Rogoschin und Myschkin

Ein paar fragwürdige Behauptungen

In Kindlers Literaturlexikon schreibt Matthias Freise über Dostojevskij und den Idioten u.a. Folgendes:
„Die angedeuteten Wahlverwandschaften in ihrem Viereck können sich nicht realisieren, weil sich männlicher Eros (Rogoschin) und männliche Agape (Myschkin) mit ihren weiblichen Äquivalenten überkreuzen. Die einzig mögliche Beziehung in dieser Konstellation deutet die homoerotische Schlussszene des Romans an.“

Es ist schon eine besondere Kunst in einem vergleichsweise kurzen Satz so viele fragwürdige Behauptungen unter zu bringen.

Was behauptet Freise im einzelnen ?

  1. 4Rogoschin verkörpert den Eros

  2. 5Myschkin verkörpert die körperlose christliche Liebe (Agape) im Gegensatz zur körperlichen Liebe.

  3. 6Die Frauen Aglaja und Natassja bilden dazu „Äquivalente“. Allerdings schweigt er sich darüber aus, welche welches „Äquivalent“ bilden soll.

  4. 7Die „Wahlverwandschaften“ können sich nicht realisieren, weil sich Agape und Eros überkreuzen (Was immer der Autor damit sagen wollte).

  5. 8Die Schlussszene ist „homoerotisch“

  6. 9Dass sich Rogoschin und Myschkin lieben und zu einander finden, wäre die „einzig mögliche“ Beziehung in diese Konstellation gewesen.

Das sind viele Vermutungen, denen wir im folgenden im einzelnen nachgehen wollen.

Rogoschin und Eros


Eros ist der Sohn der Aphrodite und des Ares. Er ist der freche Bengel mit den Flügelchen, der seine goldenen Pfeile verschiesst und damit unbändiges Verlangen nach einer anderen Person in uns weckt.
Eros ist aber auch die Liebe zur Weisheit bei Plato und der Lebenstrieb bei Freud. Was im übrigen zeigt, dass Freud's Konzept der Triebsublimierung bei Plato abgeschrieben ist.
Wie auch immer. Eine Verbindung Rogoschin – Eros läßt sich auf keine Weise herstellen.
Dazu ist sein Verlangen zu besitzergreifend und entbehrt jener spielerischen Leichtigkeit, die den Knaben Eros auszeichnet und die Erotik erst zu einer prickelnden Angelegenheit macht.
Ohne dass wir dafür einen griechischen Gott angeben können oder wollen, ist es aber offensichtlich, dass Rogoschin weniger von der Liebe als vom „Haben-wollen“ bestimmt ist.
Darauf möchte ich später näher eingehen.
Aber erst wollen wir uns Myschkin und Agape widmen.

Myschkin und Agape

Unter Agape versteht man die christliche Nächstenliebe. Auch das gemeinsame Essen, das ja den eigentlichen Anfang des Christentums bildet und im Abendmahl nur als schwacher Abglanz überlebt hat, bezeichnet man als Agape.

Generationen von Theologen haben diesem Begriff jegliche Fleischeslust ausgetrieben.

Das bedeutet aber, dass Myschkin nach Freise Frauen überhaupt nicht liebt, sondern ihnen nur in christlicher Nächstenliebe begegnet.

Schon auf der Zugfahrt nach Petersburg stellt aber Rogoschin Myschkin folgende Frage:

„»Sind Sie ein großer Freund des weiblichen Geschlechts, Fürst? Sagen Sie es mir schon vorher!«

»Ich? N-n-nein! Ich bin ja ... Sie wissen vielleicht nicht, ich kenne ja infolge meiner angeborenen Krankheit die Frauen überhaupt nicht.«

»Nun, wenn's so ist«, rief Rogoschin, »so bist du ja ein richtiger Jurodiwy, Fürst, und solche Menschen wie dich liebt Gott.«

»Und solche Menschen liebt Gott der Herr«, wiederholte der Beamte.“

[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 19525

(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 3, S. 21-22)

http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]

 

Ein Jurodiwy ist ein Narr in Christo. Eine Art Verrückter, der in seiner Verücktheit heilig ist. Das würde sich mit Freises Agape decken.

Aber stimmt es auch ?

Es ist immer wieder frappierend zu sehen, dass die Epilepsie Myschkins von seiner Umgebung, aber auch von der Masse der Leser und Kommentatoren weg geblendet wird, so als sei sie gar nicht existent.
Das fängt schon damit an, dass Dostojewskij dem Roman den Titel der „Idiot“ gegeben hat. Warum ist Myschkin ein Idiot ? Nun, ganz einfach: Jeder der diese Krankheit hat, zählt in dem Moment, in dem er stürzt, zu den Idioten. Und es ist ja nicht so, dass das nur die Betroffenen so sehen.
Aglaja versichert dem Fürsten in der Parkbank-Szene ganz treuherzig, dass alle sagen würden, er hätte es am Kopf, aber eigentlich sei doch sein Hauptverstand ganz in Ordnung.

Und nun tun Freise und Rogoschin so, als sei Myschkins Unerfahrenheit die Folge einer religiös motivierten Entscheidung und nicht die Folge seiner Krankheit.

Aber Myschkin verzichtet nicht aus christlicher Tugendhaftigkeit auf Beziehungen zu Frauen, sondern er hat als Epileptiker Probleme solche Beziehungen auf zu bauen.

Warum ?

Zunächst kommt er aus einer Heilanstalt. Das ist nicht der Ort, an dem man(n) üblicherweise Frauen kennenlernt.

Sodann wählen Frauen ihre Partner sehr stark nach Status, d.h. wer man ist, bestimmt die Attraktivität mindestens so stark wie die Frage wie man aussieht. Wer ist man aber, wenn man Fürst und Idiot in einem ist ?

Die Verunsicherung, die von ihm ausgeht ist eine doppelte: Er findet seinen Platz in den allgegenwärtigen Rangordnungen nicht, weil er gut und schlecht zugleich ist und deswegen auch keinen hat.

Und die Frauen, die im allgemeinen ein feines Gespür dafür entwickeln, wo so ein Kerl ein zu sortieren ist (Irrtum und Enttäuschung eingeschlossen), können durch ihn nur irritiert werden. Einerseits kann er an einem Tag die Jepantschinschen Damen und Natasja faszinieren und in seinen Bann ziehen, andererseits folgt daraus nichts, weil er das Terrain, das er so gewinnt nicht entschlossen ausbauen kann.
Dazu kommt seine Passivität. Er ist kein Krieger und er ist kein Jäger. Er will im Gegenteil selbst gejagt und erlegt werden.

Damit wird er aber zur Frau. Nicht im sexuellen Sinne aber im „Gender“-Sinn.

Und damit wird er z.B. für Freise zum verkappten und seiner Neigung nicht bewußten Homosexuellen. Denn nur die dürfen „weiblich“ sein.

Lieben Rogoschin und Myschkin sich ?

