, dass sich einer von den Ersten schützend vor die Letzten stellt.
Das meint auch der berühmte Satz: „Was ihr getan habt einem der Geringsten, das habt ihr mir getan !“. Der Schullehrer und der Pfarrer, als die 2 Dorfintellektuellen in der örtlichen Hierarchie eher „oben“ zu Hause, denken gar nicht daran Maria zu schützen, sondern sie hetzen am Schlimmsten.
Deswegen gibt es für Maria keine Rettung:
„Sie fing schon damals an, Blut zu husten. Schließlich waren ihre Lumpen schon vollständig zu Fetzen geworden, so daß sie sich schämte, sich im Dorf blicken zu lassen; barfuß ging sie schon von ihrer Heimkehr an. Da begann die ganze Kinderschar (es waren über vierzig Schulkinder) sie zu verhöhnen und sogar mit Schmutz nach ihr zu werfen. Sie bat den Hirten, er möchte ihr erlauben, die Kühe zu hüten; aber der Hirt jagte sie weg. Da fing sie an, ohne seine Erlaubnis mit der Herde auf den ganzen Tag auszuziehen. Da sie dem Hirten sehr viel Nutzen brachte und er dies bemerkte, so trieb er sie nun nicht mehr fort und gab ihr sogar manchmal die Überreste seines Mittagessens, Brot und Käse. Er hielt das für eine große Gnade von seiner Seite. Als die Mutter gestorben war, schämte sich der Pastor nicht, Marie in der Kirche vor allem Volk an den Pranger zu stellen. Marie stand, so wie sie war, in ihren Lumpen, am Sarg. Es hatten sich eine Menge Leute eingefunden, um zu sehen, wie sie weinen und hinter dem Sarg hergehen werde; da wandte sich der Pastor (er war noch ein junger Mann, und sein ganzer Ehrgeiz ging darauf, ein großer Prediger zu werden) an alle Anwesenden und zeigte auf Marie. ›Die ist es, die an dem Tod dieser achtenswerten Frau die Schuld trägt‹ (das war unwahr, da die Mutter schon seit zwei Jahren krank gewesen war); ›da steht sie vor euch und wagt nicht aufzublicken, weil Gottes Finger sie gezeichnet hat; da ist sie nun, barfuß und in Lumpen, ein abschreckendes Beispiel für diejenigen, die vom Pfad der Tugend abirren möchten! Und wer ist es? Es ist ihre eigene Tochter!‹, und in dieser Art immer weiter.
[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 19656 - 19657
(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 3, S. 109-110)
http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]
Wenn man sich diesen Prediger in all seiner Arroganz vor Augen führt, kann man nur mit Matthäus antworten:
„ Wer aber ärgert dieser Geringsten einen, die an mich glauben, dem wäre es besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft werde im Meer, da es am tiefsten ist.“
[Luther-Bibel 1912: Das Matthäusevangelium. Die Luther-Bibel, S. 8514
(vgl. Mt 18, 1-6)
http://www.digitale-bibliothek.de/band29.htm ]
„Und denken Sie sich: diese Gemeinheit gefiel fast allen; aber ... nun ereignete sich etwas ganz Besonderes: die Kinder traten für Marie ein; denn zu dieser Zeit waren die Kinder alle schon auf meiner Seite und hatten Marie liebgewonnen. Das war so zugegangen. Ich wollte gern etwas für Marie tun; es war dringend nötig, daß ihr jemand Geld gab; aber Geld hatte ich dort nie auch nur eine Kopeke in meinem Besitz. Ich hatte eine kleine Brillantnadel; die verkaufte ich an einen Trödler, der in den Dörfern herumzog und mit alten Kleidern handelte. Er gab mir dafür acht Franken, obwohl sie gut vierzig wert war. Lange Zeit bemühte ich mich, Marie allein zu treffen; endlich begegneten wir einander außerhalb des Dorfes, an einem Zaun, auf einem Seitenpfad, der in die Berge führte, bei einem Baum. Dort gab ich ihr die acht Franken und sagte ihr, sie möchte damit sparsam umgehen, da ich nicht mehr hätte; und dann küßte ich sie und sagte, sie solle nicht denken, daß ich irgendwelche unlautere Absicht hätte; ich hätte sie nicht etwa geküßt, weil ich in sie verliebt wäre, sondern weil sie mir sehr leid täte und ich sie gleich von Anfang an durchaus nicht für eine Schuldbeladene, sondern nur für eine Unglückliche gehalten hätte. Ich wollte sie gern gleich bei dieser Begegnung trösten und ihr deutlich machen, daß sie sich gar nicht für soviel schlechter als alle zu halten brauche; aber sie schien das gar
nicht zu verstehen. Ich merkte das gleich, obwohl sie fast die ganze Zeit über schwieg und mit niedergeschlagenen Augen vor mir stand und sich furchtbar schämte. Als ich zu Ende war, küßte sie mir die Hand, und ich griff sofort nach der ihrigen und wollte sie ihr küssen; aber sie zog sie schnell weg. In diesem Augenblick erspähten uns auf einmal die Kinder, ein ganzer Schwarm; ich erfuhr später, daß sie mir schon lange nachspioniert hatten. Sie fingen an zu pfeifen, in die Hände zu klatschen und zu lachen; Marie aber lief eiligst davon. Ich wollte zu den Kindern etwas sagen; aber sie warfen nach mir mit Steinen. Noch an demselben Tag erfuhren alle, was vorgefallen war, das ganze Dorf; alle fielen sie wieder über Marie her und wurden ihr noch mehr feind. Ich hörte sogar, daß man vorhatte, sie zu einer Strafe zu verurteilen; indes ging das, Gott sei Dank, noch so vorüber. Aber dafür ließen ihr die Kinder gar keine Ruhe mehr; sie verhöhnten sie noch ärger als vorher und bewarfen sie mit Schmutz; sie jagten ihr nach, und sie floh dann vor ihnen mit ihrer schwachen Brust, ganz außer Atem, und die Kinder schreiend und schimpfend hinter ihr her. Einmal begann ich sogar, mich mit ihnen herumzuschlagen. Dann versuchte ich mit ihnen zu reden und redete zu ihnen jeden Tag, sooft ich nur dazu die Möglichkeit hatte. Manchmal blieben sie stehen und hörten zu, obwohl sie immer noch schimpften. Ich erzählte ihnen, wie unglücklich Marie sei; bald hörten sie denn auch auf zu schimpfen und gingen schweigend fort. Allmählich kam es dazu, daß wir miteinander Gespräche führten; ich verheimlichte ihnen nichts, sondern erzählte ihnen alles. Sie hörten sehr neugierig zu und begannen bald, Marie zu bemitleiden. Einzelne fingen an, wenn sie ihr begegneten, sie freundlich zu grüßen; es ist dort Sitte, wenn man einander begegnet, ob man sich nun kennt oder nicht, sich zu grüßen und guten Tag zu sagen. Ich kann mir vorstellen, wie erstaunt Marie darüber war. Eines Tages verschafften sich zwei kleine Mädchen etwas Essen, trugen es ihr hin, gaben es ihr und kamen dann zu mir, um es mir zu sagen. Sie erzählten mir, Marie habe geweint, und sie hätten sie jetzt sehr lieb. Bald fingen alle an, sie liebzuhaben, und gleichzeitig auf einmal auch mich. Sie kamen nun oft zu mir und baten immer, ich möchte ihnen etwas erzählen; ich muß wohl gut erzählt haben, weil sie mir sehr gern zuhörten. In der Folgezeit lernte und las ich immer nur in der Absicht, es ihnen nachher zu erzählen, und so habe ich ihnen in den ganzen nächsten drei Jahren immer etwas erzählt. Als mir dann alle, auch Schneider, Vorwürfe darüber machten, daß ich mit den Kindern wie mit Erwachsenen spräche und ihnen nichts verheimlichte, antwortete ich ihnen, man müsse sich schämen, den Kindern etwas vorzulügen; sie erführen ja doch alles, wie sehr man es ihnen auch zu verbergen suche, und erführen es vielleicht auf eine häßliche Weise; wenn sie es aber von mir hörten, so sei das nicht der Fall. Ein jeder brauche sich nur an seine eigene Kindheit zu erinnern. Aber sie stimmten mir nicht bei ...“
[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 19658 - 19661
(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 3, S. 110-112)
http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]
Hierarchie produziert Gewinner und Verlierer. Und es ist ein grausames Schicksal bei den Verlierern zu sein. Das ist bei Menschen nicht anders als bei Affen. Aber es gibt ein Gegenmittel gegen diese Grausamkeit. Dieses Gegenmittel heißt Liebe, Zuneigung, Vertrauen. Das ist es, was er die Kinder lehrt. Und sie verstehen es. Zwei kleine Mädchen als erste. Das ist wenig überraschend, denn Hierarchiebildung ist schon bei Schimpansen ein sehr männliches Geschäft.
Im übrigen auch ein teures Geschäft, den Schimpansenhorden haben in der Regel einen Frauenüberschuss.
Schimpansenmänner bringen sich gegenseitig um. Außerdem müssen sie, je höher sie steigen, je mehr befürchten tief zu fallen. Das strengt an, das produziert jede Menge Stress und deswegen werden Schimpansenmänner nicht so alt wie Schimpansenfrauen.
Die Gegenwelt dazu finden wir bei den Bonobos mit ihrem Matriarchat und ihrem Grundsatz sich im Zweifel lieber einmal mehr zu lieben als zu erschlagen.
Aber hören wir dazu wieder Franz de Waals:
„Bei denen, die mit Bonobos arbeiten, haben sich das Schockiertsein und die Ungläubigkeit der Anfangsjahre abgenutzt. Wir haben uns an die auf dem Kopf stehende Geschlechterordnung so sehr gewöhnt, daß wir uns noch nicht einmal vorstellen würden, es könnte sich anders verhalten. Es kommt uns ganz natürlich vor.
Die Skeptiker schaffen es offensichtlich nicht, sich davon freizumachen, wie es bei unserer eigenen Spezies zugeht. Während der Lesereise für mein Buch Bonobos: Die zärtlichen Menschenaffen war der Höhepunkt - oder vielleicht der Tiefpunkt - eine Frage, die ein höchst angesehener deutscher Biologieprofessor stellte. Nach meinem Vortrag stand er auf und bellte in fast anklagendem Ton:
„Was ist mit diesen Männchen nicht in Ordnung?!“ Das weibliche Dominanzverhalten schockierte ihn. Ich bin umgekehrt schon immer der Ansicht, daß sich Bonobomänner angesichts der reichlichen sexuellen Aktivitat der Bonobos und des niedrigen Aggressionsniveaus eigentlich nicht viel beklagen können. Man sollte meinen, daß sie weniger Streß haben als ihre Menschen- und Schimpansenvettern. Meine Antwort an den Professor - daß es den Bonobomännern anscheinend ganz gut gehe - schien ihn jedoch nicht zu befriedigen. Dieser Menschenaffe erschüttert unsere Überzeugungen hinsichtlich unserer Herkunft und unseres Verhaltens in den Grundfesten.
Was ist also so gut daran, ein Bonobomann zu sein? Zum einen ist das Verhältnis zwischen männlichen und weiblichen Individuen bei wildlebenden Bonobos fast eins zu eins. Ihre Gesellschaft setzt sich aus gleich vielen Angehörigen beider Geschlechter zusammen, wohingegen Schimpansengesellschaften oftmals doppelt so viele Frauen wie Männer aufweisen. Da beide Arten bei der Geburt ein Geschlechterverhältnis von eins zu eins haben und da es außerhalb der Gruppen keine umherziehenden männlichen Einzelgänger gibt, muß die Sterblichkeit unter Schimpansenmänner außerordentlich hoch sein. Das überrascht kaum, wenn man bedenkt, wieviel Krieg zwischen konkurrierenden Gemeinschaften dieser Spezies geführt wird und wieviel Verletzungen und Streß
aus den ständigen Machtkämpfen resultieren. Unter dem Strich kommt heraus, daß Bonobomänner länger und gesünder leben als ihre Macho-Vettern.
Eine Weile hatte man angenommen, Bonobos hätten eine Familienstruktur wie wir: Erwachsene Männer, so fand man, unterhielten stabile Bindungen zu bestimmten Bonobofrauen. Endlich ein Menschenaffe, der uns die Ursprünge der Monogamie erhellt, glaubten wir. Doch dann erfuhren wir dank der gründlichen Feldforschung von Kano und anderen, daß dies in Wirklichkeit Bindungen zwischen Müttern und Söhnen waren. Ein erwachsener Bonobomann folgt seiner Mutter durch den Wald und profitiert von ihrer Zuwendung und ihrem Schutz - vor allem wenn sie einen hohen Status hat. Faktisch ist die Hierarchie der Bonobomänner eine matriarchalische. Statt unter ihresgleichen ständig
wechselnde Koalitionen zu bilden. wetteifern sie an den Schürzenzipfeln ihrer Mütter um Positionen.
Ein typisches Beispiel dafür ist Kame, ein wildes Alphaweibchen, die nicht weniger als drei erwachsene Söhne hatte, von denen der älteste das Alphamännchen war. Als Kame im Alter schwächer wurde, zögerte sie, ihre Kinder zu verteidigen. Der Sohn des Betaweibchens muß das gemerkt haben, denn er begann Kames Söhne herauszufordern. Seine eigene Mutter unterstützte ihn dabei und schreckte nicht davor zurück, in diesem Rahmen auch das Alphamännchen zu attackieren. Die Reibereien eskalierten, bis die beiden Mütter sich schlugen und auf dem Boden herumwälzten, wobei das Betaweibchen Kame niederrang. Von dieser Erniedrigung erholte sich Kame nie wieder, und bald fielen ihre Söhne auf
mittlere Ränge zurück. Nach Kames Tod wurden sie ganz an den Rand verdrängt, und die Söhne des neuen Alphaweibchens nahmen die Spitzenpositionen ein.
Hätte es sich um Schimpansen gehandelt, hätten Kames Söhne sich zusammen geschlossen, um ihre Positionen zu verteidigen.Bei Bonobos jedoch sind männliche Allianzen nur schwach ausgebildet, und genau das erlaubt es den Bonobofrauen, sich so stark durchzusetzen. Auch wenn sie selten sind, straft die Beobachtung solcher Machtkämpfe die Vorstellung Lügen, daß die Bonobogesellschaft durch und durch egalitär sei. Spannungen gibt es durchaus, die Männer konkurrieren stark miteinander, und auch bei den Frauen kommt das vor. Ein hoher Rang scheint sich in erheblichem Maß auszuzahlen. Weil die Bonobofrauen ihnen gegenüber toleranter sind, finden Männer an der Spitze leichter Zugang zu Nahrungsmitteln, und sie haben auch mehr Sexualpart-
nerinnen. Das heißt, wenn es einer Mutter gelingt, einen Sohn in die höheren Ränge zu bringen, dann fördert sie ihre Nachkommenschaft mittels der Enkel, die er zeugt. Die Bonobos verstehen diesen Zusammenhang natürlich nicht, aber die natürliche Auslese muß Mütter gefördert haben, die das Statusstreben ihrer Söhne aktiv unterstützten.
Bedeutet das, daß die Bonobogesellschaft im Grunde eine umgekehrte Schimpansengesellschaft ist? Kaum. Meiner Ansicht nach ist der Schimpanse weit eher ein zoon politikon (politisches Tier).
Das hat mit der Art und Weise zu tun, wie Koalitionen gebildet werden, und auch mit der Andersartigkeit der weiblichen Hierarchie. Sowohl bei den beiden Menschenaffenarten als auch bei Menschen wird die weibliche Hierarchie weniger angefochten und muß daher auch nicht so stark durchgesetzt werden. Frauen denken, wenn es um sie selbst geht, weniger in Hierarchien, und ihre Beziehungen sind nie so förmlich wie die zwischen Männern.
Zweifellos aber gibt es Frauen, die mehr Respekt erheischen als andere. Es Kommt weit häufiger vor, daß ältere Frauen jüngere dominieren als umgekehrt. Innerhalb derselben sozialen Schicht scheinen ältere Frauen das Sagen zu haben. Traditionellerweise üben Frauen ihren größten Einfluß im Rahmen der Familie aus, wo sie sich nicht an die Spitze kämpfen, bluffen oder renommieren
müssen. Dorthin gelangen sie einfach mit dem Älterwerden. Persönlichkeit, Bildung und Familiengröße sind sicherlich wichtige Faktoren, und es gibt viele subtile Formen, wie Frauen miteinander konkurrieren können, aber wenn sonst sämtliche Bedingungen gleich sind, ist das Alter schon die halbe Miete, wenn es um die Position einer Frau unter anderen Frauen geht.
Auf Menschenaffen trifft dasselbe zu. In freier Wildbahn halten die älteren Frauen die jüngeren, die frisch von außen zur Gruppe stoßen, unter der Knute. Mit der Pubertät verlassen die weiblichen Individuen ihre Gemeinschaft und schließen sich einer anderen an. Schimpansinnen müssen sich auf dem Territorium ihrer neuen Gruppe selbst einen Platz erobern, und das oft in Konkurrenz zu den schon dazugehörigen Schimpansinnen. Junge Bonobofrauen
mit ihren engeren weiblichen Bindungen suchen sich eine „Sponsorin“ unter den dazugehörigen, groomen sie und haben Sex mit ihr, woraufhin die ältere die jüngere unter ihre Fittiche nimmt und sie beschützt. Im Lauf der Zeit wird die junge Bonobofrau selbst zur Sponsorin neuer Zuwandererinnen, und so schließt sich der Kreis. Auch dieses System tendiert zum Senioritatsprinzip. Selbst
wenn weibliche Hierarchien nicht perfekt nach dem Alter gestaffelt sind, erklärt sich daraus doch ein gutes Stück weit ihre Sozialordnung.