Freise behauptet das:Die einzig mögliche Beziehung in dieser Konstellation deutet die homoerotische Schlussszene des Romans an.“

Schauen wir uns zunächst jene Schlussszene an. Voran geht ihr die geplante Hochzeit Myschkins mit Natasja. Natasja verschwindet im Brautkleid zu Rogoschin. Myschkin sucht beide und findet schließlich Rogoschin. Der fordert ihn auf ihm unauffällig in seine Wohnung zu folgen. Dort beginnt Myschkin zu ahnen, dass etwas Schlimmes passiert ist. Er schaut in Rogoschins Bett und erkennt dort die getötete Natassja. Danach beginnt er fürchterlich zu zittern und Rogoschin hält einen Monolog:

„»Siehst du, ich habe Sorge deinetwegen, weil du immer so zitterst. Die Nacht wollen wir hier zusammen verbringen. Betten sind, außer dem da, hier nicht vorhanden; ich habe gedacht, ich wollte von den beiden Sofas die Kissen herunternehmen und hier bei dem Vorhang für uns beide, für dich und für mich, eine Lagerstatt herrichten, so daß wir nebeneinander liegen können. Denn wenn sie hereinkommen und anfangen, sich umzusehen oder zu suchen, werden sie sie gleich sehen und forttragen. Sie werden mich befragen, und ich werde erzählen, daß ich es gewesen bin, und sie werden mich sofort abführen. Also mag sie jetzt hier liegenbleiben, neben uns, neben mir und dir ...«

»Ja, ja!« stimmte ihm der Fürst lebhaft zu.

»Also wir wollen jetzt nichts verraten und sie nicht forttragen lassen.«

»Um keinen Preis!« versetzte der Fürst. »Ja nicht, ja nicht!«

»Das war auch meine Meinung, daß wir das um keinen Preis tun und sie niemandem herausgeben wollten! Die Nacht wollen wir hier ganz still verbringen. Ich bin heute nur eine Stunde lang von Hause weggewesen, am Vormittag; die übrige Zeit war ich immer bei ihr. Und dann ging ich am Abend fort, um dich zu holen. Ich fürchte nun noch, daß es bei der Hitze riechen wird. Spürst du einen Geruch oder nicht?«

»Vielleicht spüre ich etwas; ich weiß es nicht; aber morgen früh wird es gewiß riechen.«

»Ich habe sie mit Wachstuch zugedeckt, mit gutem amerikanischem Wachstuch, und über dem Wachstuch mit einem Leinentuch, und vier offene Flaschen mit Schdanowscher Flüssigkeit habe ich danebengestellt; die stehen jetzt noch da.«

»Das hast du gerade so gemacht wie ... wie der in Moskau?«

»Weil man es riechen wird, Bruder. Aber wie sie daliegt ... Am Morgen, wenn es hell wird, dann sieh sie dir an! Was ist mir dir? Du kannst ja gar nicht aufstehen?« fragte Rogoschin erstaunt und ängstlich, als er sah, daß der Fürst so zitterte, daß er nicht imstande war, sich zu erheben.

»Die Beine sind mir schwach«, murmelte der Fürst. »Das kommt von der Angst; ich kenne das ... Wenn die Angst vorübergeht, dann werde ich auch wieder stehen können ...«

»Warte noch; ich werde unterdes das Lager für uns zurechtmachen; dann kannst du dich hinlegen ... und ich werde mich zu dir legen ... und dann wollen wir hören ... denn ich weiß noch nicht ... ich weiß jetzt noch nicht alles; das sage ich dir im voraus, damit du alles darüber im voraus weißt ...«

Während Rogoschin diese unklaren Worte murmelte, begann er, die Lagerstatt herzurichten. Offenbar hatte er sich eine solche schon vorher im stillen ausgedacht, vielleicht schon am Morgen. In der vorhergehenden Nacht hatte er selbst auf dem Sofa gelegen. Aber zwei Personen nebeneinander konnten auf dem Sofa nicht liegen; und er wollte jetzt durchaus zwei Lager nebeneinander herstellen; deshalb schleppte er jetzt mit großer Anstrengung von den beiden Sofas allerlei verschieden große Kissen durch das ganze Zimmer bis dicht an den einen Eingang des Vorhangs. Nun hatte er eine leidliche Lagerstatt zurechtgemacht; er trat zum Fürsten, faßte ihn zärtlich und behutsam unter den Arm, hob ihn auf und führte ihn zu dem Lager; indes stellte sich heraus, daß der Fürst auch allein gehen konnte; denn »die Angst war vorübergegangen«; aber er zitterte doch noch immer.

»Weißt du, Bruder«, begann Rogoschin auf einmal, nachdem er den Fürsten sich auf das linke, bessere Lager hatte legen lassen und sich selbst, ohne die Kleider abzulegen, rechts von ihm hingestreckt und beide Hände hinter den Kopf gelegt hatte, »es ist heute heiß, und da wird es natürlich riechen ... Die Fenster zu öffnen, fürchte ich mich; aber meine Mutter hat Töpfe mit Blumen, viele Blumen, und die duften sehr schön; ich habe daran gedacht, sie herüberzuholen; aber die alte Pafnutjewna würde etwas merken; denn sie ist sehr neugierig.«

»Ja, das ist sie«, bestätigte der Fürst.

»Soll ich vielleicht Bukette und Blumen kaufen und sie ganz damit bedecken? Aber ich glaube, sie würde mir gar zu leid tun, wenn sie so unter den Blumen daläge!«

»Hör mal ...«, begann der Fürst, wie wenn er verwirrt wäre und überlegte, wonach er eigentlich fragen wollte, und es immer gleich wieder vergäße. »Hör mal, sage mir doch: womit hast du sie getötet? Mit einem Messer? Mit eben jenem Messer?«

»Ja, mit eben jenem ...«

»Warte noch! Ich will dich noch etwas fragen, Parfen ... ich werde dich noch nach vielem fragen, nach allem ... aber sage mir lieber zuerst, zuallererst, damit ich das weiß: wolltest du sie vor meiner Hochzeit töten, vor der Trauung, an der Kirchentür, mit dem Messer? Wolltest du das oder nicht?«

»Ich weiß nicht, ob ich es wollte oder nicht ...«, antwortete Rogoschin trocken, wie wenn er sogar über die Frage einigermaßen verwundert wäre und sie nicht verstände.