Dominanzkämpfe zwischen weiblichen Menschenaffen sind weit seltener als zwischen männlichen. Und wenn es dazu kommt, spielen sie sich immer unter weiblichen Individuen derselben Altersstufe ab. In einer Gruppe, der über dreißig Jahre alte Frauen angehören, wird man niemals eine zwanzigjährige an der Spitze finden. Das hat nichts mit physischer Stärke zu tun - die ist bei einer Zwanzigjährigen am größten -, vielmehr scheint es jüngeren Frauen völlig an der Willenskraft zu fehlen, eine der erfahrenen, abgebrühten älteren Damen herauszufordern. Ich kenne Alphaweibchen, deren Position über Jahrzehnte nicht angetastet wurde. Natürlich gibt es eine Obergrenze, wie lange sich eine Menschenaffenfrau an der Macht halten kann, die sowohl von ihrer körperlichen als auch von ihrer geistigen Gesundheit abhängt, aber Frauen erreichen diesen Punkt erst Jahrzehnte nach den Männern.
Wie ältere Frauen die jüngeren in ihre Schranken verweisen, ist faszinierend, denn die meiste Zeit geschieht das ohne offene Aggression. Da die Jüngeren, deren eigene Mutter nicht mehr zugegen sind, die Älteren als Mutterfiguren betrachten, müssen letztere, um ein Signal zu setzen, nichts weiter tun, als ein Vorspiel abzulehnen, nichts von ihrem Fressen abzugeben oder bei einem
Groomversuch sich umzudrehen und wegzugehen. Die ältere Frau zieht die emotionalen Daumenschrauben an. Vielleicht kriegt die jüngere dann einen Wutanfall, aber die ältere betrachtet das Schauspiel ungerührt: So etwas hat sie schon öfter gesehen. Die Gründe für eine Abfuhr sind oft minimal. Auch Stunden nachdem die Jüngere einen Nachkommen der Älteren gezwickt, sich ein Stück
Nahrung genommen hat, das die Ältere haben wollte, oder nicht vom Alphamännchen gewichen ist, als die Ältere ihn groomen wollte, wird die Jüngere möglicherweise noch zurückgewiesen. Für menschliche Beobachter jedenfalls sind die weiblichen Interaktionen ganz eindeutig schwerer mitzuverfolgen als die direkten Konfrontationen unter den Männern.
Da männliche Dominanz auf Kampfkraft und Unterstützung durch Freunde basiert, wirkt sich das Alter ganz anders auf männliche Hierarchien aus. Älter zu werden ist für männliche Wesen niemals von Vorteil. „
(Franz de Waals „Der Affe in uns“ (S.93-97))
Soweit de Waals.
Wenn Liebe und Hierarchiebildung die beiden hauptsächlich Verfahren sind, um bei sozialen Tieren einen selbstmörderischen Kampf aller gegen alle zu verhindern, dann zeigen die Bonobos, dass Liebe durchaus das überlegene Prinzip sein kann. Dass dadurch das weibliche Geschlecht auch dominant wird, ist für die Männer nicht von Nachteil. Sie führen ein besseres Leben als Schimpansenmänner.
Zugleich ist es ziemlich merkwürdig, dass nach den Moralmasstäben des 19. und des 20. Jahrhunderts das Verhalten der Bonobos als höchst unmoralisch zu gelten hätte, während kriegsführende Schimpansen sehr gut zu den kriegführenden Staaten und den Krieg verherrlichenden Philosophen jener Zeit passen.
Selbst de Waals spricht noch von „Schockiertsein“ in Bezug auf die Bonobos, so als wäre die Existenz von Heimtücke, Mord und Totschlag bei den Schimpansen nicht wesentlich schockierender als das fröhliche Ducheinandervögeln der Bonobos.
Myschkin scheint auch deswegen Irritationen bei der Dorfobrigkeit und selbst bei Schneider aus zu lösen, weil er mit den Kindern „ wie mit Erwachsenen spräche und ihnen nichts verheimlichte“. Es ist ein seltsames Moralempfinden, das sich regt, wenn ein Idiot, wie Myschkin, den Kindern erklärt, dass Liebe auch eine körperliche Seite hat, - er, der doch mit seinem eigenen Körper genügend Probleme hat - , während es stumm bleibt, wenn eine Frau zu Tode gehetzt wird. Ja es ist sogar noch schlimmer: Der gewissermassen amtliche Vertreter von Gewissen und Moral, der Pastor hetzt noch in absolut demagogischer Weise. Und Myschkin gelingt es dagegen eine Art Kinderaufstand zu organisieren.
So wie in New York manche Samenbomben in Brachgründstücke werfen, damit dort Parks entstehen, verbreitet er die Botschaft, dass Liebe, Zuneigung und Verständnis die richtigen Gegenmittel sind gegen diese Gewinner/Verlierer-Welt.
Es ist eine sanfte Revolution, die er anzettelt. Es ist eine Revolution der Liebe, und das, wo er sich doch andererseits vor der Liebe fürchtet.
„ Daß ich Marie geküßt hatte, war zwei Wochen vor dem Tod ihrer Mutter gewesen, und als der Pastor jene Leichenrede hielt, waren schon alle Kinder auf meiner Seite. Ich erzählte ihnen sofort wieder, wie sich der Pastor benommen hatte, und sagte ihnen, wie ich darüber urteilte; alle waren sie über ihn empört, einige so sehr, daß sie ihm die Fenster einwarfen. Dies verbot ich ihnen, weil das nicht mehr recht war; aber im Dorf hatten alle sofort alles erfahren und beschuldigten mich nun, ich verdürbe die Kinder. Dann erfuhren alle auch, daß die Kinder Marie lieb hatten, und bekamen darüber einen gewaltigen Schreck; Marie jedoch fühlte sich schon ganz glücklich. Man verbot den Kindern, mit ihr zusammenzukommen; aber sie liefen heimlich zu ihr, nach dem ziemlich weit (fast eine halbe Werst) vom Dorf entfernten Weideplatz der Herde; sie brachten ihr dies und das zum Essen mit, manche aber liefen auch einfach hin, um sie zu umarmen, zu küssen und ihr zu sagen: ›Je vous aime, Marie!‹, und dann Hals über Kopf wieder zurückzurennen. Marie verlor infolge dieses unerwarteten Glücks fast ihren Verstand; so etwas hätte sie sich nie träumen lassen; sie schämte sich und freute sich zugleich. Besondere Freude machte es den zu ihr hinlaufenden Kindern und namentlich den kleinen Mädchen, ihr mitzuteilen, daß ich sie, Marie, liebte und sehr viel mit ihnen von ihr spräche. Sie berichteten ihr, daß ich ihnen alles erzählt hätte und daß sie sie jetzt sehr lieb hätten und bemitleideten und ihr immer treu bleiben würden. Dann kamen sie zu mir gelaufen und erzählten mir mit Gesichtchen, die von freudigem Eifer strahlten, sie hätten soeben mit Marie gesprochen, und sie lasse mich grüßen. Abends ging ich oft nach dem Wasserfall; dort befand sich ein nach dem Dorf zu ganz verdeckter Platz, um den herum Pappeln standen; da versammelten sich die Kinder abends um mich; manche liefen sogar heimlich aus dem Dorf weg. Ich glaube, ihr ganz besonderes Entzücken war meine Liebe zu Marie, und dies war während meines ganzen dortigen Aufenthalts der einzige Punkt, in dem ich sie täuschte. Ich ließ ihnen ihren Glauben, daß ich Marie liebte, das heißt, in sie verliebt sei, und sagte ihnen nicht, daß ich sie in Wirklichkeit nur sehr bemitleidete; ich sah an allem, daß es ihnen besser so gefiel, wie sie sich das selbst ausgedacht und unter sich zurechtgelegt hatten, und darum schwieg ich und tat, als hätten sie es erraten. Und wie feinfühlig und zärtlich waren diese kleinen Herzen: unter anderm meinten sie, das dürfe doch nicht sein, daß ihr guter Léon Marie so liebe und diese Marie so schlecht gekleidet sei und keine Schuhe habe. Denken Sie sich, sie beschafften ihr Schuhe und Strümpfe und Wäsche und sogar einige Kleidungsstücke; auf welche kluge Weise sie das zustande brachten, ist mir unbegreiflich; der ganze Schwarm wirkte dabei zusammen. Wenn ich sie darüber befragte, lachten sie nur lustig, und die kleinen Mädchen klatschten in die Hände und küßten mich. Manchmal ging auch ich heimlich zu Marie hin. Sie war schon sehr krank und konnte kaum noch gehen; schließlich war es ihr gar nicht mehr möglich, dem Hirten irgendwelche Dienste zu leisten; aber sie zog doch jeden Morgen mit der Herde aus. Sie setzte sich abseits hin; es war da an einem abschüssigen, beinah senkrechten Felsen ein Vorsprung; dort setzte sie sich im innersten Winkel, wo niemand sie sehen konnte, auf einen Stein und saß da fast regungslos den ganzen Tag, vom frühen Morgen bis zu der Stunde, wo die Herde heimging. Sie war infolge der Schwindsucht schon so schwach, daß sie meist mit geschlossenen Augen, den Kopf gegen den Felsen gelehnt, dasaß und, mühsam atmend, halb schlummerte; ihr Gesicht war so mager geworden wie bei einem Skelett, und an Stirn und Schläfen trat ihr der Schweiß heraus. In diesem Zustand fand ich sie immer vor. Ich kam stets nur auf einen Augenblick und wünschte auch nicht, von den Leuten gesehen zu werden. Sobald ich mich zeigte, fuhr Marie sofort zusammen, öffnete die Augen und stürzte auf mich zu, um mir die Hände zu küssen. Ich entzog sie ihr nicht mehr, weil ihr dies eine Wonne war; die ganze Zeit über, während ich bei ihr saß, zitterte und weinte sie; einige Male versuchte sie allerdings auch zu reden; aber es war schwer, sie zu verstehen. Vor Aufregung und Entzücken war sie wie von Sinnen. Mitunter kamen auch die Kinder mit mir; sie stellten sich dann gewöhnlich in der Nähe auf und bewachten uns vor irgend etwas und vor irgend jemand; das war für sie ein ganz besonderes Vergnügen. Wenn wir fortgingen, blieb Marie wieder allein, regungslos wie vorher, mit geschlossenen Augen, den Kopf an den Felsen gelehnt; vielleicht träumte sie von irgend etwas. Eines Tages war sie am Morgen nicht mehr imstande, zu der Herde hinauszugehen, und blieb in ihrem öden Haus. Die Kinder erfuhren es sogleich und kamen an diesem Tag fast alle zu ihr gelaufen, um sie zu besuchen; sie lag mutterseelenallein auf ihrem Bett. Zwei Tage lang waren es nur die Kinder, die sie pflegten, indem sie abwechselnd hinkamen; aber als dann im Dorf bekannt wurde, daß Marie wirklich schon im Sterben liege, stellten sich auch die alten Frauen aus dem Dorf bei ihr ein, saßen an ihrem Lager und versorgten sie. Es schien, daß man im Dorf mit Marie Mitleid zu fühlen begann; wenigstens hielt man die Kinder nicht mehr zurück und schalt sie nicht mehr wie früher. Marie lag die ganze Zeit im Halbschlummer, der aber infolge des furchtbaren Hustens sehr unruhig war. Die Kinder wurden von den alten Frauen fortgejagt, kamen aber doch ans Fenster gelaufen, manchmal nur auf einen Augenblick, nur um zu sagen: ›Bonjour, notre bonne Marie!‹ Sowie diese sie aber sah oder hörte, kehrte ihr die Lebenskraft zurück, und sie versuchte mit Anstrengung, ohne auf die alten Frauen zu hören, sich aufzurichten und auf den Ellbogen zu stützen, nickte den Kindern zu und dankte ihnen. Sie brachten ihr wie früher mitunter ein paar gute Bissen mit; aber sie aß fast gar nichts mehr. Ich versichere Ihnen, dank den Kindern ist sie beinah glücklich gestorben. Die Kinder machten, daß sie ihr schweres Leid vergaß; sie hatte das Gefühl, daß sie von ihnen Vergebung empfangen habe; denn sie hielt sich bis zu ihrem Lebensende für eine große Sünderin. Die Kinder schlugen gleichsam wie kleine Vögel mit den Flügelchen an das Fenster der Kranken und riefen ihr jeden Morgen zu: ›Nous t'aimons, Marie.‹ Sie starb sehr bald. Ich hatte geglaubt, sie würde weit länger leben. Am Tag vor ihrem Tod kam ich vor Sonnenuntergang zu ihr; sie schien mich zu erkennen, und ich drückte ihr zum letzten Mal die Hand; ach, wie ausgetrocknet war diese Hand! Und am folgenden Morgen kam unerwartet jemand zu mir und sagte mir, daß Marie gestorben sei.
Nun ließen sich die Kinder nicht zurückhalten: sie schmückten ihren Sarg reich mit Blumen und setzten ihr einen Kranz auf den Kopf. Der Pastor schmähte in der Kirche die Tote nicht mehr; die wenigen Menschen, die sich zur Beerdigung eingefunden hatten, waren nur aus Neugier gekommen; aber als der Sarg weggetragen werden sollte, da stürzten die Kinder alle mit einem mal herbei, um ihn selbst zu tragen. Da dazu ihre Kraft nicht ausreichte, so halfen einige von ihnen wenigstens nach Möglichkeit, und die übrigen liefen hinter dem Sarg her, und alle weinten. Maries Grab ist seitdem von den Kindern beständig schön in Ordnung gehalten worden: sie schmücken es jedes Jahr mit Blumen und haben ringsherum Rosensträucher gepflanzt.“
[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 19661 - 19665
(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 3, S. 112 - 115)
http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]
Nach dem Tod Marias endet die vorübergehende Schonzeit für Myschkin und die Kinder. Die Dorfobrigkeit fühlt sich herausgefordert:
„Aber von dieser Beerdigung an begann mich das ganze Dorf um der Kinder willen zu befehden. Die Hauptanstifter waren der Pastor und der Schullehrer. Den Kindern wurde jeder Verkehr mit mir streng verboten, und Schneider verpflichtete sich sogar, darüber zu wachen. Wir kamen aber doch zusammen und verständigten uns von weitem durch Zeichen; auch schickten sie mir kleine Briefchen. In der folgenden Zeit schob sich das alles wieder zurecht; aber damals fühlten wir uns ganz wohl dabei, und ich war den Kindern durch diese Verfolgung sogar noch nähergerückt.“
[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 19666
(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 3, S. 115-116)
http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]
„Schneider aber disputierte mit mir viel über meine verderbliche ›Methode‹, mit den Kindern umzugehen. Aber von einer wirklichen ›Methode‹ war bei mir ja gar nicht die Rede! Zuletzt (es war schon kurz vor meiner Abreise) sprach Schneider mir gegenüber einen recht seltsamen Gedanken aus: er sagte zu mir, er habe jetzt die sichere Überzeugung gewonnen, daß ich selbst ein vollständiges Kind sei; ich hätte nur an Wuchs und Gesicht Ähnlichkeit mit einem Erwachsenen; aber was die Entwicklung der Seele, des Charakters und vielleicht auch des Verstandes anlange, sei ich kein Erwachsener, und ich würde so bleiben, auch wenn ich sechzig Jahre alt würde. Ich lachte darüber herzlich; er hat natürlich unrecht; denn ich bin ja doch kein kleines Kind! Eines ist allerdings daran wahr, nur eines: ich bin wirklich nicht gern mit Erwachsenen, mit Großen zusammen (ich habe das schon längst an mir beobachtet); ich bin nicht gern mit ihnen zusammen, weil ich sie nicht verstehe. Was sie auch mit mir sprechen und wie gut sie auch gegen mich sein mögen, ich fühle mich doch stets in ihrer Gesellschaft bedrückt und bin heilfroh, wenn ich so bald wie möglich zu meinen Kameraden gehen kann, und meine Kameraden waren immer die Kinder, aber nicht, weil ich selbst ein Kind war, sondern weil es mich einfach zu den Kindern hinzog. „
[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 19667
(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 3, S. 116-117)
http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]
Den „seltsamen“ Gedanken von Schneider hat sich später Tellenbach zu eigen gemacht.
In der Tat fehlt auch Kindern oft der Respekt vor Hierarchien und Hierarchen und vieles was uns unter dem Motto „Kindermund tut Wahrheit kund“ amüsiert, ist oft ein aus Unwissenheit geschehener Regelverstoß, der allerdings meist eher die Regeln als die Kinder der Lächerlichkeit preisgibt.
Myschkin dagegen hat ein prinzipielles Problem mit der erwachsenen Ordnung. Nicht weil er ein Kind geblieben ist, sondern weil sie gegen seine Natur ist.
Die „epileptische Kanaille“ lässt grüssen !
Natürlich ist Schneiders Theorie auch ein Versuch seinen Patienten zu schützen. Gerade weil Myschkin das Bewusstsein für die Bedeutung einer hierarchischen Ordnung fehlt, fehlt ihm auch jedes Bewusstsein für die Gefahr, in die er sich begibt, wenn er diese Ordnung in Frage stellt. Hier ähnelt er tatsächlich einem Kind.