»Hast du das Messer niemals nach Pawlowsk mitgenommen?«

»Nein, niemals. Ich kann dir über dieses Messer nur soviel sagen, Ljow Nikolajewitsch«, fügte er nach kurzem Schweigen hinzu: »Ich habe es heute früh aus einem verschlossenen Schubkasten herausgenommen; denn die ganze Sache geschah heute morgen zwischen drei und vier Uhr. Es hat bei mir immer in einem Buch gelegen ... Und ... und ... und da ist noch etwas, was mir wunderbar vorkommt: das Messer ist sieben oder sogar neun Zentimeter tief eingedrungen ... dicht unter der linken Brust ... aber Blut ist nur so etwa ein halber Eßlöffel voll auf das Hemd herausgelaufen, nicht mehr ...«

»Das, das, das«, stammelte der Fürst und richtete sich in furchtbarer Erregung auf, »das, das kenne ich; das habe ich gelesen ... das nennt man innere Verblutung ... Es kommt vor, daß kein einziger Tropfen herausfließt. Das ist so, wenn der Stoß gerade ins Herz gegangen ist ...«

»Halt, hörst du?« unterbrach ihn auf einmal Rogoschin hastig und setzte sich erschrocken auf dem Lager aufrecht. »Hörst du?«

»Nein!« erwiderte ebenso hastig und erschrocken der Fürst und sah Rogoschin an.

»Es geht jemand! Hörst du? Im Saal ...«

Beide begannen zu horchen.

»Ich höre es«, flüsterte der Fürst in festem Ton.

»Geht jemand?«

»Ja.«

»Wollen wir die Tür zuschließen oder nicht?«

»Wir wollen sie zuschließen ...«

Sie schlossen die Tür zu und legten sich beide wieder hin. Sie schwiegen lange.

»Ach ja!« flüsterte der Fürst auf einmal in der früheren aufgeregten, hastigen Manier, wie wenn er wieder einen Gedanken erhascht hätte und ängstlich befürchtete, ihn wieder zu verlieren; er sprang sogar auf seinem Lager ein wenig in die Höhe. »Ja ... ich wollte ja ... diese Karten! Die Karten! Ich höre, du hast mit ihr Karten gespielt?«

»Ja, das habe ich getan«, erwiderte Rogoschin nach einigem Stillschweigen.

»Wo sind denn ... die Karten?«

»Die Karten sind hier ...«, versetzte Rogoschin, nachdem er noch länger geschwiegen hatte. »Da ...«

Er zog ein gebrauchtes, in Papier gewickeltes Spiel Karten aus der Tasche und reichte es dem Fürsten. Dieser nahm es, aber mit einer Art von Befremden. Ein neues, trauriges, trostloses Gefühl schnürte ihm das Herz zusammen; er wurde sich auf einmal bewußt, daß er in diesem Augenblick und schon längst immer nicht von dem redete, wovon er reden mußte, und immer nicht das tat, was er tun mußte, und daß diese Karten, die er in den Händen hielt, und über die er sich so freute, jetzt zu nichts helfen konnten, zu gar nichts. Er stand auf und schlug die Hände zusammen. Rogoschin lag da, ohne sich zu rühren, und schien seine Bewegung weder zu hören noch zu sehen; aber seine Augen leuchteten hell durch die Dunkelheit und waren weit geöffnet und starr. Der Fürst setzte sich auf einen Stuhl und begann ihn angstvoll anzusehen. So verging etwa eine halbe Stunde; auf einmal fing Rogoschin an, laut und stoßweise zu schreien und zu lachen, wie wenn er vergessen hätte, daß sie nur flüsternd reden durften: »Den Offizier, den Offizier ... erinnerst du dich, wie sie den Offizier beim Konzert mit dem Spazierstöckchen ins Gesicht schlug, erinnerst du dich? Hahaha! Und wie der Leutnant hinzusprang ... Der Leutnant ... der Leutnant ...«

Der Fürst sprang in neuem Schrecken vom Stuhl auf. Als Rogoschin verstummt war (und das geschah plötzlich), beugte sich der Fürst leise zu ihm herab, setzte sich neben ihn und begann mit stark klopfendem Herzen und nur mühsam atmend ihn zu betrachten. Rogoschin drehte den Kopf nicht zu ihm hin und schien seine Anwesenheit ganz vergessen zu haben. Der Fürst sah ihn an und wartete; die Zeit verging; es begann hell zu werden. Rogoschin fing mitunter plötzlich an zu murmeln, laut, scharf und unzusammenhängend; er schrie und lachte; der Fürst streckte dann seine zitternde Hand nach ihm aus und berührte leise seinen Kopf und sein Haar, streichelte dieses und streichelte seine Wangen ... mehr vermochte er nicht zu tun! Er selbst begann wieder zu zittern, und seine Beine waren auf einmal wieder wie gelähmt. Eine ganz neue Empfindung quälte sein Herz mit grenzenlosem Kummer. Unterdessen war es ganz hell geworden; er legte sich endlich ganz kraftlos und verzweifelt auf das Kissen und schmiegte sein Gesicht an das blasse, regungslose Gesicht Rogoschins. Tränen strömten aus seinen Augen auf Rogoschins Wangen; aber vielleicht fühlte er damals schon seine eigenen Tränen nicht mehr und wußte nichts mehr von ihnen; wenigstens wies der weitere Verlauf darauf hin.

Als viele Stunden nachher die Tür geöffnet wurde und Leute hereinkamen, fanden sie den Mörder in voller Bewußtlosigkeit und in starkem Fieber. Der Fürst saß, ohne sich zu rühren, neben ihm auf dem Lager und fuhr jedesmal, wenn der Kranke aufschrie oder zu phantasieren begann, ihm mit seiner zitternden Hand eilig über das Haar und die Wangen, wie wenn er ihn liebkosen und beruhigen wollte. Aber er verstand nicht mehr, wonach man ihn fragte, und erkannte nicht mehr die Leute, die hereingekommen waren und ihn umringten. Und wenn Schneider selbst jetzt aus der Schweiz gekommen wäre, um sich seinen ehemaligen Schüler und Patienten anzusehen, so würde er in Erinnerung an den Zustand, in dem sich der Fürst manchmal im ersten Jahr seiner Kur in der Schweiz befunden hatte, jetzt eine verzweifelte Handbewegung gemacht und wie damals gesagt haben: »Ein Idiot!«“

[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. S. 20895-20903

(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 5, S. 354-360)

http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]

 

Es ist eine ganz fürchterliche, schreckliche Szene, die uns Dostoevskij hier beschreibt und er beweist hier seine ganze Meisterschaft, weil man einerseits das Maul offen sperren muss über dieses unglaubliche Geschehen und andererseits aber weiss: Genauso kann es gewesen sein.

Aber beschreibt Dostoevskij hier wirklich „einen homoerotischen Moment“ oder beschreibt er nicht vielmehr, wie zwei erwachsene Männer angesichts der fürchterlichen Tat eines von ihnen, an der sich auch der andere mitschuldig fühlt, erst zu Knaben werden, während sie miteinander reden vor unseren Augen und Ohren regelrecht regretieren, und so tun als könnten sie sich vor der Strafe in einer Hecke verstecken und unsichtbar werden, um sich dann beide ganz aus dieser Welt zu verabschieden.