Es ist auch nicht so, dass er jede Art von Hierarchie ablehnt. Wenn Feuerwehrleute Brände löschen, dann benötigen sie eine klare Kommandostruktur, bei der in jedem Moment klar ist, wer die Verantwortung trägt und wer die Entscheidung trifft. Das schließt selbstverständlich auch die Eigenverantwortlichkeit jedes Feuerwehrmanns mit ein. Denn, wenn ein Balken vom Dach zu stürzen droht, muss man rennen und kommt mit Sprüchen, wie „auf jedem Schiff das dampft und segelt, gibt’s einen, der die Sache regelt und der bin ich.“ (Westerwelle) nicht weiter.
Vor allem da auf dem Grund des Meeres viele Schiffe liegen, die von solchen Kapitänen gesteuert wurden.
Andererseits kann man gegen ein Feuer nicht erfolgreich koordiniert vorgehen, wenn niemand da ist, der koordiniert und wenn der nicht das letzte Wort hat.
Unser Myschkin wird sich am besten von jedem Feuer und jeder Feuerwehr fern halten und zwar einfach deswegen, weil er im Falle eines Falles zu lange braucht, bis er begreift, dass er rennen muss. Er wäre deswegen eine Gefahr für sich und andere.
Wenn wir uns nun vorstellen, dass der Brand gelöscht ist, dann kommt vielleicht der Bürgermeister mit seinen Beigeordneten vorbei, um sich ein „Bild von der Lage“ zu machen. Die bringen auch eine Hierarchie mit, die in der Regel auch mehrere städtische Beamte und einen großen oder kleinen Tross Pressevertreter einschließen.
Diese Hierarchie ist aber im Gegensatz zu der Hierarchie der Feuerwehrleute während des Einsatzes in diesem Moment und in dieser Situation vollkommen überflüssig. Im Gegenteil: Es spart Zeit und Informationsverluste, wenn die Feuerwehrleitung diese Leute gleichzeitig und gleichberechtigt informiert.
Allerdings wird in der Mehrzahl der Fälle ein Bürgermeister beleidigt sein, wenn er nicht die ersten Fragen stellt und beantwortet bekommt und ein städtischer Beamter wird klug genug sein, mit seinen Fragen zu warten, bis der Bürgermeister fertig ist. Pressevertreter werden sich vordrängen.
Bei Myschkins und aller Idioten Problem mit Hierarchien muss demnach unterschieden werden, zwischen der aus der Sache heraus notwendigen Hierarchie, z.B. um schnell und koordiniert zu reagieren. Hier braucht er zu lange, bis sein Verstand begriffen hat, was ihm eigentlich sein Instinkt sagen müsste. Aber sein Verstand wird die Notwendigkeit einer hierarchischen Ordnung in diesem Zusammenhang nie in Frage stellen. Nur kann er sich trotzdem nicht richtig einfügen, weil er gar nicht so schnell mitkommt.
Im „Bürgermeister-Fall“ fehlt ihm jeglicher Instinkt für die tatsächlich vorhandene hierarchische Ordnung und sein Verstand sagt ihm, dass eine Hierarchie überflüssig ist.
Dadurch wird er zum „geborenen Feind“ solcher Ordnungen.
Das aber kann gefährlich sein.
Dass der Mensch dem Menschen ein Wolf sei, ist ein altehrwürdiger Spruch, der allerdings die Wölfe mit ihrem hochentwickelten Sozialleben beleidigt.
Überhaupt hat Hobbes unrecht, wenn er meint, erst der Staat habe den Krieg aller gegen alle durch sein Gewaltmonopol aufgehoben und unterdrückt.
Das Problem stellt sich schon viel früher und muss dementsprechend auch gelöst werden.
Wenn z.B. unter den Angehörigen einer Tierart der Kampf um Ressourcen grundsätzlich immer bis zum Letzten ginge, ginge diese Art schnell unter.
Schon im Tierreich ist es deswegen wichtig, dass solche Konflikte eingedämmt werden.
Ein Mittel dazu ist die Revierbildung. Die Kehrseite davon sind Revierkämpfe. Trotzdem garantiert die Revierabgrenzung einen gewissen Frieden, vor allem wenn die Kämpfe ritualisiert und damit gezähmt werden.
Möglicherweise setzt Gruppenbildung dann ein, wenn zu wenig abgrenzbare Reviere da sind. Die Jungtiere bleiben dann bei der Mutter.
Nun müssen die Konflikte innerhalb der Gruppe geregelt werden.
Dazu gibt es grundsätzlich zwei Wege: Aus Revierkämpfen werden Rangordnungskämpfe. Oder aber die Mutter behält ihre Autorität über das eigentliche Kindesalter hinaus. Genauso wie die Geschwisterliebe über das Kindesalter hinaus lebendig bleibt.
Beide Wege werden gegangen. Und es gibt jede Menge Mischungen und Abstufungen dazwischen.
So entwickelt sich Sozialleben zwischen den Polen Unterordnung unter den Stärkeren und/oder Weiterentwicklung der ursprünglichen Bindungen an die Mutter und die Geschwister.
Vom Vater ist hier zunächst nicht die Rede, denn Väter neigen oft dazu die Jungen zu fressen. Jeder Katzenbesitzer weiß, dass die Kätzin ihre Jungen nicht nur vor den Menschen versteckt.
Wenn die Männer aber ihr Leben lang Brüder bleiben, bevor sie zu Vätern werden, ändern sich die Verhältnisse und aus Vätern können mit der Zeit auch liebevolle Väter werden.
Ich würde mich überschätzen, würde ich hier ein komplettes Bild der Sozialentwicklung von Säugetieren versuchen, aber ich glaube und behaupte, dass diese 2 Grundtendenzen, die sich durchaus in den Haaren liegen, prägend sind.
Dass diese beiden Tendenzen zugleich auch mit der Geschlechterpolarität verknüpft sind, macht die Sache noch verwickelter.
Damit sind wir aber weder erst durch Kultur zu zähmende Totschläger des eigenen Vaters, wie Freud meinte, noch startet unser Menschsein in einer Gesellschaft Gleicher und Gleichberechtigter, wie man z.B. bei Engels lesen kann.
Das heißt nicht, dass Engels und Freud Unrecht haben. Ja, es kann den Vater-Tyrannen, den die Brüder ermorden, gegeben haben. Und zwar nicht erst bei den Menschen, schon bei den Schimpansen.
Und ja: Es gibt diese fröhliche und gleiche, der sexuellen Lust zugewandte „urkommunistische“ Gesellschaft schon bei den Affen, den Bonobos.
Welche Konsequenzen hat das für uns und unser soziales und politisches Leben ?
Zunächst diese, dass wir von Natur aus über ein sehr breites Spektrum von Möglichkeiten verfügen. Die tatsächliche Breite dieses Spektrums wird uns von unseren tierischen Verwandten aufgezeigt.
Gut und Böse ist gleichermaßen Teil unserer Natur.
Die Frage, was das denn sein soll: „Gut“ und „Böse“ lässt sich am leichtesten Beantworten, wenn wir uns klar machen, dass wir (d.h. der lebendige Teil der Welt, die Biosphäre) in Bezug auf diese Erde nichts weiter sind, als die Schale eines Apfels. Und dieser Apfel selbst ist ziemlich einsam im All.
D.h. Leben ist etwa sehr seltenes und kostbares. „Gut“ in diesem Sinn ist daher alles, was das Leben stärkt. Nicht nur unser eigenes, sondern diese dünne Schale insgesamt. „Schlecht“ oder „Böse“ ist demnach alles was das Leben zerstört.
Nach seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik hat Bloch seine „Tübinger Einleitung in die Philosophie“ verfasst. Sie ist auch eine Absage an die „Panlogiker“, d.h. an die Heilsgewissheit Hegels und vieler Marxisten. Die Ironie dabei ist, dass Bloch selbst einer der größten und hartnäckigsten Panlogiker war. D.h. es ist auch eine Selbstkritik mit einem lauten „Dennoch“, denn wer so fest an das Gelingen glaubt, lässt sich durch die Möglichkeit des Scheiterns nicht schrecken.
Die räumlich Nähe Heideggers bringt es wohl mit sich, dass es sehr Ontologisch zugeht, mit lauter Nicht, Nichts, Daß und Was, die wunderbarer Weise Arme und Beine haben und natürlich Münder:
„Auf diese Art erscheint bei Hegel allerdings Negativität durchaus als eine wie durch sich selbst dialektisch eingemeindete, ja als der wesentliche Sauerteig, der den Prozeß zum Aufgehen bringt. Die Negativität ersetzt so die Intensität und Dynamik, die dem reinen Äther der in sich weilenden Idee ja keineswegs zukommen; die dialektische Negation wird dergestalt in Hegels Philosophie zum Erregenden schlechthin, zum Gegengift nicht nur der Stockung. auch der faden Zufriedenheit. Das ist das Große an Hegel, daß er das Negative auch begrifflich nicht ausläßt: „Nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes“ (Phänomenologie, Vorrede). Dergestalt daß Dialektisches als überall fruchtbare Entzweiung erscheint, daß es die Sphäre der zerstörenden Differenz überall produktiv bewohnt, als Vernichtung des Vergehenswerten im Schoß des Vergehenswerten selber.“ (Bloch, S.290)
Das Negative, die Zerstörung ist hier das gemahlene Korn, das erst zu Mehl zerstoßen wird um dann als Teig zu fermentieren und uns als Brot satt zu machen. Dieser Tod ist gleichzeitig der Garant des Lebens.
Wird das Samenkorn nicht zum Mehl, wird es zur neuen Pflanze, muss aber auch auf diesem Weg als Samenkorn sterben.
Der Tod, der hier beschrieben wird, ist die Nacht, die auf den Tag folgt und dem nächsten Tag voraus geht.
„Jedoch: es wird durch die so behauptete vollkommene Vermittlung des Negativum innerhalb des dialektischen Prozesses, dem Nichts zugleich seine Furchtbarkeit hinweggenommen, das ist jene wie immer schneidende Unvermitteltheit (Disparatheit), von der die älteren Denker des Nichts betroffen waren. Diese Unvermitteltheit beruht gewiß großenteils auf bloßen fixen Reflexionsbestimmungen des Verstands, wie von Hegel angegeben, ist jedoch dadurch nicht erschöpft. Sie lief und läuft in größerer Breite, als panlogistische Dialektik erfassen kann, noch unter und neben dem positiv funktionierenden Negativum her. Eben: es gibt durchaus Saatkorn, das stirbt und keine Fracht bringt. nämlich als zertretenes, ohne irgendeine positive Negation dieser Negation wirklich, gar notwendig danach.“ (Bloch, S.290).
Wenn eine Riesenwelle nach einem Erdbeben Tod und Zerstörung bringt, gibt es keinen wie immer gearteten „Sinn“ in solchem Tod.
Es ist gewissermassen die reine Nacht, der unversöhnte Tod, die pure Vernichtung.
„Hegel selber gibt derart „unaufgelösten Widerspruch“ zu: die ganze Natur erscheint ihm als einer; und in der Geschichte rechnet auch er den Peloponnesischen Krieg, den Dreißigjährigen Krieg, die indische Witwenverbrennung und so fort keinesfalls unter die produktiven Mächte des Verderbens. Heute hätte er die Todeslager des Faschismus hinzugefügt, die Verbrennungsöfen von Maidanek. Moloch ist auch für Hegel ein Anderes als schaffende Differenz, ein Anderes als Karfreitag, der Ostern bringt. Besonders beachtbar ist eine auffallende Stelle in Hegels Asthetik über das „nur Negative“, das "Negative in sich“, im Zusammenhang mit ästhetischem Wert: „Wenn der innere Begriff und Zweck bereits in sich selber nichtig ist, so läßt die schon innere Häßlichkeit noch weniger in seiner äußeren Realität eine echte Schönheit zu ... Denn das nur Negative ist überhaupt in sich matt und platt und läßt uns deshalb entweder leer oder stößt uns zurück ... Das Grausame, Unglückliche, die Herbigkeit der Gewalt und Härte der Übermacht läßt sich noch in der Vorstellung zusammenschalten und ertragen, wenn es selber durch die gehaltvolle Größe des Charakters und Zwecks gehoben und getragen wird; das Böse als solches aber, Neid, Feigheit und Niederträchtigkeit sind nur widrig, der Teufel für sich ist deshalb eine schlechte, ästhetisch unbrauchbare Figur“ (Werke X', S. 285). Hegel spricht in diesem Zusammenhang auch vom Negativum an sich als einem „übertünchten Grab“, und nichts Lebendiges entspringt ihm aus dieser puren Nichtigkeit in sich selbst. Wonach hier also das Nichts in seiner alles fressenden Hohlgestalt doch nicht unerinnert bleibt, trotz aller total-dialektischen Vermittlung.„ (Bloch, S.290-S291)
Hegel gibt zu, was sich beim besten Willen nicht leugnen lässt. Zugleich versucht er die Nacht ohne Tag zu banalisieren, in dem er sie für ästhetisch uninteressant erklärt. Ein merkwürdiges Urteil. Macht ihm diese Art von Tod denn keine Angst ? Oder muss er die Augen fest verschließen, weil sonst die Angst zu stark würde.
„Diese total-dialektische Vermittlung ist in Wahrheit nicht nur Triumph der Konkretion über abstrakt fixierte und so voneinander abgehaltene Verstandsbestimmungen; sie ist ebenso ein letzter Triumph säkularisierter Vorsehung, aus dem Geist des Panlogismus. Wobei trotzdem Hegel, in seiner gewaltigen Sachlichkeit nicht umhin kann, das Negativum nicht schlechthin als Gottes Mühle zu feiern. Und nicht schlechthin auch als Positivum, in Hinsicht der Aufhebung und neuen Setzung, die der Widerspruch angeblich an sich bereits bedeutet. Ja, Hegel nimmt am Ende, mit einer verblüffenden, fast manichäischen Wendung, sogar die gesamte Negativum-Schicht aus seinem sonst allvermittelten Pan-Logos heraus; in einer Weise, die dem Nichts gerade keine Heilsökonomie an und durch sich selber zubilligt. Denn nach Hegel können in jeder Sphäre der Weltidee nur affirmative Bestimmungen, also die Thesis und Synthesis, als „Definitionen Gottes“ gelten, nicht aber die negativen Bestimmung der Antithesis, die in der Differenz sind. Die Andersheit und die Endlichkeit, worin das Negativum vorzüglich ausbricht, sind hier der „Unterschied von Gott“ (Enzyklopadie § 83) und ebenso groß wie selbst das fruchtbare Negativum ist zu allerletzt für Hegel „die Unangemessenheit“ des Endlichen, Unvollkommenen zum Vollkommenen, welche das Negativum zum positiven Umschlag bringt, hin zur - wahren für sich seienden Identität. Item, wie angegeben: so wenig ein Idiot, der sich dauernd in Widersprüche verwickelt, deshalb schon ein Dialektiker ist, so wenig kann das „nur Negative“ sich von sich selber in den dialektischen Prozeß hereinziehen. So wenig auch kann es darin, als Heilsdynamik wider Willen und doch gleichsam aus eigenem Willen, ganz schon eingemeindet sein.“ (Bloch, S.290-S291)
Ich erlaube mir als Idiot auch und gerade dem Dialektiker zu misstrauen. Vor allem wenn die Reise in Richtung einer dialektischen Logik geht.
Wer das Endliche für „Unangemessen“ hält, landet nur wieder im lebensfeindlichen Felsenmeer ewiger Ideen und „unsterblicher“ Götter.
Leben existiert nur in der Endlichkeit.
Wenn wir dieses Leben wieder in seiner Fülle schätzen wollen, dürfen wir uns nicht länger vom toten griechischen Marmor blenden lassen.
Ich erachte es für mich persönlich als Segen, dass meine Heimat im Reich des gar nicht so unvergänglichen weißen oder roten Sandsteins liegt.
So bleibt mir das Streben nach ewiger Vollkommenheit fremd, das sich im übrigen mit keiner Art von Tod verträgt, weder mit jenem der unser Freund ist, noch mit der Nacht ohne Tag.
Da aber der Tod so oder so Realität ist, führt das Streben nach Vollkommenheit zur Realtätsverleugnung und kann dann in Gestalt von „vollkommen“ sicheren technischen Wunderwerken, wie AKWs, sich mit dem Tod verbünden.
„Vielmehr, wie hier nun spruchreif wird: der Gegenzug ist notwendig, eben nicht wie das Nichts aus der Sucht in der Sehnsucht stammt, aus diesem eigentlichen terminus a quo des Nichtshaften, sondern aus der wirklichen Bewegung der Intention, in das Nichts hinein, durch das Nichts hindurch, hin auf ihr Was. Und erst dieser Gegenzug macht in der völlig ausgebrochenen und so deutlich werdenden Menschengeschichte das Nichts dialektisch, dadurch daß er es zur Negation seiner selbst gebraucht, dadurch daß er es gerade zur Forttreibung der eigentlichen Was-Bestimmung, Was-Gewinnung zwingt. Die Forttreibung selber, diese Aktivität im da seienden Widerspruch kommt nicht aus dem sich selbst überlassenen Nichts, als welches vielmehr nur zum Abgrund giert. Sie kommt aus der Intensität des Daß-Faktors, der auf dem Weg zu seinem Was wirklich begriffen ist und der im Menschen, sofern er sich als historischer Erzeuger bewußt wird, diesen Weg auch nun wahrhaft-wirklich begreift. Mit der Hoffnung begreift, die als eine Spes militans, Spes docta der leeren Mächtigkeit des Nichts so fern wie nur möglich und so überlegen wie nur immer möglich ist.“ (Bloch, S.290-S291)
Der Tod hört dann auf bloßer Tod zu sein, wenn er Bestandteil des Lebensprozesses ist. Wir Menschen sind nun jener Teil der lebendigen Welt, der über dieses sein Lebendigsein und auch das Eingebettetsein des Todes im Leben reflektieren und philosophieren kann.
Die „Was“ und „Daß“ die hier ganz eigenständig unterwegs sind, verdunkeln allerdings den Fakt, dass es nicht um abstrakte Ideen sondern um endliches und verletzliches Leben geht.
Und dass dieses verletzliche Leben nur in der Endlichkeit existiert und dass deswegen die Versöhnung mit jenem Tod der Teil des Lebens ist, nur relativ sein kann. Zwar erhält sich das Leben im und mit dem Tod.
Aber unsere ganz persönliche Existenz endet.
„Es gibt keine garantierte Umschlagstelle, keinen automatischen Übergang aus dem Nichts der Entmenschung zum hocherhobenen Haupt. Konträr: das sich selbst überlassene Negativum leitet einzig in das ihm Angestammte: in totalen Un-Sinn, Gegen-Sinn, Wider-Sinn, ins Chaos. Daher wäre mit Leiden allein, ohne Leidenschaft, nie etwas Großes vollbracht worden; daher müßten, um eben ein Exempel aus der aktuell-geschichtlichen Dialektik zu wiederholen, Proletariat und Bourgeoisie zusammen in der kapitalistischen Widerspruchskrise zugrunde gehen, wenn nicht der aktive, der revolutionäre „Widerspruch“ sich dieser Krise annähme. Macht der Gegenzug in der Welt überall erst aus dem Negativum ein Instrument des Umschlags, des Geschehens, der Geschichte, so ist die revolutionäre Selbstergreifung des Widerspruchs zum erstenmal auch bewußt geschichtsbildend. Und das Ziel, das diesen Gegenzug letzthin hinanzieht, woran er auf dem Weg seinen terminus ad quem hat, ist das utopische Totum das Was. Sein mögliches Alles hat in jedem Sprengpulver gegen das Morbide seinen Vorausgruß, in jeder Freisetzung des besseren Neuen aus der verrottet, erstikkend gewordenen Hülle seine Statthalterschaft. Dialektik bezeichnet so den Ostpunkt im Untergangspunkt oder allemal: die Verschlingung des Tods mit dem Sieg. Aber der Ostpunkt im Untergangspunkt wird einzig von der Intention auf ihn hin in dieser seiner Morgenröte erhalten. Nur im Maß, mit dem das utopisch-positive Gewissen wächst und handelt, sich erhellt und der objektiven Möglichkeit sich verbindet: nur im gleichen Maß verringern sich die Felder, wo das Negativum nichts als Krisis zum Tod ist. „
Es gibt keinen Grund für Siegesfanfaren. Keine noch so triumphale Dialektik wird den Tod je überwinden. Aber da Tod nicht gleich Tod ist, wäre schon viel gewonnen, wenn wir es schaffen könnten, dass alle am Ende ihrer Zeit lebenssatt den nächsten Generationen Platz machen könnten, statt in der Blüte ihrer Jahre geknickt, gebrochen, ja vernichtet zu werden.
Dabei bedeutet schon die Annäherung an dieses Ziel harte Arbeit.
Das Leben nimmt dem Tod den Stachel.
Aber eben nur jener Tod, der dem Leben dient.
Wenn Goethe im Mephisto den „Teil einer Kraft“ geschaffen hat, die stets das Böse will und doch das Gute schafft, dann hat Goethe statt dem Teufel ein Teufelchen auf die Bühne gebracht.
Er hat geleugnet, dass es das Böse auch als alles zerstörende und vernichtende Kraft gibt, mit der keine Versöhnung möglich ist, weil dieses Böse eben nicht Teil sondern Feind des Lebens ist.
Es gibt einen Tod ohne jedes und gegen jedes Leben, aber es gibt kein Leben ohne Tod.
Und nur dieser Tod ist mit dem Leben verbündet.
Leben heißt auch essen. Essen bedeutet aber immer auch gegessen werden. Tiere aber leben immer von anderem Leben, sie sind nicht in der Lage Leben neu aus anorganischem oder zerfallendem alten Leben zu produzieren.
D.h. ohne zu töten, können Tiere nicht existieren.
Auch wir sind solche Tiere.
Tiere, die in dem Widerspruch leben, dass sie Leben töten um zu leben. Als solche Tiere haben wir nach und nach gelernt, so etwas wie Verstand und Vernunft zu entwickeln und nun müssen wir lernen unserer Fähigkeit zum Töten im Interesse des Lebens strikte Grenzen zu setzen.
Damit gibt es den Tod als notwendigen Teil des Lebens, ohne den es kein Leben gibt, das zu Mehl zermahlene Samenkorn der Mume Mählen und es gibt den Tod als reine Zerstörung, das „zertretene Samenkorn“.
Im Zentrum jeglicher Moral steht daher die Erhaltung und Stärkung des Lebens und der Respekt vor dem Leben.
Ohne diesen Respekt gibt es keine Moral.
Ein zentrales Moment dieses Respekts ist das Gebot „Du sollst nicht töten!“. Dieses Gebot bezieht sich zunächst auf meine Brüder und Schwestern und weitet sich dann aus, bis es die ganze Menschheit einschließt.
Und es wird sicher demnächst auch unsere Brüder und Schwestern Menschenaffen einschließen müssen.
Vor diesem Hintergrund muss man das „Moralproblem“ bewerten, dass Singer in de Waals „Affen und Philosophen„ zitiert und bei dem es um folgendes gehen soll:
„Obwohl uns die Fähigkeit zum Vernunftgebrauch hilft, zu überleben und uns fortzupflanzen, konnte sie uns, sobald wir sie einmal entwickelt haben, an Orte führen, die uns evolutionär gesehen keine direkten Vorteile bieten. Die Vernunft ist wie eine Rolltreppe – haben wir sie einmal betreten, können wir nicht von ihr herunter, bis wir dort angekommen sind, wo sie uns hinführt. Die Fähigkeit zu zählen kann nützlich sein, aber sie führt über einen logischen Prozess bis zu den Abstraktionen der höheren Mathematik, die evolutionär gesehen keinen direkten Nutzen abwerfen. Das gilt vielleicht auch für die Fähigkeit, die Perspektive von Smiths unparteiischem Beobachter einzunehmen.
Indem ich an dieser Sicht auf die Bedeutung des Vernunftgebrauchs in der Moral festhalte, unterscheide ich mich von de Waals Auffassung von den Lehren, die wir aus J. D. Greenes bahnbrechendem Werk ziehen sollten, das uns mit bildgebenden neurologischen Verfahren Aufschluss darüber geben soll, was bei moralischen Urteilen passiert. De Waal schreibt:
„Während die Fassadentheorie mit ihrer Betonung der menschlichen Einzigartigkeit moralisches Problemlösen evolutionsgeschichtlich jungen Ergänzungen unseres Gehirns zuschreiben würde - etwa dem präfrontalen Kortex -, zeigen bildgebende neurologische Verfahren, dass de facto eine Vielzahl von Hirnarealen daran beteiligt ist, von denen einige extrem alt sind (Greene und Haidt 2002). Kurz gesagt: Die Neurowissenschaften scheinen die Vorstellung zu bestätigen, dass die menschliche Moralität evolutional im Sozialverhalten von Säugetieren verwurzelt ist.“
Um zu verstehen, warum wir nicht diesen Schluss ziehen sollten, brauchen wir ein wenig mehr Informationen darüber, was Greene und seine Kollegen gemacht haben. Mittels bildgebender Verfahren untersuchten sie die Gehirnaktivität, wenn Menschen auf Situationen reagieren, die in der philosophischen Literatur als „Trolley-Probleme“ bezeichnet werden. Beim Standardproblem dieser Art stehen Sie an einem Gleis und bemerken, dass eine unbemannte Güterlore die Schienen entlanggerollt kommt und auf eine Gruppe von fünf Menschen zufährt. Alle werden sterben, wenn das Gefährt seinen Weg fortsetzt. Das Einzige, was Sie tun können, um diese fünf Leben zu retten, besteht darin, einen Weichenhebel umzustellen, wodurch der Trolley auf eine Nebenlinie umgeleitet wird, auf der er nur einen Menschen tötet. Wenn gefragt wird, was man unter diesen Umständen tun sollte, sagen die meisten, dass man den Trolley auf die Nebenstrecke umlei-
ten sollte und daher in der Bilanz vier Menschenleben retten würde.
In einer anderen Version des Problems droht der Trolley wie zuvor fünf Menschen zu töten. Dieses Mai jedoch stehen Sie nicht am Schienenstrang, sondern auf einer Fußgängerbrücke über der Bahnstrecke. Sie können den Trolley nicht umleiten. Sie überlegen, von der Brücke zu springen, sich vor den Trolley zu werfen und sich selbst zu opfern, um die bedrohten Menschen zu retten, aber Sie erkennen, dass Sie viel zu leicht sind, um den Trolley zu stoppen. Neben Ihnen jedoch steht ein sehr beleibter Fremder. Die einzige Möglichkeit, den Trolley daran zu hindern, fünf Menschen zu töten, besteht darin, diesen beleibten Fremden von der Fußgängerbrücke vor den Trolley zu stoßen. Wenn
Sie den Fremden hinunterstoßen, stirbt er, aber Sie retten die anderen
fünf. Gefragt, was man in dieser Situation tun sollte, sagen die meisten, dass man den Fremden nicht von der Brücke stoßen sollte.
Greene und seine Kollegen sind der Auffassung, dass diese Situationen sich insofern unterscheiden, als sie entweder ein „unpersönliches“ Moment enthalten - wie das Stellen einer Weiche - oder aber eine „persönlich“ zugefügte Verletzung, das Stoßen eines Fremden von einer Brücke. Sie stellten fest, wenn die Probanden in einem der „persönlichen“ Falle entscheiden mussten, waren die Areale des Gehirns. die mit emotionaler Aktivität verknüpft sind, stärker aktiv als in den Fällen, in denen die Probanden aufgefordert waren, ihre Entscheidungen in „unpersönlichen“ Fällen zu treffen. Bedeutsamer noch war, dass die Minderheit der Probanden, die zu dem Schluss gelangten, dass es richtig wäre, auf eine Weise zu handeln, weiche eine persönliche Verletzung mit einschließt, aber den Gesamtschaden minimiert - beispielsweise jene, die sagten, dass es richtig wäre, den Fremden von der Fußgängerbrücke zu stoßen, mehr Aktivität in den Teilen des Gehirns aufwiesen, die mit kognitiver Aktivität verknüpft sind, und länger brauchten, um zu ihrer Entscheidung zu gelangen, als jene, die zu einem solchen Vorgehen „Nein“ sagten. Mit anderen Worten, wenn wir mit der Notwendigkeit konfrontiert sind, einen anderen Menschen physisch anzugreifen, sind unsere Emotionen mächtig aufgepeitscht, und für manche ist die Tatsache, dass dies die einzige Möglichkeit ist, mehrere Leben zu retten, nicht hinreichend, um diese
Emotionen zu überwinden. Aber jene, die bereit sind, so viele Leben wie möglich zu retten, selbst wenn dies erfordert, einen anderen Menschen zu Tode zu stoßen, scheinen ihre Vernunft zu gebrauchen, um ihren emotionalen Widerstand gegen die persönliche Verletzung zu überwinden, die das Stoßen eines anderen Menschen mit sich bringt.
Untermauert dies den Gedanken, dass die „menschliche Moralität evolutionär in der Sozialität der Säugetiergesellschaft verankert“ ist ? Ja, bis zu einem gewissen Punkt. Die emotionalen Reaktionen, welche die meisten Menschen veranlassen zu sagen, dass es falsch wäre, einen Fremden von einer Fußgängerbrücke zu stoßen, können in genau jenen evolutionären Begriffen erklärt werden, die de Waal in seinen Vorlesungen entwickelt und mit Material aus seinen Beobachtungen von Primatenverhalten untermauert. Desgleichen ist einfach nachzuvollziehen, dass wir keine ähnlichen Reaktionen auf jemand entwickeln konnten, der einen Weichenhebel umwirft, was ebenfalls zu Tod oder
Verletzung führen kann, jedoch in einiger Entfernung von uns. Während unserer gesamten Evolutionsgeschichte waren wir in der Lage, andere zu verletzen, indem wir sie gewaltsam stießen, aber erst seit ein paar Jahrhunderten - einer viel zu kurzen Zeit, um für unsere evoluierte Natur einen Unterschied zu machen - sind wir in der Lage, andere mittels Handlungen wie dem Umlegen eines Hebels zu schädigen.
Ehe wir dies als Bestätigung von de Waals Argument betrachten, müssen wir jedoch erneut über die Probanden in Greenes Experimenten nachdenken. Sie kamen nach einiger Überlegung zu dem Schluss, dass es richtig sei, einen Weichenhebel zu betätigen, um einen Zug umzuleiten, wodurch zwar eine Person getötet, aber fünf gerettet werden, und dass es genauso richtig sei, eine Person von einer Fußgängerbrücke zu werfen, um eine zu töten. aber fünf zu retten. Dies ist ein Urteil, zu dem andere soziale Säugetiere offenbar nicht fähig sind.
Doch auch dies ist ein moralisches Urteil. Es scheint nicht aus dem evolutionären Erbe hervorzugehen, das wir mit anderen sozialen Säugetieren teilen, sondern aus unserer Fähigkeit zum abwägenden Vernunftgebrauch. Wie die anderen sozialen Säugetiere haben wir automatische, emotionale Reaktionen auf gewisse Arten von Verhalten, und diese Reaktionen bilden einen großen Teil unserer Moralität. Im Gegensatz zu den anderen sozialen Säugetieren können wir über unsere emotionalen Reaktionen nachdenken und uns entscheiden, sie zu verwerfen. Erinnern wir uns an Humphrey Bogarts Bemerkung gegen Ende von Casablanca, wo er, als Rick Blaine, der Frau, die er liebt (Ilsa Lund, gespielt von Ingrid Bergman), sagt, sie solle das Flugzeug nehmen und sich ihrem Mann anschließen: „Edelmut ist nicht meine Stärke, aber man braucht nicht viel, um zu sehen, dass die Probleme von drei kleinen Leutchen in dieser verrückten Welt nur Kleinkram sind.“ Vielleicht braucht es nicht viel, aber es braucht Fähigkeiten, die kein anderes soziales Säugetier besitzt.
Obwohl ich de Waals Bewunderung für David Hume teile, stelle ich fest, dass ich in dieser Sache widerstrebenden Respekt für einen Philosophen entwickle, der oft als Humes großer Gegenspieler betrachtet wird, lmmanuel Kant. Kant war der Auffassung, dass Moral auf Vernunft gegründet sein müsse. nicht auf unsere Wünsche und Emotionen. Zweifellos irrte er in dem Glauben, dass Moral auf Vernunft alleine gegründet werden könne, aber es ist gleichermaßen falsch. Moral nur als eine Frage der emotionalen oder instinktiven Reaktionen zu betrachten, ohne Rückgriff auf unsere Fähigkeit zum kritischen Vernunftgebrauch. Wir müssen die emotionalen Reaktionen, die durch Millionen von Jahren des Lebens in kleinen Stammesgruppen in unsere biologische Natur eingeprägt sind, nicht als unumstößlich hinnehmen. Wir sind fähig zum Vernunftgebrauch und können Entscheidungen treffen, und wir können diese emotionalen Reaktionen ablehnen. Vielleicht tun wir dies nur auf Basis anderer emotionaler Reaktionen, aber an diesem Prozess sind Vernunft und Abstraktionsvermögen beteiligt, und er kann uns, wie de Waal zugesteht, zu einer Moral führen, die unparteischer ist, als es unsere Evolutionsgeschichte als soziale Säugetiere - ohne diesen Vorgang des Vernunftgebrauchs - erlauben würde.“
Das Problem beider Beispiele ist, dass es in diesen Fällen gar kein moralisches Handeln gibt. Die Behauptung, dass man einen töte um fünf zu retten, gehört zum Standardrepertoire der „Entschuldigungen“ eines jeden Mörders.
Und dass Menschen, wenn sie nur einen Hebel umlegen müssen, eher zur Unmoral fähig sind, ist keine neue Erkenntnis.
Einen anderen Menschen zu töten ist und bleibt aber eine unmoralische Handlung, ein Verbrechen, unabhängig davon, welche Rechtfertigung man vor bringen kann.
Im Gegenteil: Es ist ein eigenständiges Verbrechen und zwar ein intellektuelles, wenn man anfängt „Gründe“ auf zu sammeln, um Töten zu rechtfertigen.
Die Botschaft de Waals lautet nun, dass dieses Gebot des „Du sollst nicht töten“ in unserer Instinktstruktur verankert sein soll, was auch erklärt, warum die Hemmung einen Mann von der Brücke zu schmeißen größer ist, als einen Hebel um zu legen. Denn von dieser Hebel-Problematik konnte unser Instinkt noch nichts wissen, als wir von den Bäumen stiegen.
Wenn aber das „Liebe deinen Nächsten, wie Dich selbst“ ebenso Teil unserer Instinktstruktur ist wie der Drang andere zu beherrschen, dann hat das tiefgehende Konsequenzen, nicht nur für alle möglichen Theorien in Philosophie, Psychologie, Geschichte, Soziologie und Politik, es hat auch tiefgehende Konsequenzen für die Frage welcher Weg uns letzten Endes zur Freiheit führt.