Dass Myschkin bevor er endgültig aus der Welt tritt diesen Mörder Rogoschin streichelt, zeigt die starke weibliche Seite an und ihn ihm. Aber es ist ein Vorurteil alle Männer, die auch weiblich Seiten in sich tragen und diese nicht verstecken, per se für schwul zu halten.
Es ist heute, zumindest in unseren Breiten, keine Schande mehr, schwul zu sein. Es wäre schön, wenn es auch jenen Männern, die die Frauen lieben, ganz selbstverständlich erlaubt wäre, weibliche Seiten zu haben.

Das „Weib“ Myschkin

Bekanntlich unterliegt die Frage was „weiblich“ und was „männlich“ ist auch gesellschaftlichen Konventionen. Neben den unbestreitbaren und jederzeit sichtbar zu machenden biologischen Unterschieden existieren Zuschreibungen, die eindeutig gesellschaftlicher Konvention entspringen und die die Vertreter beider Geschlechter auf Rollenmuster festlegen, denen im Zweifel schwer zu entkommen ist, auch wenn einem die zugeschriebenen Rollen keineswegs liegen.

 

Dabei sind lange Haare als Ausdruck von Weiblichkeit noch das harmloseste Klischee, obwohl Mann damit in den späten 60igern und frühen 70igern des 20.Jahrhunderts als junger Mensch wahre Hassorgien bei einem Teil des älteren (vorwiegend) männlichen Publikums auslösen konnte.

Diese Hassorgien waren natürlich oft auch eine Abwehr eigener unterdrückter homoerotischer Neigungen.

Aber das ist nur ein Teilaspekt. Auch und gerade heterosexuelle Männer müssen unbedingt „männlich“ sein, weil sie andernfalls in die Kategorie der „Schlappschwänze“, „Weicheier“ und „Warmduscher“ eingereiht werden. D.h. dass sie ansonsten ihre Männlichkeit abgesprochen bekommen und das ist ja schon fast eine Höchststrafe für jeden Mann.

Myschkin ist in diesem Sinne kein Mann und vielleicht wird er auch deswegen so gerne mit Jesus verglichen, einem anderen bekannten männlichen Nicht-Mann.
In Hesses Aufsatz von 1919 über Dostoevskij/Myschkin geht er auf eine Szene im 2.Teil ein, bei der eine Horte „Nihilisten“ den Fürst melken wollen und ihn zu diesem Zweck erst verleumden. Hesse erklärt, dass er von dieser Szene am meisten irritiert ist und er leidet aus dieser Szene her, dass der freundliche Myschkin wie der freundliche Jesus die existierende Ordnung in Frage stellen.

Aber welche Ordnung ist das ?

Unter anderem die zwischen Mann und Frau.

Schauen wir uns die Szene näher an:

Die Truppe trifft in Lebedews Landhaus ein und wird erst von Lebedew nicht vorgelassen. Als Myschkin das erfährt befiehlt er sie vor zu lassen.

Bevor sie aber eintreten, erhält er von Mutter und Tochter Jepantschin den folgenden Rat:

„»Es wird sehr gut sein, wenn Sie diese Angelegenheit sogleich und persönlich erledigen«, sagte Aglaja, die mit besonders ernstem Wesen zum Fürsten hintrat. »Und uns allen wollen Sie, bitte, erlauben, Ihre Zeugen zu sein. Man will Sie mit Schmutz bewerfen, Fürst; Sie müssen sich feierlich rechtfertigen, und ich freue mich schon im voraus herzlich für Sie.«

»Auch ich würde wünschen, daß diese garstige Prätention endlich einmal zu Ende käme!« rief die Generalin. »Gib es ihnen ordentlich, Fürst; schone sie nicht! Ich habe schon so viel von dieser Affäre hören müssen, und es ist mir oft genug die Galle übergelaufen. Aber es wird interessant sein, diese Menschen einmal anzusehen. Rufe sie herein, und wir wollen uns wieder hinsetzen. Aglajas Rat war gut. Haben Sie von dieser Angelegenheit etwas gehört, Fürst?« wandte sie sich an Fürst Schtsch.“

[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 20090

(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 4, S. 127)

http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]

Die Szene schliesst unmittelbar an eine „Armer Ritter-Szene“ an und beginnt mit der Aufforderung an Myschkin hart, kurz ein Mann zu sein.

Der unsägliche Auftritt dieser „Kämpfer für Gerechtigkeit“ löst einerseits immer wieder den Unwillen der „Generalin“ aus, die von Myschkin ein energisches Auftreten erwartet. Er aber entwickelt ein Versöhnungsbedürfnis, den Wunsch alles unter einer „Wir mögen uns doch“-Sosse zu beerdigen, wie es unsere von früherer Hitler-Verehrung und Bomben-Trauma geprägten und am Förster im Silberwald und der verzuckerten Sissi hängenden 50-iger-Jahre-Mütter nicht besser hinbekommen hätten.

Paradigmatisch dafür mag der folgende Auftritt sein:

„ »Verzeihung, meine Herren, Verzeihung!« entschuldigte sich der Fürst eilig; »bitte, verzeihen Sie! Ich habe es nur deswegen gesagt, weil ich meine, es würde wohl das beste sein, wenn wir gegeneinander völlig aufrichtig wären; aber wie Sie wollen; ganz wie Sie wollen! „

[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 20125

(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 4, S. 150-151)

http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]

Ich würde mich nicht wundern, wenn direkt nach einem solchen Ausbruch Doris Day zur Tür herein käme und erbaut wäre.

Die Jepantschinenschen Damen sind allerdings weniger begeistert.

Nachdem Myschkin sich auch noch dafür entschuldigt, dass er einem angeblichen „Erben“ Geld geben will, was Dostoevskij so schildert:

„»Ich bitte Sie um Entschuldigung!« sagte der Fürst, indem er an Burdowski herantrat. »Ich habe Ihnen schweres Unrecht getan, Burdowski; aber ich habe es Ihnen nicht als Almosen geschickt, glauben Sie mir! Ich habe Ihnen auch jetzt Unrecht getan, vorhin.« (Der Fürst war sehr niedergeschlagen; er sah müde und schwach aus, und seine Worte waren unzusammenhängend.) »Ich sprach von Gaunerei ... aber das bezog sich nicht auf Sie; ich habe mich geirrt. Ich sagte, daß Sie ebenso ein kranker Mensch seien wie ich. Aber Sie sind nicht ebenso wie ich; Sie geben ja Stunden und unterstützen Ihre Mutter. Ich sagte, Sie brächten Ihre Mutter in Unehre; aber Sie lieben sie; sie sagt es selbst ... ich wußte das nicht ... Gawrila Ardalionowitsch hatte mir vorhin noch nicht alles mitgeteilt ... ich habe Unrecht getan. Ich wagte es, Ihnen zehntausend Rubel anzubieten; aber das war Unrecht von mir; ich hätte es in anderer Weise machen müssen; aber jetzt ... geht es nicht mehr, weil Sie mich verachten ...«“

[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 20150-151

(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 4, S. 167)

http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]

 

Diese „Güte“ ist schwer zu ertragen, Aglaja und ihre Mutter ertragen sie nicht:

 

„»Aber das ist ja das reine Irrenhaus!« rief Lisaweta Prokofjewna.