Weil der Drang zum Herrschen und zur Dominanz, einschließlich Mord und Totschlag und „Krieg“ zwischen benachbarten Horden äffisches Erbe ist, das wir mit den Schimpansen teilen, darum musste nicht erst die „Eigentumsfrage“ relevant werden, um solches Verhalten in menschlichen Gesellschaften auf die Tagesordnung zu setzen.
D.h. Tyrannen und Tyrannei, Raub und Mord sind älter als jedes private Eigentum an Produktionsmitteln.
Als aber die Eigentumsfrage auf die Tagesordnung trat, da stand das ganze Repertoire negativen Verhaltens von Mobbing bis Krieg, schon bereit.
Und die Aussicht auf große Gewinne und ein bequemes Leben hat jede Menge zerstörerische Energien frei gesetzt.
Aber auch die Bonobos sind Affen und sie zeigen uns, dass unser äffisches Erbe auch die Fähigkeit zu Liebe und Zuneigung und zur konsequenten Konfliktvermeidung einschliesst. Und es zeigt, daß Freuds Behauptung die Unterdrückung der Sexualität, des Es, sei gewissermaßen der Preis den wir für unsere Kultur zu zahlen haben, Unsinn ist.
Im Gegenteil: Wir benötigen und missbrauchen unsere Vernunft um uns und anderen ein zu reden, es wäre eine gute und moralische Tat, wenn wir morden.
Singer und andere werden uns sogar ein zu reden versuchen, dass wir ohne einen Mord am Tod von fünf Menschen schuld seien. Aber das ist falsch. Es ist die Lore, die tötet und verantwortlich dafür, dass sie das tut, ist der, der vergessen hat die Bremse zu zu drehen. Und auch der, der die Gleise so gelegt hat, dass man nicht seitlich aus dem Gleisbett springen kann.
Das Gebot keine anderen Menschen, keinen Artgenossen um zu bringen ist auch deswegen tief in uns verankert, weil seine Aufkündigung, mit welchen wohl überlegten Gründen auch immer, einen Krieg Aller gegen Alle auslöst, denn „gute Gründe“ finden sich immer. Ein solcher Krieg bedroht aber den sozialen Zusammenhalt und kann sehr leicht zum Tod jeder Gemeinschaft führen. Dieses Problem haben aber auch schon Wölfe und Affen. Und deswegen kennen sie dieses Gebot.
Deswegen gibt es auch keine „gerechten Kriege“, auch wenn es manchmal eine Frage der Gerechtigkeit sein kann, dass man Mörder und Tyrannen mit militärischen Mitteln bekämpft. Man muss immer wissen, dass diese militärischen Mittel, selbst wenn sie für gute Zwecke eingesetzt werden, per se böse sind. Und dass sie die fatale Konsequenz haben auch auf die allerbesten und edelsten Ziele pervertierend zurück zu wirken. Der Krieger bringt den Tod und zwar den Tod als Feind des Lebens, auch und gerade wenn er ein guter Krieger ist, d.h. einer der für das Gute kämpft und gut kämpft.
Das Gebot nicht zu töten ist zunächst einmal fest in unseren Instinkten verankert.
Dass sich dann bei Bonobos und Schimpansen und erst recht beim Menschen der Verstand und die Vernunft langsam vom Instinkt lösen, schafft neue Möglichkeiten und Probleme.
U.a. das, dass man trotz seiner Instinkte morden kann. Die „Tiefe der Intentionalität“ trennt uns sicher von jedem Affen. Allerdings verrät sie nichts über unsere Moralität.
Wenn Singer über jene Probanden, die keine Probleme haben einen Mann von einer Brücke zu schmeißen, falls die Begründung stimmt, schreibt: „Dies ist ein Urteil, zu dem andere soziale Säugetiere offenbar nicht fähig sind. Doch auch dies ist ein moralisches Urteil.“ dann ist dies falsch. Es ist die vernunftgeleitete Unmoral zu der wir hier unsere Fähigkeit beweisen.
Andernfalls wäre nämlich selbst Himmlers „Krakauer Rede“ noch ein Dokument moralischen Ringens. Sie steckt übrigens voller Referenzen an Kant.
Singers Ansatz den Verstand über unsere Instinkte zu stellen, steht zwar in einer altehrwürdigen Tradition, aber diese Tradition ist sehr blutig und voller Gewalt, Krieg und Unterdrückung. Jede Knechtschaft beginnt mit der Vergewaltigung unserer Bedürfnisse. Und immer vernehmen wir die Botschaft von der höheren Vernunft, von der göttlichen Idee, die ihre Opfer fordert.
Meistens ist die höhere Idee eine Lüge.
Es gibt nur eine wirklich hohe und verehrungswürdige Idee: Der Respekt vor und die Liebe zum Leben.
Und nur wenn Verstand und Instinkt in dieser Liebe zusammen klingen, entsteht jene Sphärenmusik, die den Tod besiegt oder zumindest seine Härte mildert und uns versöhnt sterben lässt.
Unsere Fähigkeit zum Bösen, d.h. die Fähigkeit uns zum Werkzeug von Tod und Vernichtung zu machen ist kein Resultat tierischer Instinkte.
Seit wir aus dem Paradies vertrieben wurde, wissen wir dank der Schlange was Gut und Böse ist. Tiere fühlen das nur.
Wir können es auch wissen. Wir können aber auch tausend Gründe finden und erfinden, warum unser Gefühl unrecht hat und damit zu Propagandisten höchster Unmoral werden.
Diese Freiheit haben wir.
Gerade unser tierisches Erbe lässt uns diese Freiheit.
Wenn wir davon ausgehen, dass die Bonobos die direkten Nachfahren jener Waldaffen sind, von denen wir uns vor 5 Millionen Jahren abgesondert haben, dann haben diese uns eine bemerkenswerte Erfindung mit auf den Menschwerdungsweg gegeben:
Sie haben das eher männliche Hierarchie- und Dominanzverhalten im Hegelschen Sinne „aufgehoben“ (nämlich bewahrt und überwunden), in dem sie die Frauen dominieren lassen. Damit wird die Liebe und nicht die Hierarchie zum „dominanten“ Prinzip der Konfliktregulierung.
Das ist neu.
Und dieses Neue ist sofort in Gefahr, sobald die Reviergrösse wächst, weil das Nahrungsangebot schrumpft und damit die notwendige Solidarität der „schwachen“ Frauen gegen die „starken“ Männer nicht mehr garantiert ist.
Aber auch die Nachsicht der „starken“ Männer gegen die „schwachen“ Frauen, die immer zuerst die besten Früchte wollen, übersteht den Hunger und die Not nicht.
So fallen die Schimpansen auf Pavian-Niveau zurück. Da sie aber intelligenter sind als jene, fallen ihnen dabei auch Gemeinheiten ein, auf die ein Pavian nie kommen würde.
So ähnlich kann es auch unseren Vorfahren gegangen sein, bis sie an die südafrikanische Küste kamen und dort, mit dem überreichen Nahrungsangebot aus dem Meer, ein neues Paradies fanden (das alte liegt im Sumpfregenwald der Bonobos).
In den nun wieder kleineren Revieren konnte die Dominanz der Frauen und damit die Dominanz der Liebe über männliche Macht neu entstehen bzw. wieder entdeckt werden.
Und unter anderen, widrigeren Umständen auch wieder verloren gehen.
Und wieder neu entdeckt z.B. mit der Erfindung des Gartens und des Gartenbaus.
Und wieder verloren gehen....
So kann es gewesen sein. Ob es so war, werden andere herausfinden.
Das alles bedeutet aber, dass Liebe und Solidarität mindestens genauso alt und genauso tief in uns verankert sind, wie Hass und Herrschsucht.
Es heißt, dass wir für eine Gesellschaft, in der Gleichheit, Gerechtigkeit und Liebe dominieren, keinen „neuen Menschen“ brauchen. Der alte genügt vollkommen.
Es wird darauf ankommen, welche Seite des „alten Menschen“ zur Geltung kommt.
Der „Oberschimpanse“ oder „Oberpavian“, dem alle Weibchen gehören, weil er die Gruppe beherrscht und der sich deswegen nur wenige Jahre halten kann, bevor ihn einer seiner Rivalen tötet oder auch nur, wenn er Glück hat, von der Spitze vertreibt.
Oder die, bei der wir alle Kinder der einen großen Mutter sind und uns lieben.
Natürlich wäre die letztere Gesellschaft sehr stark weiblich geprägt.
Aber auch auf die Gefahr hin, dass „Männerrechtler“ mich erneut zum „lila Pudel“ wählen: Ich ziehe es vor, der holden Weiblichkeit Orangen und Ananas zu schenken, statt mich vom Oberaffen beißen oder gar totschlagen zu lassen.
Eine Gesellschaft, die von oben nach unten hierarchisch durch strukturiert ist, pflegt die, die ganz unten sind, die Letzten, immer wieder aus zu spucken. Und als Idiot weiss ich, dass ich manchmal zu diesen Letzten gehöre.
Die Geschichte von Maria und ihrem frühen Tod, erzählt uns davon, welche Art von Gesellschaft wir bekommen (bzw.haben), wenn noch der oder die Vorletzte sich über den oder die Letzte erheben darf und die Schwachen schutzlos sind.
Sie erzählt aber auch davon, wie „kinderleicht“ es ist, dieser Idiotie etwas Besseres entgegen zu setzen. Und wir wünschen uns, dass den Kindern, vor allem aber den kleinen Mädchen, genügend Energien aus der Geschichte mit Myschkin und Maria zu geflossen sind, um auch als Erwachsene solchen Treibjagden zu widerstehen.
Solche grünen Inseln der Liebe und Zuneigung zu schaffen inmitten einer Betonwelt der widerstreitenden Interessen, ist der wesentlichste Baustein eines „richtigen Lebens im falschen“.
Natasja ist 16 Jahre alt, als Tozki sie zu seiner Geliebten macht. Er hält sie in einem goldenen Käfig wie einen Vogel. Und er geniesst sie, welchen Genuß sie dabei hat, bleibt unklar. Ebenso unklar bleibt, ob Tozki diese Frage überhaupt interessiert.
Über das Dorf, in dem er sie festhält, heisst es im Roman:
„ und das Dörfchen führte wie absichtlich den Namen Otradnoje ( Etwa »Freudendorf«. (A.d.Ü.)“ [Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 19589 (vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 3, S. 64) http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]
Nachdem sie genossen wurde, soll sie unter irgendeine Haube gebracht werden, damit Tozki sich neuen Genüssen und der Erhöhung seines gesellschaftlichen Status widmen kann.
„Jedenfalls hatte er noch im letzten Frühjahr beabsichtigt, Nastasja Filippowna in Bälde mit irgendeinem verständigen, ordentlichen, in einem andern Gouvernement angestellten Beamten gut zu verheiraten und ihr eine hübsche Summe als Mitgift zu geben. (Oh, wie schrecklich und boshaft lachte Nastasja Filippowna jetzt über diesen Plan!) Aber jetzt war Afanasi Iwanowitsch, entzückt über ihren neuen Reiz, sogar auf den Gedanken gekommen, ob er von diesem Weib nicht von neuem Vorteil ziehen könne. Er beschloß, Nastasja Filippowna in Petersburg wohnen zu lassen und mit allem Komfort und Luxus zu umgeben. Konnte er das eine nicht haben, so dafür ein anderes: Mit einer Nastasja Filippowna konnte man sich schon sehen lassen und in einem gewissen Kreis sich sogar ein feines Renommee erwerben. In diesem Punkt aber legte Afanasi Iwanowitsch auf sein Renommee großen Wert.“
[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 19597
(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 3, S. 69)
http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]
Der größte Teil des männlichen Personals bietet in seinem Verhältnis zu Natasja ein Bild moralischer Verkommenheit. Aber nicht nur das: Diese Männer entwickeln eine hochgradig gestörte Sexualität, die zwar als sehr männlich gilt und z.B. von Hans Albers als „die Liebe der Matrosen“ besungen wird, in der aber jede Frau nur als Objekt existiert.
Gegen dieses zum Objekt gemacht werden rebelliert sie, in dem sie ihre Schönheit als Waffe nutzt um sich an Tozki und den anderen Männern zu rächen.
Im Roman heisst es:
„Nastasja erklärte ihm geradezu, sie habe ihm gegenüber in ihrem Herzen nie etwas anderes empfunden als die tiefste Verachtung; dieses bis zum Ekel gesteigerte Gefühl sei bei ihr gleich nach dem ersten Erstaunen eingetreten. Dieses neue Weib erklärte ihm, es sei ihr eigentlich vollständig gleichgültig, ob er sich jetzt verheirate und mit wem; aber doch sei sie hergekommen, um ihm diese Heirat zu verbieten, und zwar einfach aus Bosheit, einzig und allein, weil es ihr so beliebe; somit müsse es nun einmal so sein. »Und war's auch nur, damit ich über dich lachen kann, soviel ich will«, sagte sie, »denn jetzt habe auch ich schließlich Lust bekommen zu lachen.«“ [Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 19592 (vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 3, S. 65-66) http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]
Sie kehrt die bloße Objekt-Beziehung gewissermaßen um in dem sie die Gier, die Gier danach die schönste Frau Petersburgs zu besitzen bei Rogoschin, Jenpantschin u.a., aber auch die Gier Ganjas nach Reichtum, systematisch für ihre Rache nutzt.
Bekanntlich beginnt intelligentes Verhalten im Tierreich da, wo die Fähigkeit entsteht den Schmerz, aber auch die Freude und Lust seines Gegenübers mit zu empfinden. Diese Fähigkeit sich zu spiegeln ist gewissermaßen das Zentrum unserer Intelligenz. Und deswegen kann es mit der Intelligenz von Tozki und Konsorten auch nicht so weit her sein.
Dagegen besitzt Myschkin diese Fähigkeit in hohem Maße. Wir haben bisher viel über die fehlenden Fähigkeiten Myschkins und aller anderer Myschkins gesprochen. Sie führen praktisch zu einer partiellen Blindheit.
Aber dort, wo sie sehen können fehlt es ihnen nicht an der Fähigkeit zur Empathie. Im Gegenteil:
„»Und Sie schämen sich auch nicht! Ist denn das Ihr wahres Wesen, wie Sie sich jetzt geben? Wie wäre denn das möglich!« rief auf einmal der Fürst im Tone ernsten, starken Vorwurfs.
Nastasja Filippowna war erstaunt; sie lächelte, aber nur als ob sie etwas hinter dieser Miene zu verbergen suchte; dann richtete sie einen etwas verlegenen Blick auf Ganja und verließ den Salon. Aber sie war noch nicht zum Vorzimmer gelangt, als sie plötzlich umkehrte, schnell an Nina Alexandrowna herantrat, ihre Hand ergriff und an ihre Lippen führte.
»Ich bin ja wirklich nicht so; er hat es erraten«, flüsterte sie rasch und leidenschaftlich, und eine dunkle Röte übergoß auf einmal ihr ganzes Gesicht. Darauf kehrte sie um und ging diesmal so eilig hinaus, daß sich niemand in der Geschwindigkeit darüber klarwerden konnte, weshalb sie eigentlich zurückgekehrt war. Sie hatten nur gesehen, daß sie Nina Alexandrowna etwas zugeflüstert und ihr, wie es schien, die Hand geküßt hatte. Aber Warja hatte alles genau gesehen und gehört und verfolgte sie erstaunt mit den Augen.“
[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 19767-19768 (vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 3, S. 183) http://www.digitale-bibliothek.de/Band89.htm ]
Er erkennt als einziger unter der Hülle der „femme fatale“ das geschändete, beleidigte Mädchen.
Deswegen liebt sie ihn.
Aber sie erkennt ihn im auch das harmlose, gutmütige Schaf, mit dem sie den Krieg, den sie dieser Petersburger Männerwelt erklärt hat, unmöglich gewinnen kann.
Deswegen entscheidet sie sich immer wieder für Rogoschin.
Den einen liebt sie und den anderen möchte sie gerne zu ihrem Krieger, ihrem Ritter machen.
Dabei versucht auch Mysckin ein Ritter zu sein. Im grössten Durcheinander sagt er, der sonst nie von Liebe spricht: „Ich liebe diese Frau und ich will sie heiraten“.Zitate
Sie vernimmts mit grossem Staunen, aber sie kann ihn, zurecht, als Ritter nicht ernst nehmen und deswegen rät sie ihm zu Aglaja. Weil sie weiss, das er an der Seite der energischen Generalstochter auch als der harmlose Trottel, der er ja auch ist, nicht untergehen wird.
Zitate
Sie aber könnte sein Untergang sein.
In Shakespeares Richard III gibt es eine Szene, in der Richard auf der Beerdigung eines Rivalen um die Hand von dessen Witwe anhält, nachdem die ihn zuvor als Mörder beschimpft hat (und er ist ja tatsächlich der Mörder).