»Gewiß, es ist ein Irrenhaus!« sagte Aglaja, die sich nicht mehr beherrschen konnte, in scharfem Ton.“

[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 20151

(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 4, S. 167)

http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]

 

Das Paradoxe und Ordnungswidrige (wie Hesse zurecht meint) dieser ganzen Szene besteht u.a. darin, dass hier die beiden Frauen männliches, entschiedenes Handeln fordern, während Myschkin das schwache, hilflose Weib ist, das alle Widersprüche und Gegensätze dieser Welt durch Liebe versöhnen will.

Und kurz nachdem Lisaweta Prokofjewna festgestellt hat, in einem Irrenhaus zu sein und nicht nur Myschkin, sondern auch ihren Mann wegen seiner Passivität gerüffelt hat, wendet sie sich dem jungen, todkranken Ippolit zu und wird plötzlich wieder zur besorgten Mutter, die den Todkranken am liebsten an ihr großes Herz drücken möchte.

Es ist schon erstaunlich wie Dostoevskij hier die Geschlechterrollen durcheinander wirbelt, ohne jemals Judith Butler gelesen zu haben.
Auf der anderen Seite ist dieser Befund auch wieder nicht so erstaunlich, denn es ist ja gerade die Schwäche und Stärke aller Myschkins, dass sie in der hergebrachten Ordnung nicht einfach zu Hause sein können.

Rogoschin Kaufmannssohn


Der Streit ob die Henne vor dem Ei oder das Ei vor der Henne da war, endet bekanntlich damit, das man begreift, dass es vor der Henne eine Art Proto-Henne gegeben hat und vor dem Ei ein Proto-Ei.

Dadurch endet der Prioritätsstreit in der Geschichte einer Entwicklung.

Max Weber hat in seiner „Protestantischen Ethik“ darauf insistiert, bewiesen zu haben, dass eine geistige Revolution der materiellen Revolution Industrialisierung und Kapitalismus voraus ging und diese vorbereitete. Er wollte dieses Konzept als Gegenkonzept zu Karl Marx verstanden wissen.

Dieser Wechsel von einer Gesellschaft, in der mann/frau arbeitete um zu leben und in der Krankheiten, Missernten, Heuschrecken und Herrschaft manchmal das Leben und Überleben schwer, fast unmöglich machten, zu einer Gesellschaft, in der mann/frau nur ein Recht auf Leben haben soll um zu arbeiten, in der aber auch alle Reichtumsquellen so überreich fließen, dass der einzige Mangel, den diese Gesellschaft kennt, der Mangel an Arbeit ist, dieser Wechsel war mindestens so umwälzend, wie jener vom im Wasser abgelegten Schleim zum Ei mit fester Schale, das bebrütet wird.

Entsprechend müssen sich auch erste verschiedene Inseln des Proto-Kapitalismus bilden, bevor alle diese Inseln zum neuen, zum angeblichen „Promise-Land“ zusammen wachsen können.
Und bei der Bildung dieser Inseln sind die verschiedenen christlichen häretischen Strömungen, die seit dem Mittelalter sprießenden Sekten, so etwas wie die Hefe im Mehl.

Allerdings nährt der Geist alleine niemand, und so ist, wie Marx richtig festgestellt hat, eine neue Art seinen Lebensunterhalt zu verdienen, die Grundvorraussetzung für alles übrige. Diese neue Art seinen Unterhalt zu bestreiten, wird zur neuen Lebensart. Und diese neue Lebensart steht im schroffen Gegensatz zur alten. Dieser Gegensatz muss notwendigerweise eine Ideologieproduktion in Gang setzen, die die Sehnsucht nach Erlösung aus dem irdischen Jammertal in eine Sehnsucht nach einem neuen Jerusalem, der Stadt auf den Bergen, übersetzt.

Und dieses neue „Jerusalem“ und das ist ihr unauflösliches Paradox, verkündet im Namen der Liebe das allumfassende Streben nach Besitz und Reichtum zum Ziel des Lebens überhaupt.

Wir leben um zu haben und wir arbeiten hart um noch mehr zu haben.

Und dadurch, dass wir haben und in dem was wir haben, nehmen wir teil am ewigen Leben. Unser Tod ist nichts, weil unser Werk uns überlebt.

Das ist der Kern des neuen Evangeliums.

Ihr alpha und omega und ihr wirkliches Vaterunser.

Rußland in den 60iger Jahren des 19.Jahrhunderts ist in der selben Situation wie Japan oder China zur selben Zeit:

Die Entwicklung, die da erst in England und dann in New England ins Rollen gekommen ist und danach dank Frankreich und Napoleon auch auf den europäischen Kontinent übergegriffen hat, droht diese alten Staaten zu untergraben und unter sich zu begraben. Deswegen versucht der Staat die zarten Pflänzchen einer eigenständigen Entwicklung durch politisches Handeln zu ergänzen und zu beschleunigen. Während dies in Japan gelingt, scheitert es in China und Rußland.
In Japan gelingt der Schulterschluss der herrschenden Samurei mit der Bürokratenkaste und gemeinsam mausern sie sich zu einer japanischen Bourgeoisie. In Rußland entdeckt die Adelskaste hauptsächlich Baden-Baden, Bad Ems und Paris, während die Bürokratenkaste zwischen sklavischer Unterwürfigkeit und revolutionärer Phrasendrescherei hin- und herschwankt. Lebedew ist dafür der Prototyp.
Und der Schmähartikel über Myschkin in einem Petersburger Skandalblättchen, den Keller verantwortet und Lebedew diktiert hat, beginnt mit:

„Proletarier und Edelinge“

[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 20102

(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 4, S. 134)

http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]

 

In den 70iger Jahren unseres Jahrhunderts soll man auf studentischen Vollversammlungen der Uni Göttingen den Vorsitzenden des christdemokratischen Stundentenverbands RCDS mit den Worten: „Das Wort hat nun der Genosse RCDS-Vorsitzende“ ans Rednerpult gebeten haben.

„ Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten; sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen. So maskierte sich Luther als Apostel Paulus, die Revolution von 1789-1814 drapierte sich abwechselnd als römische Republik und als römisches Kaisertum, und die Revolution von 1848 wußte nichts Besseres zu tun, als hier 1789, dort die revolutionäre Überlieferung von 1793-1795 zu parodieren. So übersetzt der Anfänger, der eine neue Sprache erlernt hat, sie immer zurück in seine Muttersprache, aber den Geist der neuen Sprache hat er sich nur angeeignet, und frei in ihr zu produzieren vermag er nur, sobald er sich ohne Rückerinnerung in ihr bewegt und die ihm angestammte Sprache in ihr vergißt.“

[Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. Marx/Engels: Ausgewählte Werke, S. 11625-11626

(vgl. MEW Bd. 8, S. 115) http://www.digitale-bibliothek.de/band11.htm ]

 

Die russischen „Revolutionäre“ zogen sich den Blaumann an und traten als Arbeiterführer auf. Aber darunter verbargen sie nur ihre Ärmelschoner und ihre sonstige Beamtenuniform.
Und so war ihre „Revolution“ auch eher eine Konterrevolution. Sie bekämpfte den Kapitalismus bis aufs Messer. Nicht um ihn zu überwinden, sondern um das geschundene Land weiter als Beute zu behalten.