Nach erfolgreicher Werbung sagt Richard: "Ist das die neue Art um Frauen zu werben ? "
Eine auf andere Art sehr seltsame Brautwerbung erlebt man bei Myschkin:
Sie ist vielleicht die seltsamste, die jemals in irgend einem Roman beschrieben wurde und die Art, wie der Fürst hier auftritt ist so sonderbar, dass daraus vielleicht das auch u.a. von Tellenbach gepflegte Vorurteil entstanden ist, er begehre überhaupt keine Frau. Dabei kämpft er hier auf seine Art um seine große Liebe und verliert, weil er ist, wie er ist. Die „Myschkinsche Brautwerbung“ beginnt damit, dass sich Aglaja und der Fürst gegenseitig versichern sich nicht zu mögen (die Szene schliesst unmittelbar an die oben besprochens Szene an, in der Aglaja fragt „Warum besitzen sie so gar keinen Stolz“):
„»Schweigen Sie ...! Wie kann jemand wagen, mich hier in Ihrem Haus zu beleidigen!« wandte sich Aglaja plötzlich mit größter Heftigkeit zu ihrer Mutter. Sie befand sich bereits in jenem gereizten Zustand, in dem der Mensch sich um keine Grenzen mehr kümmert und über jedes Hindernis hinwegschreitet. »Warum peinigen sie mich alle, alle ohne Ausnahme? Warum haben alle diese Menschen mir diese drei Tage lang um Ihretwillen zugesetzt, Fürst? Ich werde Sie um keinen Preis heiraten! Hören Sie wohl: um keinen Preis und niemals! Das mögen Sie wissen! Wie kann man denn auch einen so lächerlichen Menschen wie Sie heiraten? Betrachten Sie sich nur jetzt einmal im Spiegel, wie Sie dastehen! Warum, warum ziehen mich alle damit auf, daß ich Sie heiraten werde? Sie, Sie müssen das wissen! Sie sind auch mit ihnen im Komplott!« »Nie hat dich jemand damit aufgezogen!« murmelte Adelaida erschrocken. »Es ist keinem in den Sinn gekommen; kein Wort von der Art ist gesprochen worden!« rief Alexandra Iwanowna. »Wer hat sie aufgezogen? Wann ist das geschehen? Wer hat es fertiggebracht, so etwas zu ihr zu sagen? Redet sie irre?« Mit diesen Fragen wandte sich Lisaweta Prokofjewna, zitternd vor Zorn, an alle Anwesenden. »Alle haben es gesagt, alle ohne Ausnahme, die ganzen drei Tage lang! Aber ich werde ihn niemals heiraten, niemals!« Nach diesen heftig hervorgestoßenen Worten brach Aglaja in bittere Tränen aus, verbarg ihr Gesicht mit dem Taschentuch und ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Aber er hat dir ja noch gar keinen Antrag ...« »Ich habe Ihnen keinen Antrag gemacht, Aglaja Iwanowna«, entfuhr es dem Fürsten unwillkürlich. »Wa-as?« rief Lisaweta Prokofjewna erstaunt, entrüstet, erschrocken aus und zog dieses Wort sehr in die Länge. »Was – soll – das – heißen?« Sie wollte ihren Ohren nicht trauen. »Ich wollte sagen ... ich wollte sagen«, erwiderte der Fürst zitternd, »ich wollte Ihrem Fräulein Tochter nur erklären ... die Ehre haben zu erklären, daß ich überhaupt nicht beabsichtigte ... die Ehre zu haben, um ihre Hand zu bitten ... zu keiner Zeit ... Ich bin hierbei ganz unschuldig, bei Gott, ganz unschuldig, Aglaja Iwanowna! Ich habe es nie gewollt, und es ist mir nie in den Sinn gekommen; ich werde es niemals wollen; das werden Sie selbst sehen; davon können Sie überzeugt sein! Irgendein schlechter Mensch muß mich bei Ihnen verleumdet haben! Seien Sie ganz beruhigt!« Während er das sagte, näherte er sich dem aufgeregten Mädchen. Diese nahm das Taschentuch weg, mit dem sie ihr Gesicht verhüllte, warf einen schnellen Blick auf ihn und seine ganze erschrockene Gestalt, wurde sich über den Sinn seiner Worte klar und lachte ihm auf einmal gerade ins Gesicht, mit einem so lustigen, unbezwingbaren Lachen, mit einem so komischen, spöttischen Lachen, daß als erste Adelaida, namentlich nachdem sie ebenfalls den Fürsten angeblickt hatte, sich nicht halten konnte, zu ihrer Schwester hinstürzte, sie umarmte und in ein ebenso unaufhaltsames, backfischmäßig lustiges Lachen ausbrach wie diese.“
[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 20291 (vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 4, S. 258-259) http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm
Es soll ja öfter vorkommen, dass man etwas anderes sagt als man meint und bekanntlich ist die Negation der Negation ja auch eine Bejahung, aber hier zappelt Myschkin regelrecht wie die Fliege im Netz und jedes zappeln macht seine Situation schlimmer. Die später auf der Parkbank stattfindende Katastrophe für ihn und seine Liebe würde sich hier schon ereignen, wenn ihn Aglaja nicht durch ihr Lachen erlösen würde.
Was geht hier eigentlich vor ?
Nun: Aglaja verhält sich wie eine Frau sich normlerweise verhält, die passiv bleiben muss, weil Frauen passiv zu bleiben haben und die deswegen ihren Galan provoziert. Wenn sie sagt, dass sie ihn nicht liebt, fordert sie ihn heraus und schützt sich gleichzeitig vor Blamage und Gesichtsverlust falls sie ihm gleichgültig ist. Sie übernimmt eine quasi aktive passive Rolle im uralten Balzritual. Sie ist damit ganz in der Rolle, in die sich üblicherweise eine Frau begibt, die begehrt werden will
Und wie antwortet Myschkin darauf ?
So als wäre er eine 2.Aglaja. Auch er strebt die passive Rolle an, d.h. auch er wäre gerne eine Frau. Nicht in dem Sinn, in dem ein Transvestit eine Frau sein will, sondern in dem Sinn, dass er die passive Rolle anstrebt. Auch er möchte begehrt werden und umworben um dann am Ende ein gefühlvolles „Ja“ hauchen oder seufzen zu können.
Die Männerrolle, die des Werbers, bleibt unbesetzt.
Als Aglaja ihn in diese, die männliche Rolle, drängen will, verleugnet er in höchster Panik seine Liebe, so wie weiland Petrus am Hofe des Pilatus Jesus verleugnet hat.
Und er ist auch mindestens genauso erschrocken.
Im letzten Moment rettet Aglaja die Situation, in dem sie aus ihrer Rolle fällt und das Paradoxe dieses Moments weglacht.
In den nächsten 2 Schritten ist dann Aglaja die Aktive, d.h. sie verlässt ihre, weil sie Frau ist, vorbestimmte passive Rolle und alles geht erstmal gut:
"Aber die Rätsel, die Aglaja Iwanowna den anderen an diesem Abend aufgab, hatten noch nicht ihr Ende erreicht. Das letzte derartige Rätsel legte sie dem Fürsten allein vor. Als sie sich ungefähr hundert Schritte von dem Landhaus entfernt hatten, sagte Aglaja hastig halbflüsternd zu ihrem hartnäckig schweigenden Kavalier:
"Blicken Sie einmal nach rechts!«
Der Fürst blickte nach der angegebenen Richtung. »Blicken Sie recht aufmerksam hin! Sehen Sie da eine Bank im Park, da, wo die drei großen Bäume stehen ... eine grüne Bank?« Der Fürst antwortete, daß er sie sehe. »Gefällt Ihnen das Plätzchen? Ich gehe manchmal frühmorgens, gegen sieben Uhr, wenn alle noch schlafen, allein dorthin und sitze da.«
Der Fürst murmelte, es sei ein sehr schönes Plätzchen. »Aber jetzt gehen Sie von mir weg; ich möchte nicht länger mit Ihnen untergefaßt gehen. Oder besser so: lassen Sie mir Ihren Arm, aber reden Sie mit mir kein Wort! Ich möchte still für mich nachdenken ...« Dieses Verbot war jedenfalls überflüssig: der Fürst hätte sicherlich auch ohne solche Weisung auf dem ganzen Weg kein Wort gesprochen. Sein Herz begann furchtbar zu klopfen, als er die Mitteilung von der Bank hörte. Einen Augenblick darauf hatte er sich wieder gesammelt und wies voller Scham einen absurden Gedanken zurück, der ihm gekommen war ...“
[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 20291 (vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 4, S. 261-262) http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm
Der „absurde Gedanke“ den er voller Scham zurückweist, lautet vermutlich:
„Sie liebt mich.“
Es gibt manchmal einen Unterschied zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung. Jeder Leser, aber auch jeder Besucher des Jepantschinschen Hauses fühlt und sieht, das die 4 Frauen diesen Myschkin sehr mögen und dass sich deswegen alle 4 wünschen er möge die schönste und begehrenswerteste von Ihnen, Aglaja, bekommen.
Und der Fürst verbietet sich „voller Scham“ einen „absurden Gedanken“, nämlich den, Aglaja könnte ihn lieben. Gleichzeitig wünscht er nichts mehr, als dass dieser „absurde Gedanke“ wahr würde.
Dem deutlichen Hinweis auf die grüne Parkbank folgt die ebenso deutliche Einladung zum Rendevous.
"Als der Fürst an der Straßenkreuzung allein geblieben war, blickte er sich nach allen Seiten um, ging schnell über die Straße hinüber, trat nahe an das erleuchtete Fenster eines Landhauses heran, faltete einen kleinen Zettel auseinander, den er während des ganzen Gesprächs mit Iwan Fjodorowitsch fest in der rechten Hand zusammengedrückt gehalten hatte, und las unter Benutzung des schwachen Lichtschimmers:
»Morgen früh um sieben Uhr werde ich auf der grünen Bank im Park sitzen und Sie erwarten. Ich will mit Ihnen über eine sehr wichtige Angelegenheit reden, die Sie direkt angeht.
PS Ich hoffe, Sie werden diesen Zettel niemandem zeigen. Ich schäme mich zwar, Ihnen erst noch eine solche Instruktion zu geben, habe mir aber gesagt, daß sie bei Ihnen nötig ist, und sie darum hergesetzt, indem ich vor Scham über Ihren komischen Charakter errötete.
PPSS Es ist dieselbe grüne Bank, die ich Ihnen vorhin gezeigt habe. Schämen Sie sich! Ich sah mich genötigt, auch das erst noch herzuschreiben.« [Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 20325 (vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 4, S. 284-285) http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]
Aglaja errötet zwar vor Scham über Myschkins „komischen Charakters“, aber wegen dieses Charakters tut sie etwas, was eigentlich eine Dame ihres Standes und ihrer Zeit nicht tut: Sie übernimmt die Initiative und die Führung.
Und sie tut das mit der nötigen Deutlichkeit und Klarheit. Leider vergisst sie das später.
Nach einer langen Nacht, mit viel Geschwätz, einem Selbstmordversuch eines Schwindsüchtigen (krebskranken ?) Jünglings und dem ausgiebigen Genuss von viel Champagner durch die übliche nichtsnutzige Bande, die auf den Geburtstag des Fürsten trinken, landet er schließlich auf besagter Bank.
Weil er müde ist schläft er ein und träumt von Natasja, um durch das Lachen Aglajas geweckt zu werden:
„Er erhob sich (im Traum), um ihr nachzugehen, und auf einmal hörte er, wie neben ihm jemand frisch und fröhlich lachte; eine Hand befand sich in der seinigen; er erfaßte diese Hand, drückte sie kräftig und erwachte. Vor ihm stand laut lachend Aglaja.
Sie lachte; aber sie war zugleich unwillig. »Er schläft! Sie haben geschlafen!« rief sie verwundert und geringschätzig. »Sie sind es!« murmelte der Fürst, der noch nicht ganz zu sich gekommen war und sie mit Erstaunen erkannte. »Ach ja! Das Rendezvous ...! Ich habe hier geschlafen.« »Das habe ich gesehen.« »Hat mich außer Ihnen niemand geweckt? War außer Ihnen niemand hier? Ich glaubte, es sei ... eine andere Frau hier gewesen.« »Eine andere Frau sollte hier gewesen sein?« Endlich hatte er seine Gedanken wieder vollständig gesammelt. »Es war nur ein Traum«, sagte er nachdenklich. »Sonderbar, daß mir in einem solchen Augenblick so etwas träumte ... Setzen Sie sich!« Er faßte sie bei der Hand und veranlaßte sie, sich auf die Bank zu setzen; er selbst setzte sich neben sie und überließ sich seinen Gedanken. Aglaja begann das Gespräch nicht, sondern blickte den neben ihr Sitzenden nur unverwandt an. Er schaute sie ebenfalls an, aber manchmal so, als ob er sie überhaupt nicht vor sich sähe. Sie errötete. »Ach ja!« sagte der Fürst zusammenfahrend. »Ippolit hat sich erschossen!« »Wann? In Ihrer Wohnung?« fragte sie, aber ohne großes Erstaunen. »Gestern abend lebte er ja doch wohl noch? Wie konnten Sie denn nach einem solchen Vorfall hier schlafen?« rief sie, plötzlich lebhaft werdend. »Aber er ist ja nicht tot; die Pistole versagte.« Auf Aglajas dringendes Verlangen mußte der Fürst sogleich und in aller Ausführlichkeit alle Ereignisse der vergangenen Nacht erzählen. Sie trieb ihn während der Erzählung alle Augenblicke zur Eile, unterbrach ihn aber selbst fortwährend mit Fragen, und zwar betrafen diese fast immer nebensächliche Dinge. Unter anderm hörte sie mit großem Interesse an, was Jewgeni Pawlowitsch gesagt hatte, und stellte einige Male sogar Fragen darüber. »Nun aber genug! Wir müssen uns beeilen«, schloß sie, nachdem sie alles gehört hatte. »Wir können hier nur eine Stunde bleiben, bis acht Uhr, weil ich um acht Uhr unter allen Umständen zu Hause sein muß, damit die andern nicht erfahren, daß ich hier gesessen habe. Ich bin aber in einer ernsten Angelegenheit hergekommen und habe Ihnen vieles mitzuteilen. Nur haben Sie mich jetzt ganz aus dem Konzept gebracht. Was Ippolit betrifft, so meine ich, es war das Richtige, daß seine Pistole versagte; das paßt zu seiner Persönlichkeit am besten. Aber sind Sie überzeugt, daß er sich tatsächlich erschießen wollte und es nicht bloß Humbug war?« »Es war bestimmt kein Humbug.« »Das ist das Wahrscheinlichste. Er hat also auch geschrieben, Sie sollten mir seine Beichte bringen? Warum haben Sie sie mir nicht gebracht?« »Aber er ist ja nicht gestorben. Ich werde ihn fragen, ob ich es unter diesen Umständen tun soll.« »Bringen Sie sie mir auf jeden Fall; Sie brauchen gar nicht erst zu fragen. Es wird ihm vielleicht sehr angenehm sein, weil er vielleicht mit der Absicht auf sich geschossen hat, daß ich dann seine Beichte lesen sollte. Bitte, lachen Sie nicht über meine Worte, Ljow Nikolajewitsch; es ist wohl möglich, daß es sich so verhält.« »Ich lache nicht; denn ich bin selbst davon überzeugt, daß dies teilweise sehr wohl möglich ist.« »Sie sind davon überzeugt? Sie glauben das wirklich auch?« fragte Aglaja höchst erstaunt. Sie stellte ihre Fragen schnell und redete hastig, geriet aber manchmal in Verwirrung und brachte die Sätze oft nicht zu Ende. Alle Augenblicke kündigte sie ihm eilig etwas Bevorstehendes an; überhaupt befand sie sich in außerordentlicher Unruhe, und obwohl sie eine sehr tapfere, herausfordernde Miene annahm, war sie vielleicht doch etwas feige. Sie trug ein ganz einfaches Alltagskleid, das ihr sehr gut stand. Sie zuckte oft zusammen, errötete und saß nur auf dem Rand der Bank. Die Zustimmung des Fürsten zu ihrer Ansicht, daß Ippolit sich erschossen habe, damit sie seine Beichte läse, versetzte sie in großes Erstaunen. »Gewiß wünschte er«, erklärte der Fürst, »daß außer Ihnen auch wir alle ihn loben möchten ...« »Wieso loben?« »Das heißt, es ist ... Wie soll ich Ihnen das deutlich machen? Es ist sehr schwer zu sagen. Aber er wünschte gewiß, alle möchten ihn umringen und zu ihm sagen, daß sie ihn sehr liebten und achteten, und alle möchten ihn dringend bitten, am Leben zu bleiben. Gut möglich, daß er dabei Sie mehr als alle andern im Auge hatte, weil er sich Ihrer in einem solchen Augenblick erinnerte ... wiewohl er vielleicht selbst nicht wußte, daß er Sie im Auge hatte.« »Das ist mir ganz unverständlich: er hatte jemand im Auge und wußte nicht, daß er ihn im Auge hatte. Übrigens habe ich für seine Handlungsweise wohl Verständnis: wissen Sie, daß ich selbst gegen dreißigmal, von der Zeit an, als ich noch ein dreizehnjähriges Mädchen war, daran dachte, mich zu vergiften, und das alles in einem Brief an meine Eltern niederschrieb und mir sogar überlegte, wie ich im Sarg liegen würde, und wie alle um mich herumstehen und weinen und sich anklagen würden, weil sie so hart gegen mich gewesen seien ... Warum lächeln Sie wieder?« fügte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen schnell hinzu. »Woran denken Sie denn immer im stillen, wenn Sie so ganz für sich allein sich Ihren Träumereien überlassen? Vielleicht stellen Sie sich vor, Sie seien Feldmarschall und schlügen Napoleon.« »Wahrhaftig, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort darauf, daran denke ich, besonders beim Einschlafen«, antwortete der Fürst lachend. »Nur schlage ich nicht Napoleon, sondern immer die Österreicher.«
Der „Reaktionär“ Dostojewski nützt diese Parkbankszene um en passant seine Sympathiebekundung für Frankreich und die französische Revolution an der Zensur vorbei zu schmuggeln.