Die Bürokratie wurde mit „Sowjetöl“ gesalbt (Lenin!), die Türschilder gewechselt, während die Futterkrippen blieben. Inzwischen wurden die Türschilder ein weiteres Mal gewechselt und angeblich ist Rußland jetzt ein kapitalistisches Land. Aber gibt es dort auch Kapitalisten ? Haben die Neureichs in St.Moritz wirklich etwas mit Akkumulation, mit Reichtumsproduktion als Selbstzweck, am Hut ?

Kapitalismus bedeutet nicht einfach nur Reichtum, es bedeutet mit dem, was man hat, nicht zufrieden zu sein.
Es bedeutet eine Maschine anzuschieben und in Gang zu halten, die heute bessere Zahlen produzieren soll als gestern und die morgen noch mehr davon liefert. Alle Leidenschaft gehört diesem schneller, weiter und höher. Weswegen auch die Leidenschaft für eine Frau ein entscheidender
Störfaktor ist. Fast so schlimm wie Trunksucht.

Der „Yankee aus Conneticut“ verkörpert diesen Geist.

Der Vater Rogoschins verkörpert diesen Geist und deswegen muss er auch seinen Sohn verprügeln als er tausende Rubel vergeudet für eine Frau. Deswegen ist er sich nicht zu schade zu der Dame zu gehen und um die Herausgabe des Schmucks zu betteln. Und deswegen stirbt er vor Kummer über seinen verkommenen, missratenen Sohn.

Während der Vater stirbt, liegt der Junge besoffen in Pskow im Dreck, so besoffen, dass schon die streunenden Hunde an ihm zu nagen beginnen und er sich in der Kälte fast selbst den Tod holt.

Unser Kaufmannssohn wird damit zum besoffenen Gutsbesitzer. Eine der typischen nutzlosen Existenzen, wie sie in Gestalt von „Leutnants“ die damalige Welt Rußlands, Preußen oder Österreichs heimsuchen.

In jener gespenstischen Szene, als Myschkin Rogoschin zu Hause besucht und sie Brüder sein sollen und ihre Anhänger tauschen, während Rogoschin schon das Messer richtet, mit dem er später Natassja tötet und zuvor Myschkin bedroht, in dieser Szene entdeckt Myschkin ein Bild an der Wand und frägt:

„»Das ist wohl dein Vater?« fragte der Fürst.

»Ja, das ist er«, antwortete Rogoschin mit einem unangenehmen Lächeln, als ob er vorhätte, im nächsten Augenblick irgendeinen ungenierten Scherz über seinen verstorbenen Vater zu machen.

»War er ein Altgläubiger?«

»Nein, er ging in die Kirche; aber er sagte allerdings, der alte Glaube sei richtiger. Auch vor den Skopzen hat er Achtung gehabt. Dies hier war sein Arbeitszimmer. Warum fragst du danach, ob er altgläubig war?« „

[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 19973

(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 4, S. 49) http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]

 

Die „Altgläubigen“ erkannten nicht den Zaren als Herrn über die Kirche an und die Skopzen ließen sich als Männer die Hoden und wenn sie besonders fromm waren den Penis abschneiden, während sich die Frauen Brüste und Klitoris entfernen liessen. Sie wollen sich damit vor der Sünde der sexuellen Wollust schützen, in dem sie die „Werkzeuge“ dazu, die sie als Werkzeuge des Satans sahen, abschnitten.

 

Sie töten die Wollust und stempeln sie zur Todsünde, während sie der wirklichen Todsünde der Habsucht und des Haben-wollens rettungslos verfielen.

 

Insofern hat Rogoschins Rebellion gegen den Vater zwei Seiten: Er wendet sich gegen eine Welt, die wirkliche, körperliche Liebe zur „Sünde“ erklärt und die Liebe zum Besitz zur Tugend, aber bleibt einer, der dem Haben-wollen verfallen ist.

Seine Rebellion will nicht das Besitzen- und Beherrschen-wollen hinter sich lassen. Er will statt abstrakter Rubelscheine die schönste Frau Petersburgs besitzen.


Die Hölle sind nicht die anderen

Bloßes Existieren ist weniger als Leben. Das ist kein ontologisches Problem, sondern ein immens lebenspraktisches.

Als wir jung waren, waren wir neugierig und so wollten wir wissen, was uns unsere Lehrer und Erzieher verschwiegen hatten.
Auf diese Weise wurde ich zum Mitorganisator einer Veranstaltung mit einem ehemaligen kommunistischen Dachau-Häftling. Dieser, ein auf sein Können stolzer, selbstbewusster Metallarbeiter, wie sie vor allem für Mannheim so typisch sind, erzählte sehr spröde und sehr genau, ohne allzu viel Pathos, mehr so wie man ein Gewinde dreht. Aber gerade deswegen hat sich mir manches eingebrannt. Am meisten aber das folgende:

Ein ehemaliger Reichtagsabgeordneter der DVP, ein führender Mann seiner Partei, der auch von seiner Körpergrösse groß und beindruckend war, war von der SA und ihrem Ludwigshafener Kommandanten Eicke in Dachau als Hund abgerichtet worden. Er wurde an eine Kette gelegt, bekam einen Fressnapf und eine Hundehütte und wenn die SA vorbei kam, musste er bellen.

Jener Eicke war in den turbulenten 20iger Jahren in Ludwigshafen erst Bombenleger, dann Werkschützer bei der IG und zuletzt innerparteilicher Konkurrent des Pfälzer Gauleiters Bürckel gewesen. Bürckel schaffte es ihn nach Nürnberg in eine Irrenanstalt zu verfrachten und somit aus dem Weg zu räumen. Aus dieser Irrenanstalt wurde Eicke von Himmler befreit. Danach wurde er der Kommandant des Lagers Dachau und der eigentliche Erfinder des KZ-Systems. Es ist noch zu wenig bekannt und beachtet, dass dieses System wesentliche Anregungen aus den Irrenhäusern erhielt. Genauso wie später die Irrenhäuser im Rahmen der Euthanasie dem Probelauf für Auschwitz dienten.

Nun kann man in Bezug auf jenen Reichstagsabgeordneten, dessen Menschsein ausgelöscht wurde, während man ihm weiter das bloße Existieren gestattete, sagen, dass dies in einem Ausnahmezustand geschah.