„»Ich habe gar keine Lust, mit Ihnen zu scherzen, Ljow Nikolajewitsch. Mit Ippolit will ich selbst sprechen und bitte Sie, ihm das mitzuteilen. Aber was Sie betrifft, so mißfällt mir Ihre Handlungsweise sehr; denn es ist sehr roh, eine Menschenseele in der Weise zu untersuchen und zu kritisieren, wie Sie es mit Ippolits Seele machen. Es fehlt Ihnen an Zärtlichkeit; die Wahrheit ist Ihnen alles, und darüber werden Sie ungerecht.«“
Normalerweise gilt Wahrheitsliebe ja als Tugend. Aber Aglaja schließt sich hier mehr der Sicht Nestroys an, der in seinem „Lumpazivagabundus“ das Problem verhandelt, dass sich jede Tugend in ein Laster verwandeln lässt, wenn man sie übertreibt.
Allerdings fühlt sich Myschkin, wenn er sich so verhält und dafür gelobt wird zu Unrecht gelobt und wenn er sich so verhält und dafür kritisiert wird auch zu Unrecht kritisiert, denn dieses Verhalten ist das ihm gemäße.
Es ist nicht das Ergebnis einer Entscheidung sondern seine Natur.
Deswegen versteht er auch nicht, dass sie ihn kritisiert.
„Der Fürst dachte nach. »Mir scheint, daß Sie gegen mich ungerecht sind«, sagte er dann. »Ich finde nichts Schlechtes daran, daß er so gedacht hat; denn es neigen ja alle Menschen dazu, so zu denken; zudem hat er vielleicht überhaupt nicht so gedacht, sondern nur einen Wunsch gehabt … er wünschte zum letztenmal mit Menschen zusammen zu sein und ihre Achtung und Liebe zu verdienen; das sind doch sehr gute Gefühle; nur daß die Sache einen ganz andern Ausgang nahm; das kam von seiner Krankheit und noch aus einem andern Grund her! Manche Menschen haben eben immer in allem Glück, während andern alles mißlingt ...« »Das haben Sie gewiß mit Bezug auf sich selbst hinzugefügt?« bemerkte Aglaja. »Allerdings«, antwortete der Fürst, ohne die in der Frage liegende Schadenfreude zu beachten.“
Er beachtet die Schadenfreude nicht. Bemerkt es sie überhaupt ?
Mir jedenfalls erschliesst sich nicht welchen Grund zur Schadenfreude es hier überhaupt geben soll.
„»Aber an Ihrer Stelle wäre ich hier doch nicht eingeschlafen. Aber wohin Sie nur kommen, da schlafen Sie auch gleich ein; das ist gar nicht hübsch von Ihnen.«
Frage: Ist es „hübsch“ von Aglaja Myschkin zur Schlafmütze zu erklären?
Vermutlich will sie ja nur rügen, dass er so gar nicht bemerkt, dass sie ihn mag.
Wenn sie allerdings glaubt, dass dieser Wink mit dem Zaunpfahl irgend was bewirkt, dann täuscht sie sich.
Es ist schwer das einem „Nicht-Idioten“ zu erklären, aber er versteht sie nicht.
Mir hat mal eine Frau ein Buch mit dem Titel „Liebe in Bastschuhen“ geschenkt und dabei gesagt, dass sie die mit den Bastschuhen sei. Sie hat mich sogar ausdrücklich gefragt, ob ich sie verstanden hätte.
Ich habe „ja“ gesagt, obwohl ich gar nichts verstanden hatte.
Vielleicht versteht Myschkin Aglaja ja in ein paar Jahren. Nur wird es dann niemand mehr was nützen.
Es nützt nichts jemand mit dem Zaunpfahl zu winken, wenn der Betreffende auf diesem Auge blind ist.
„»Ich habe ja die ganze Nacht nicht geschlafen, und dann bin ich immerzu umhergewandert; ich war auf dem Musikplatz.« »Auf welchem Musikplatz?« »Da, wo gestern konzertiert wurde; und dann bin ich hierhergekommen, habe mich hingesetzt, vielerlei überlegt und bin eingeschlafen.« »Ah, so ist das! Das ändert die Sache zu Ihren Gunsten ... Aber warum sind Sie nach dem Musikplatz gegangen?« »Das weiß ich nicht; ich hatte dabei keine besondere Absicht ...«
»Gut, gut, davon ein andermal; Sie unterbrechen mich immer, und was geht es mich an, daß Sie nach dem Musikplatz gegangen sind? Von was für einer Frau haben Sie denn geträumt?« »Von ... von ... Sie haben sie gesehen ...« »Ich verstehe ... verstehe sehr wohl. Sie haben sie also sehr ... Wie haben Sie sie denn im Traum gesehen, in welcher Gestalt? Übrigens will ich es gar nicht wissen«, fügte sie, plötzlich abbrechend, in ärgerlichem Ton hinzu. »Unterbrechen Sie mich nicht ...« Sie wartete ein wenig, wie wenn sie sich ein Herz fassen wollte oder ihren Ärger zu überwinden suchte. »Der Grund, weswegen ich Sie herbestellt habe, ist der: ich möchte Ihnen den Vorschlag machen, mein Freund zu sein. Warum sehen Sie mich auf einmal so starr an?« fügte sie beinahe zornig hinzu. Der Fürst blickte sie in diesem Augenblick tatsächlich sehr aufmerksam an, da er bemerkte, daß sie wieder anfing, furchtbar rot zu werden. Sie schien in solchen Fällen, je mehr sie errötete, sich um so mehr über sich zu ärgern, was in ihren blitzenden Augen deutlich zum Ausdruck kam; gewöhnlich übertrug sie dann unmittelbar darauf ihren Zorn auf denjenigen, mit dem sie sprach, mochte diesen nun eine Schuld treffen oder nicht, und fing an, sich mit ihm zu streiten. Da sie ihr scheues Wesen kannte und wußte, wie leicht sie sich schämte, so beteiligte sie sich gewöhnlich an dem Gespräch nur wenig und war schweigsamer als ihre Schwestern, mitunter sogar im Übermaß. Wenn sie, besonders in heiklen Fällen, schlechterdings nicht umhin konnte zu reden, so tat sie das zunächst in sehr hochmütiger und gewissermaßen herausfordernder Weise. Sie fühlte es immer vorher, wenn sie anfangen wollte zu erröten. »Sie wollen meinen Vorschlag vielleicht nicht annehmen?« fragte sie und blickte dabei den Fürsten hochmütig an. »O doch, ich will ihn annehmen; nur ist das gar nicht erforderlich ... ich meine, ich habe nie geglaubt, daß man einen solchen Vorschlag zu machen brauchte«, erwiderte der Fürst verlegen. »Aber was haben Sie denn eigentlich gedacht, weswegen ich Sie hierherbestellt hätte? Was machen Sie sich denn für Vorstellungen? Sie halten mich vielleicht für eine kleine Närrin, wie sie das bei mir zu Hause alle tun?« »Ich habe nicht gewußt, daß man Sie für eine Närrin hält; ich ... ich halte Sie nicht dafür.« »Sie halten mich nicht dafür? Das ist sehr verständig von Ihnen. Und namentlich ist es sehr verständig von Ihnen, daß Sie es sagen.« »Meiner Ansicht nach sind Sie sogar vielleicht mitunter sehr verständig«, fuhr der Fürst fort. »Sie haben vorhin einen sehr verständigen Gedanken ausgesprochen. Sie sagten in bezug auf meine zweifelnde Beurteilung Ippolits: ›Die Wahrheit ist Ihnen alles, und darüber werden Sie ungerecht.‹ Das hat sich mir eingeprägt, und darüber denke ich nach.« Aglaja wurde auf einmal dunkelrot vor Freude. Alle Gefühlsveränderungen vollzogen sich bei ihr mit großer Offenheit und außerordentlicher Schnelligkeit. Der Fürst freute sich ebenfalls und lachte sogar vor Vergnügen, indem er sie anblickte. »So hören Sie denn«, begann sie wieder, »ich habe lange auf Sie gewartet, um Ihnen das alles zu erzählen, gleich von der Zeit an, wo Sie mir von dort den Brief geschrieben hatten, und sogar schon früher ... Die Hälfte haben Sie von mir schon gestern gehört: ich halte Sie für den ehrlichsten und wahrheitsliebendsten Menschen; Sie sind ehrlicher und wahrheitsliebender als alle anderen, und wenn man von Ihnen sagt, daß Ihr Verstand ... das heißt, daß Ihr Verstand mitunter nicht ganz gesund ist, so ist das ungerecht; das ist meine entschiedene Überzeugung, die ich auch verfochten habe; denn wenn Ihr Verstand auch wirklich nicht ganz gesund sein sollte (Sie werden mir das ja gewiß nicht übelnehmen; ich rede von einem höheren Gesichtspunkt aus), so ist dafür Ihr Hauptverstand besser als bei ihnen allen, sogar so gut, wie sie es sich gar nicht träumen lassen. Denn es gibt zwei Arten von Verstand, einen Hauptverstand und einen Nebenverstand. Nicht wahr? So ist es doch?« »Vielleicht ist es so«, sagte der Fürst kaum vernehmbar; das Herz zitterte und klopfte ihm gewaltig. »Ich wußte, daß Sie es verstehen würden«, fuhr sie mit wichtiger Miene fort: »Fürst Schtsch. und Jewgeni Pawlowitsch verstehen von diesen beiden Arten von Verstand nichts und Alexandra ebensowenig; aber denken Sie sich: Mama verstand es!«
[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 20476-20487 (vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 5, S. 72-78) http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]
Man hat manchmal den Eindruck in diesem Buch, dass die Intelligenz ausschliesslich bei den Frauen zu Hause ist, während die Männer sich überwiegend dadurch aus zeichnen, dass sie zwar einen funktionierenden „Nebenverstand“ und dort wo der „Hauptverstand“ sitzen sollte, aber ein grosses Loch haben.
Deswegen verwundert es auch wenig, dass Fürst Schtsch.und Jewgeni Pawlowitsch nichts, dafür aber die Generalin alles versteht.
Aglajas Konzept vom „Haupt- und Nebenverstand“ ist jedenfalls in Bezug auf Myschkin um einiges intelligenter als Tellenbachs Geraune vom erwachsenen Kind.
Es ist in der Tat das zentrale Problem Myschkins, und ich denke aller Myschkins, dass er alles versteht und nichts checkt.
D.h. er besitzt einen scharfen analytischen Verstand und geringe bis gar keine Fähigkeiten in einer Situation, wie z.B. der, in der er sich gerade befindet, den Überblick zu behalten.
Deswegen besteht sowieso die einzige Chance beider auf einen glücklichen Ausgang in der Hoffnung auf den gut funktionierenden „Haupt- und Nebenverstand“ Aglajas. Sobald er sie verlässt, sind beide verloren.
Sehen wir weiter:
»Sie haben sehr viel Ähnlichkeit mit Lisaweta Prokofjewna.« »Wieso? Wirklich?« fragte Aglaja erstaunt. »Wahrhaft, das ist meine Ansicht.« »Ich danke Ihnen«, sagte sie nach kurzem Nachdenken. »Ich freue mich sehr, daß ich mit Mama Ähnlichkeit habe. Sie schätzen sie also wohl sehr hoch?« fügte sie hinzu, ohne die Naivität der Frage gewahr zu werden. »Sehr hoch, sehr hoch, und ich freue mich, daß Sie das so ohne weiteres herausgefühlt haben.« »Ich freue mich ebenfalls; denn ich habe bemerkt, daß man sich manchmal ... über sie lustig macht. Aber nun hören Sie die Hauptsache: ich habe es lange überlegt und schließlich Sie ausgewählt. Ich will nicht, daß man sich zu Hause über mich lustig macht; ich will nicht, daß man mich für eine kleine Närrin hält; ich will nicht, daß man mich aufzieht ... Ich habe das alles durchschaut und habe Jewgeni Pawlowitsch mit aller Entschiedenheit abgewiesen, weil ich nicht will, daß man mich ununterbrochen unter die Haube zu bringen sucht! Ich will ... ich will ... nun, ich will von zu Hause weglaufen, und ich habe Sie dazu ausgewählt, mir zu helfen.« »Von zu Hause weglaufen!?« rief der Fürst. »Ja, ja, ja, von zu Hause weglaufen!« rief sie plötzlich, in heftigem Zorn aufflammend. »Ich will nicht, ich will nicht, daß sie mich dort fortwährend zwingen zu erröten. Ich will nicht vor ihnen erröten, auch nicht vor dem Fürsten Schtsch., auch nicht vor Jewgeni Pawlowitsch und vor keinem Menschen, und darum habe ich Sie ausgewählt. Mit Ihnen will ich alles, alles besprechen, sobald ich nur Lust habe, sogar das Wichtigste; und Sie dürfen mir Ihrerseits auch nichts verbergen. Ich will wenigstens mit einem Menschen über alles so reden können wie mit mir selbst.“
Eine wunderschöne Liebeserklärung, die sie da ihrem Fürsten macht: „Ich will wenigstens mit einem Menschen über alles so reden können wie mit mir selbst.“
Oder anders gesagt: Du sollst ein Teil von mir sein und ich will ein Teil von Dir sein.
Sie hat sich damit als Frau und dazu noch zu ihrer Zeit sehr weit vorgewagt. Fast ist das ja schon ein Heiratsantrag.
Dewegen folgt unmittelbar darauf auch der Rückzug:
„Die Meinigen haben auf einmal angefangen so zu reden, als ob ich auf Sie wartete und Sie liebte. Das ging schon so vor Ihrer Ankunft, und ich hatte ihnen Ihren Brief doch gar nicht gezeigt; aber jetzt reden sie nun schon alle davon. Ich will kühn sein und mich vor nichts fürchten. Ich will nicht auf ihre Bälle gehen; ich will Nutzen bringen. Ich habe schon längst davongehen wollen. Ich habe zwanzig Jahre lang bei ihnen wie in einem Käfig gesessen, und immer wollen sie mich unter die Haube bringen. Schon als ich vierzehn Jahre alt war, dachte ich daran davonzulaufen, obwohl ich damals noch dumm war. Jetzt aber habe ich mir schon alles gut überlegt und habe auf Sie gewartet, um Sie gründlich über das Ausland zu befragen. Ich habe noch nie einen gotischen Dom gesehen; ich will in Rom sein; ich will alle wissenschaftlichen Sammlungen ansehen; ich will in Paris studieren; ich habe mich das ganze letzte Jahr über vorbereitet und studiert und sehr viele Bücher gelesen; ich habe auch alle möglichen verbotenen Bücher gelesen. Alexandra und Adelaida lesen allerlei Bücher; sie dürfen das. Aber mir werden nicht alle in die Hände gegeben; ich stehe unter Aufsicht. Ich will mich mit meinen Schwestern nicht herumstreiten; aber meiner Mutter und meinem Vater habe ich schon längst erklärt, daß ich meine soziale Stellung vollständig verändern will. Ich beabsichtige erzieherisch tätig zu sein und habe dabei auf Sie gerechnet, weil Sie gesagt haben, Sie hätten Kinder gern. Können wir zusammen eine erzieherische Tätigkeit ausüben, wenn nicht sogleich, so doch in zukünftiger Zeit? Wir werden vereint Nutzen stiften; ich will kein Generalstöchterchen sein ... Sagen Sie, Sie sind wohl ein sehr gelehrter Mann?« »Oh, durchaus nicht!« »Das ist schade; ich hatte es geglaubt ...; wie bin ich nur dazu gekommen, es zu glauben? Aber Sie werden dabei doch mein Leiter sein; denn ich habe Sie ausgewählt.«
[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 20487-20490 (vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 5, S. 78-81) http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]
Dem Teilrückzug mit: „die andern behaupten, ich wäre in sie verliebt“, folgt sofort eine Fortsetzung der Liebeserklärung.
Und was passiert mit Myschkin?
Er erschrickt.
„Sie werden dabei doch mein Leiter sein; denn ich habe Sie ausgewählt.“
Während es zweifelhaft ist, dass ihm in diesem Moment überhaupt dämmert, welche großartige Liebeserklärung ihm gerade gemacht wurde und das von der Frau, die doch sein „Lumen coleum“, sein Himmelslicht ist, begreift er sofort die große Erwartung, die sie an ihn hat und ...flieht.