Und man kann all den intellektuellen Befürwortern von Ausnahmezuständen, wenn sie den Formalismus des Rechtsstaats beklagen, nur von Herzen wünschen, dass sie ihre Einlassungen nicht eines Tages in einer Hundehütte bedauern müssen.

Die „Souveränität“ die einer gewinnt, der andere von Staats wegen quälen darf, hat zur Kehrseite den Verlust jeder Souveränität, ja am Ende gar des Menschseins für den oder die Gequälte.

Natürlich hat „Souveränität“ auch eine andere Seite: Wie souverän beherrsche ich mich und mein Handwerk, was kann ich nützliches tun für mich und meine Mitmenschen. Aber das ist eine andere Art von Souveränität. Eine die nicht über den anderen steht, sondern mit ihnen auf der Reise ist.

Und die deswegen auch keinen Ausnahmezustand braucht um bei sich zu sein.

Bevor man behauptet, dass wir zur Freiheit verurteilt seien, muss man erst den Begriff der Freiheit näher bestimmen. Das geht nur, wenn man auf den lächerlichen Versuch verzichtet die Determiniertheit unseres Lebens zu verleugnen. Da aber das Leben und die Welt nicht aus Kausalketten sondern aus Wechselwirkungen bestehen, sind Welt und Leben genügend unbestimmt, um auch dem freien Willen Raum zu lassen.

Aus dieser bestimmt-unbestimmten Welt folgt aber, dass unser Wissen und Können den Grad unserer Freiheit wesentlich mitbestimmt.

Deswegen sind die Anderen, die Nächsten, nicht die Grenze oder gar Feinde unserer Freiheit, sondern eine wesentliche Bedingung.

Was wir gegenüber der Welt vermögen, hängt nicht nur von uns ab. Es ist unser gemeinsames Vermögen oder Unvermögen. Dieses gemeinsame Vermögen bestimmt den gesellschaftlich und historisch möglichen Grad unserer Freiheit.

Insofern wird unsere Freiheit durch alle Anderen, unsere Nächsten, garantiert genauso wie wir die Garanten der Freiheit der Anderen sind bzw. sein müssen.

Wenn es so ist, dann ist unser Leben und das Leben unserer Mitmenschen geglückt.

Aber Leben glückt nicht nur.

Weil wir immer aus einem Kranz von Möglichkeiten wählen was dann wirklich wird, haben wir mit der Möglichkeit der Wahl die Möglichkeit der schlechten Wahl. Und damit auch die Möglichkeit zum Schlechten, zum Bösen.

Insofern sind wir die Schöpfer unserer eigenen Hölle.

Das blasierte „die Hölle, das sind die Anderen“ drückt sich mit seinem selbstgerechten Ekel vor der eigenen Verantwortung.

Einer Verantwortung, die um so größer ist, als der, der sich da ekelt, ja nicht weit davon entfernt war, dem Teufel die Hand zu geben.

Für unseren ehemaligen Reichstagsabgeordneten sind es dagegen in der Tat die „Anderen“, die SA, die zu seiner Hölle werden.

Aber das liegt nicht daran, dass sie „Andere“ sind, sondern daran, dass sie die falsche Wahl getroffen haben. Die Freiheit, die sie hatten, haben sie missbraucht um nun die Freiheit mit den Füßen zu treten.

Die Freiheit, die ich habe, ist nicht zum mindesten die Freiheit kein Eicke, kein Menschenquäler, sein zu müssen.

Ich bin in meinem Sein nicht allein auf der Welt. Es ist im Gegenteil eine wesentliche Bestimmung von mir, mich in vielen anderen zu spiegeln.

Erst das macht mich zum Menschen. Erst in der Beziehung zu anderen, einer Beziehung, die immer eine Wechselbeziehung ist, bin ich überhaupt. Ohne dieses Universum an Beziehungen kann ich möglicherweise gerade so nur existieren, wobei sogar dies fraglich ist.

Deswegen sind die Anderen auch nicht die Hölle für mich, sondern ohne sie gibt es keinen Himmel, kein Paradies, kein gelobtes Land.

Das Land, in dem Milch und Honig fließen, ist vor allem ein Land in dem ich mit meinen Problemen nicht allein bin.

Im Paradies oder in der Blochschen Heimat kann ich nur dann sein, wenn ich die Sicherheit habe, dass mich jemand fängt, wenn ich falle.

Dies ist auch das Geheimnis manchen religiösen Bekenntnisses.

Wir erinnern uns an Bonnhöfers Gebet:

„Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“

Ein wunderbares Gebet, das wie alle Gebete nur einen Fehler hat: Es vertraut auf eine fremde Macht außer uns, wo wir doch auf niemand außer uns selbst vertrauen dürfen.

Marxens Diktum vom „Opium“ meint genau dies. Was allerdings meistens bei diesem Diktum vergessen wird: Marx kritisiert nicht die Sehnsucht, Marx kritisiert die Zustände in denen dieses Verlangen nach Geborgenheit nur ein jenseitiger Traum ist.

Wenn die Hölle aber nicht die Anderen sind, was ist dann die Hölle ?

Die Hölle ist das Getrenntsein von den Anderen.

Bei alten Völkern war die härteste Strafe der Ausschluss aus der Gemeinschaft des Stammes. Eine härtere Strafe konnte es nicht geben.

Deswegen gibt es keine Hölle, wenn ich von den Anderen, von meinen Mitmenschen, erkannt und anerkannt werde.

Das Problem aller Seinsphilosophen besteht darin, dass sie wie weiland St.Max schon vom „Einzigen und seinem Eigentum“ ausgehen, d.h. sie versetzen den Menschen von Anfang an in die Hölle und bekommen ihn da nicht mehr heraus. Sie ignorieren, dass jeder von uns vor allem ein tausendfacher Spiegel seiner Mitmenschen ist.
Sie hängen an ihren Abstraktionen in denen sich das leere Sein in all seiner Ödnis über die Welt ergießt.

Trotzdem ist ihre Philosophie nicht ohne Realitätsbezug. Denn in der Tat ist das Alleinsein, das auf sich gestellt sein eine moderne Krankheit.

Allein zu sein mit der Welt und ihren Problemen ist aber bereits die Hölle.

 

„Alleinsein“ heißt hier zurück geworfen sein nur auf sich.

Bonhoeffer hat das durchaus auch so gesehen:

„So habe ich mich noch keinen Augenblick allein und verlassen gefühlt. Du und die Eltern, Ihr alle, die Freunde und Schüler im Feld, Ihr seid immer ganz gegenwärtig. […] Wenn es im alten Kinderlied von den Engeln heißt: zweie, die mich decken, zweie, die mich wecken, so ist diese Bewahrung am Abend und am Morgen durch gute unsichtbare Mächte etwas, was wir Erwachsene heute nicht weniger brauchen als die Kinder.“

So sehr dieses Alleinsein aber eine moderne Krankheit ist, so wenig ist es Schicksal. Der Spruch, wonach es kein richtiges Leben im falschen geben soll, ist nichts als die faule und bequeme Ausrede von Intellektuellen, die die Stammtischparole des „da kann man eh' nichts dran machen“ nur auf ein höheres Niveau gehoben haben.