„»Das ist eine Torheit, Aglaja Iwanowna.« »Ich will von zu Hause weglaufen, ich will es!« rief sie, und ihre Augen funkelten wieder auf. »Wenn Sie mir Ihre Beihilfe versagen, so heirate ich Gawrila Ardalionowitsch. Ich will nicht, daß man mich zu Hause für ein abscheuliches Frauenzimmer hält und mir für Gott weiß was alles die Schuld gibt.« »Sind Sie bei Sinnen!?« rief der Fürst und sprang beinah von der Bank in die Höhe. »Wer beschuldigt sie? Wer tut so etwas?« »Alle bei uns zu Hause, meine Mutter, meine Schwestern, mein Vater, Fürst Schtsch., sogar Ihr abscheulicher Kolja! Und wenn sie es nicht geradeheraus sagen, so denken Sie es wenigstens. Ich habe es ihnen allen ins Gesicht gesagt, sowohl meiner Mutter als auch meinem Vater. Mama war infolgedessen einen ganzen Tag krank, und am andern Tag sagten mir Alexandra und Papa, ich wüßte selbst nicht, was ich zusammenphantasierte, und was für Ausdrücke ich gebrauchte. Aber ich habe ihnen sehr entschieden geantwortet, ich verstände schon alles, alle Ausdrücke, und ich wäre kein kleines Kind mehr, und ich hätte schon vor zwei Jahren absichtlich zwei Romane von Paul de Kock gelesen, um alles zu erfahren. Als Mama das hörte, fiel sie beinahe in Ohnmacht.« Dem Fürsten ging plötzlich ein seltsamer Gedanke durch den Kopf. Er blickte Aglaja prüfend an und lächelte. Er konnte gar nicht glauben, daß dasselbe hochmütige Mädchen vor ihm saß, das ihm früher einmal mit so stolzer, hochfahrender Miene Gawrila Ardalionowitschs Brief zum Lesen gegeben hatte. Er vermochte nicht zu begreifen, wie in diesem hochmütigen, abweisenden schönen Mädchen ein solches Kind stecken konnte, ein Kind, das vielleicht in Wirklichkeit auch jetzt noch nicht »alle Ausdrücke« verstand. »Haben Sie immer nur im Elternhaus gelebt, Aglaja Iwanowna?« fragte er. »Ich meine, sind Sie nie in einer Schule gewesen, haben Sie nie ein Unterrichtsinstitut besucht?« »Nein, niemals; ich habe immer wie in einer verkorkten Flasche zu Hause gesessen und werde direkt aus der Flasche heiraten; warum lächeln Sie wieder? Ich mache die Wahrnehmung, daß anscheinend auch Sie sich über mich lustig machen und sich zur Gegenpartei halten«, fügte sie, finster die Stirn runzelnd, hinzu. »Machen Sie mich nicht ärgerlich; ich weiß sowieso schon nicht, was in meinem Kopf vorgeht ... Ich bin überzeugt, Sie sind in dem festen Glauben hierhergekommen, daß ich in Sie verliebt wäre und Sie zu einem Rendezvous bestellt hätte«, sagte sie in gereiztem Ton.»Ich habe das gestern wirklich befürchtet«, versetzte der Fürst in unbedachtsamer Offenherzigkeit (er war sehr verwirrt). »Aber heute bin ich überzeugt, daß Sie ...«“
Man ist entweder ein riesiger Esel oder man hat ein massives Problem, wenn man eine schöne Frau, die einem ziemlich direkt auffordert: „Entkorke mich !“ so zurück weist. Vielleicht spielt sogar beides eine Rolle.
Wir werden sehen.
Beginnen wir mit Paul de Kock (in einer älteren Übersetzung ist nur von „verbotener Literatur“ die Rede). Wer ist das? Und welche Art Bücher schreibt er? Er ist ein Autor schlüpfriger Romane mit Kapitelüberschriften wie „Auf dem Heuboden“. Interessanter Weise verführen in de Kocks Romanen sehr oft erfahrene Frauen junge, unerfahrene Männer.
Auf unserer Parkbank sitzt aber ein unerfahrener Mann einer eben so unerfahrenen Frau gegenüber und beide bräuchten dringend gute Lehrmeister.
Wenn man in Paul de Kock mal reinliest, versteht man Myschkins Grinsen, denn diese Romane sind schablonenhaft und dürftig. Sie verdanken allerdings ihren großen Erfolg dem gleichen Bedürfnis nach „Aufklärung“, dem auch „Dr. Sommer“ und die „Bravo“ hundert Jahre später ihren Erfolg verdanken. Wobei auf keinem anderen Gebiet, der Satz „Grau, guter Freud, ist alle Theorie“ so uneingeschränkt gilt wie hier.
Deswegen hätte unser Theoretiker Myschkin gut daran getan sein Grinsen über den fragwürdigen „Theoretiker“ de Kock für sich zu behalten.
So tritt er nun eine Lawine los, die beide und ihn vor allem, begraben wird.
Denn nun fühlt sie sich nicht ernst genommen.
Aber bevor wir dazu kommen, bemerken wir noch eine weitere Paradoxie:
Nachdem sie mit ihm Paul de Kock durchprobieren wollte, versichert sie ihm nun, dass sie keinesfalls in ihn verliebt sei. Und er meint auch noch er hätte das tatsächlich befürchtet. Der Roman zieht sich zwischen Empfang des Zettels und Treffen auf der Parkbank durchaus etwas in Länge. Aber die ganze Zeit befindet sich der Fürst in einer Art Vorfreude, gemischt mit Unsicherheit. Das ist nicht die Stimmung, wenn man etwas befürchtet, eher wenn man etwas erwartet.
Und nun ist es da, nun ist sie da und nun hat er Angst und ist sehr verwirrt.
Wir bemerken hier wieder, dass gewissermaßen 2 Frauen agieren. Die eine, die mit ihrem Wunsch er möge mit ihr nach Paris gehen und dort mit ihr neue Erfahrungen, auch und gerade sexuelle Erfahrungen, machen schon fast auf die männliche Seite gewechselt war und die nun mit einer äußerst unglaubwürdigen Volte wieder ins Passive wechselt: Sie wirft ihm vor, er würde glauben, sie sei verliebt.
Statt über die Lächerlichkeit dieses Vorwurfs charmant hinweg zu gehen und ihr die Angst vor ihren Gefühlen zu nehmen, sagt er „Ich habe das gestern wirklich befürchtet“.
Er kann nicht aus seiner Passivität. Er kann Aglaja ihre Angst nicht nehmen, weil seine Angst noch größer ist.
Aber warum ist seine Angst so groß ?
Zunächst deswegen, weil er hier auf einer Parkbank sitzt und situationsbezogen richtig und sofort reagieren muss, statt alles in Ruhe reflektieren zu können. Er befindet sich in der Situation desjenigen, der über einen zugefrorenen See läuft und weder sicher sein kann, dass er im nächsten Schritt nicht auf eine dünne oder aber eine glatte Stelle trifft. Er hat keinen wirklichen Überblick über seine Lage und reagiert deswegen bestenfalls zufällig richtig, weil er sich eher vorwärtstastet, statt zielgerichtet laufen zu können.
Das ist sein Hauptproblem.
Das ist sein mangelnder „Nebenverstand“, seine fehlende Fähigkeit Bälle, selbst wenn sie ihm ziemlich direkt zugeworfen werden, auch fangen zu können.
Dazu kommt aber noch ein zweites:
Aglaja möchte ihn ja zum Lehrmeister. Und zwar nicht in irgendeinem Fach, sondern in dem ganz speziellen Fach der Liebe. Ihre hohe Meinung über seine sexuellen Erfahrungen gründet gerade darauf, dass er mit „jener Frau“ zusammen war, die für „ganz Petersburg“ ein Symbol der sexuellen Verlockung ist.
Wir wissen nichts über diese Wochen, nur dass sie wohl für beide furchtbar waren, das wären sie aber kaum gewesen, wenn er damals das gelernt hätte, was er nun Aglaja lehren soll.
Nun aber wird sie von ihrer Enttäuschung überwältigt:
„»Wie!« rief Aglaja, und ihre Unterlippe fing auf einmal an zu zittern. »Sie haben befürchtet, daß ich ... Sie haben zu denken gewagt, daß ich ... O Gott! Sie haben vielleicht geargwöhnt, ich hätte Sie mit der Absicht hierher bestellt, Sie in meine Netze zu locken, damit man uns dann hier zusammen überraschte und Sie nötigte, mich zu heiraten ...« »Aglaja Iwanowna! Schämen Sie sich denn nicht? Wie konnte nur ein so unreiner Gedanke in Ihrem reinen, unschuldigen Herzen entstehen? Ich möchte darauf wetten, daß Sie selbst kein Wort von dem, was Sie eben sagten, für wahr halten ... Sie wissen selbst nicht, was Sie reden!« Aglaja saß mit beharrlich gesenktem Kopf da, wie wenn sie selbst über das, was sie gesagt hatte, einen Schreck bekommen hätte. »Ich schäme mich ganz und gar nicht«, murmelte sie. »Woher wissen Sie, daß ich ein unschuldiges Herz habe? Wie konnten Sie wagen, mir damals den Liebesbrief zu schicken?« »Einen Liebesbrief? Mein Brief ein Liebesbrief! Das war ein höchst respektvoller Brief; was in diesem Brief stand, das war meinem Herzen in der schwersten Stunde meines Lebens entquollen! Ich erinnerte mich damals Ihrer wie einer Lichtgestalt ... ich ...«“
Wieso ist eigentlich ein Liebesbrief kein respektvoller Brief ? Kann ein Mann einer Frau mehr Respekt entgegen bringen, als ihr zu sagen, dass er sie begehrt ?
Es ist äusserst merkwürdig, wie sehr er sich dagegen sträubt von Liebe zu reden und jetzt weigert er sich sogar seinen Liebesbrief als Liebesbrief zu bezeichnen.
Und dann verfällt er auch noch darauf in ihr sein „Lumen coelum!", sein Himmelslicht zu sehen. Als „Lichtgestalt“ kann er sie natürlich nicht lieben, nur anbeten !
Was ist das für eine Gesellschaft in der zwei sich ihrer besten Gefühle so sehr schämen ? Wäre ein gewisses Maß an Schamlosigkeit nicht die Voraussetzung zu einem glücklicheren Leben ?
„»Nun gut, gut«, unterbrach sie ihn, aber in ganz verändertem Ton, aus welchem man tiefe Reue und Angst heraushörte; sie bog sich sogar zu ihm hin, wobei sie es aber immer noch vermied, ihn gerade anzusehen, und war nahe daran, ihn an der Schulter zu berühren, um ihre Bitte, daß er ihr nicht böse sein möge, noch eindringlicher zu machen. »Gut«, fügte sie, sich furchtbar schämend, hinzu, »ich fühle, daß ich mich eines schrecklich dummen Ausdrucks bedient habe. Ich habe das gesagt ... um Sie zu prüfen. Nehmen Sie an, ich hätte es nicht gesagt! Und wenn ich Sie gekränkt habe, so verzeihen Sie mir! Bitte, sehen Sie mich nicht gerade an; wenden Sie sich ab! Sie sagten, das sei ein sehr unreiner Gedanke: ich habe es absichtlich gesagt, um Sie zu verletzen. Manchmal bekomme ich selbst einen Schreck über das, was ich sagen möchte; aber auf einmal sage ich es doch. Sie sagten soeben, Sie hätten diesen Brief in der schwersten Stunde Ihres Lebens geschrieben ... Ich weiß, was das für eine Stunde war«, sagte sie leise und blickte wieder zur Erde. »Oh, wenn Sie alles wissen könnten!« »Ich weiß alles!« rief sie in erneuter Erregung. »Sie lebten damals einen ganzen Monat lang in ein und derselben Wohnung mit dieser abscheulichen Frau, mit der Sie davongegangen waren ...« Sie errötete jetzt nicht mehr, während sie das sagte, sondern wurde blaß; auf einmal stand sie wie geistesabwesend von der Bank auf, setzte sich aber, zur Besinnung kommend, sogleich wieder hin; ihre Lippe zuckte noch lange weiter. Das Schweigen dauerte etwa eine Minute lang. Der Fürst war über diese plötzliche Heftigkeit sehr überrascht und wußte nicht, worauf er sie zurückführen sollte. »Ich liebe Sie durchaus nicht«, sagte sie plötzlich kurz und scharf. Der Fürst antwortete nicht; sie schwiegen wieder ungefähr eine Minute lang. »Ich liebe Gawrila Ardalionowitsch ...«, sagte sie hastig, aber kaum hörbar und ließ den Kopf noch tiefer sinken. »Das ist nicht wahr«, erwiderte der Fürst, ebenfalls beinah flüsternd. »Dann lüge ich also? Es ist doch wahr, ich habe ihm mein Wort gegeben, vorgestern, auf dieser selben Bank.« Der Fürst erschrak und dachte einen Augenblick nach. »Das ist nicht wahr«, sagte er noch einmal in entschiedenem Ton. »Sie haben sich das alles nur ausgedacht.«
»Sehr höflich von Ihnen! Wissen Sie, er hat sich gebessert; er liebt mich mehr als sein Leben. Er hat vor meinen Augen seine Hand verbrannt, nur um mir zu beweisen, daß er mich mehr liebt als sein Leben.« »Er hat seine Hand verbrannt?« »Jawohl, seine Hand. Sie mögen es glauben oder nicht, das ist mir ganz gleich.« Der Fürst schwieg wieder. Aglajas Worte klangen nicht scherzhaft; sie war ärgerlich. »Wie? Hat er denn eine Kerze hierher mitgebracht, wenn das hier vorgegangen ist? Anders kann ich mir die Sache nicht vorstellen ...« »Jawohl ... eine Kerze. Was ist daran unwahrscheinlich?« »Eine bloße ganze Kerze oder eine auf einem Leuchter?« »Nun ja ... nein ... eine halbe Kerze ... ein Stümpfchen ... eine ganze Kerze ..., das ist ja ganz egal; lassen Sie doch das Gerede ...! Meinetwegen kann er auch Zündhölzer mitgebracht haben! Er zündete die Kerze an und hielt eine ganze halbe Stunde lang den Finger in die Flamme; ist das etwa nicht möglich?« »Ich habe ihn gestern gesehen; seine Finger sind ganz heil.« Aglaja brach nun auf einmal ganz wie ein Kind in ein prustendes Gelächter aus.
»Wissen Sie, warum ich eben gelogen habe?« wandte sie sich dann mit der kindlichen Zutraulichkeit an den Fürsten; ihre Lippen zitterten immer noch vor Lachen. »Deswegen: wenn man lügt und dabei in geschickter Weise etwas Ungewöhnliches, Außerordentliches einflicht, wissen Sie, etwas, was sehr selten ist oder überhaupt nicht vorkommt, dann erscheint die Lüge weit glaubhafter. Das habe ich früher beobachtet. Es ist mir nur deshalb mißglückt, weil ich es nicht richtig verstanden habe ...« Auf einmal machte sie wieder ein finsteres Gesicht, wie wenn ihr etwas einfiele. »Wenn ich damals«, sagte sie, indem sie sich zu dem Fürsten hinwandte und ihn mit ernster, ja trauriger Miene ansah, »wenn ich Ihnen damals das Gedicht vom ›armen Ritter‹ deklamiert habe, so wollte ich Sie damit zwar für einiges loben, zugleich aber wollte ich auch Ihr Benehmen in gewisser Hinsicht als Torheit hinstellen und Ihnen beweisen, daß ich alles wußte ...« »Sie sind sehr ungerecht gegen mich und gegen jene unglückliche Frau, von der Sie soeben einen so schrecklichen Ausdruck gebrauchten, Aglaja.« »Ich habe den Ausdruck deswegen gebraucht, weil ich alles weiß! Ich weiß, daß Sie vor einem halben Jahr vor aller Ohren ihr Ihre Hand antrugen. Unterbrechen Sie mich nicht; Sie sehen, ich führe nur Tatsachen an, ohne eine Kritik daran zu knüpfen. Darauf ist sie mit Rogoschin davongelaufen; dann haben Sie mit ihr in irgendeinem Dorf oder in irgendeiner Stadt zusammen gelebt, und sie ist von Ihnen weggegangen und hat sich zu irgendeinem andern begeben.« (Aglaja errötete stark.) »Dann ist sie wieder zu Rogoschin zurückgekehrt, der sie wie ... wie ein Wahnsinniger liebte. Darauf sind Sie, der Sie ebenfalls ein sehr verständiger Mensch sind, ihr jetzt schleunigst hierher nachgereist, sowie Sie erfahren hatten, daß sie nach Petersburg zurückgekehrt war. Gestern abend haben Sie sich zu ihrem Verteidiger aufgeworfen, und jetzt eben haben Sie von ihr geträumt ... Sie sehen, daß ich alles weiß; Sie sind ja doch um ihretwillen hierher gereist, nicht wahr, um ihretwillen?« »Ja, um ihretwillen«, antwortete der Fürst leise; er ließ traurig und nachdenklich den Kopf sinken und ahnte nicht, mit was für einem funkelnden Blick Aglaja ihn betrachtete. »Um ihretwillen, nur um zu erfahren ... Ich glaube nicht an ihr Glück mit Rogoschin, obgleich ... kurz, ich weiß nicht, was ich hier für sie tun, wie ich ihr helfen könnte; aber ich bin trotzdem hergekommen.« Er zuckte zusammen und sah Aglaja an; diese hörte ihm voll Haß zu. »Wenn Sie hergereist sind, ohne zu wissen, wozu, so lieben Sie sie sehr«, sagte sie schließlich.“[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 20497 (vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 5, S. 86) http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]
Ja, er liebt dies Natasja und er liebt Aglaja die „Lichtgestalt“. Er weiss zwar nicht was Liebe ist, so wie er mit allen scheinbar klaren Begriffen wie „Gut“, „Böse“ oder „Häßlich“ und „Schön“ auf Kriegsfuß steht, aber er empfindet für beide Frauen starke Gefühle. Und er ist unfähig, was er empfindet auch in Handeln um zu setzen, auch mit seinem Körper für das ein zu stehen, was er fühlt. Er kann das nicht auf dieser Parkbank und er konnte dies vermutlich auch während der Woche als er mit Natasja zusammen war nicht.
Aglaja, die ihn ja nicht heiraten, sondern mit ihm durchbrennen wollte, die das enge Leben eines Generalstöchterchens im goldenen Käfig hinter sich lassen wollte, macht nun den Fehler von ihm Eindeutigkeit zu erwarten, wo doch das Uneindeutige seine Welt ist.
Sie hat sich weit heraus gewagt aus ihrer Welt. Sie ist an Grenzen gegangen und über Grenzen, wie sie ihr in dieser Zeit und in dieser Gesellschaft gesetzt waren. Aber weil er in bestimmter Hinsicht ein Idiot ist, hätte sie nur gewinnen können, wenn sie getan hätte, was Frauen nicht tun dürfen in dieser Männergesellschaft: Ihn einfach in die Arme nehmen und sagen: „Ich will Dich, Du Idiot !“.