Das richtige Leben wird nicht eines schönen Tages vom Himmel fallen, sondern kann nur aus dem Boden des jetzigen, falschen Lebens emporwachsen.

Umso nötiger ist es, dass wir die zarten, frostgefährdeten Keime neuen Lebens schützen und hegen.

Wenn allerdings Menschen, wie Bonnhöfer, in der Geborgenheit zu Hause sind, dann oft nicht wegen der Gesellschaft in der sie leben, sondern trotz dieser Gesellschaft.

Nicht nur der Nazistaat war, unsere Gesellschaft heute ist oft so organisiert, dass sie das Alleinsein schon fast erzwingt.

Damit Gesellschaft dagegen Geborgenheit ermöglicht, muss sie ein Sozialstaat sein. D.h. sie muss ihre Mitglieder vor den großen Risiken des Lebens schützen.

Allerdings sind Gesellschaft und Staat immer bürokratische Gebilde und damit sachlich organisiert.

Wenn wir also sagen: Die Hölle ist dort, wo wir allein sind und zu bloßen Sachen werden, dann können Staat und Gesellschaft dieses Problem immer nur zur Hälfte lösen. Dass wir mehr sind als eine Sache und die menschliche Wertschätzung erhalten, die wir zum Leben brauchen, kann uns kein Staat garantieren.

Dazu brauchen wir die Anderen und ihre Liebe und Zuneigung. Wobei man Liebe und Zuneigung tötet, wenn man sie, wie Plato das tut, in ein bloßes Gespenst, in eine „reine“ Idee verwandelt. Liebe und Zuneigung müssen, damit sie überhaupt sind, auch „unrein“, nämlich körperlich, existieren.

Lieben können wir uns aber nur, wenn wir uns als Gleiche, d.h. auf Augenhöhe begegnen.

Wir bedürfen daher auch der Gleichheit.

Nun sind für manchen ja gerade die SA-Männer in ihren gleichen Uniformen das Muster an Gleichheit oder besser gesagt Gleichmacherei.

Das ist aber falsch.

In der SA oder vergleichbaren Orten findet man nicht den Anderen. An solchen Orten werden viele Einzelne zu einer Art Masse verbacken, die man zu jeder Art von Pogrom gebrauchen kann.

Obwohl sich die Individuen einer solchen Masse gleichen wie ein Klon dem anderen, ist doch jeder Einzelne von seiner Exklusivität überzeugt.

Irgendeine Form von Herrenmenschen-Ideologie ist normalerweise das Bindemittel, das aus den isolierten Sandkörnern den Stein werden lässt, der den Rest der Menschheit erschlägt.

Und obwohl sie in Rudeln auftreten, sind doch die Individuen in dieser Masse einsam und meist zu wirklicher Beziehung unfähig.

Es muss übrigens nicht die SA sein.

Von Franz-Josef Degenhardt gibt es ein Lied: „Du bist anders als die andern“ das dies z.B. für die Beschäftigten in Frankfurt/Main Niederrad oder irgendeiner anderen Bürostadt auf der Welt treffend beschreibt.

In diesen Massen steckt keine Kraft, nur Gewalt.

Die Kraft, die dagegen Bonhöffer beschwört, ist die Kraft die ihm andere geben.
Diese Kraft nennt er auch Gott. Diese Kraft verliert aber überhaupt nichts von ihrem Zauber, wenn wir sie aus dem Jenseits ins Diesseits versetzen. Es ist die Kraft, die wir erzeugen, weil und indem wir zusammen sind und uns lieben.

Fehlt diese Kraft, dann sind wir allein.

Dieses Alleinsein hat überhaupt nichts zu tun mit der Einsamkeit, die wir manchmal brauchen um bei uns selbst zu sein oder zu uns selbst zu kommen.

Diese Art von Einsamkeit, die wir z.B. in der Meditation erfahren schärft im Gegenteil gerade unser Bewußtsein dafür, dass wir ein Teil von einem größeren Ganzen sind.

Mit Anderen zu sein garantiert uns nicht das Paradies, aber es ist der einzige Weg, der dorthin führt.

Mit Anderen sind wir aber bloß dann wirklich zusammen, wenn die Anderen für uns nicht nur Mittel sind. Nur das Zusammensein als Selbstzweck, die Begegnung mit Anderen als Wert an sich kann Gelingen ermöglichen.

Daraus erwächst aber ein Problem:

Unsere Fähigkeiten Anderen wirklich als Anderen zu begegnen sind gewissermaßen limitiert. Wir können nicht mit Hunderttausenden oder gar Millionen gut Freund sein. Auf der anderen Seite ist die westliche Beschränkung auf den kleinsten Familienkreis nicht das Maß aller Dinge und mit Sicherheit nicht der Modell aus dem sich eine wirklich menschliche Gesellschaft entwickeln kann.

Weil wir nicht mit allen gut Freund sein können, werden wir mit vielen von diesen Anderen eine rein sachliche Beziehung haben und nur mit einigen von diesen Anderen eine wirklich menschliche Beziehung.

Dass sich die Nachbarschaft um alte Menschen, die krank und allein sind oder um Kinder, die sich im Spielen vergessen, kümmert, scheint woanders normaler zu sein als bei uns. Auf jeden Fall hat mir kürzlich eine Vietnamesin den Unterschied zwischen Deutschland und ihrer Heimatstadt Hanoi auf diese Weise erklärt.

Wobei wir allerdings in unsere Wohlstandsberechnungen statt des Bruttosozialprodukts mehr die Vielfalt und der Reichtum unserer mitmenschlichen Beziehungen einfliessen lassen sollten. Vielleicht ist dann das arme Vietnam reicher als die reiche Bundesrepublik.

Dass unsere Beziehungen sachlich werden, schließt ein, dass andere Menschen für uns zur Sache werden.

Und am Ende dieses Wegs dienen wir nur noch irgendeiner Sache und werden von Sachen regiert.

Wobei die Befreiung der Menschen von Ausbeutung und Unterdrückung auch zu einer „heiligen Sache“ werden kann, die dann unsere Entfremdung von uns selbst erst recht ins Unerträgliche steigert.

So sind nicht die Anderen die Hölle für uns, sondern wir und alle Anderen begeben uns auf den Weg in die Hölle, in dem wir uns und alle Anderen zu Sachen, zu Dingen machen, die anderen Sachen unterworfen sind.

Andererseits kann auch eine solche sachliche und bürokratische Konstruktion, wie sie unser Sozialstaat darstellt, eine wesentliche Voraussetzung dafür sein, dass menschliche Beziehungen erblühen können.

Das Problem, das wir zu lösen haben, besteht demnach darin, wie wir unseren Reichtum an persönlichen Beziehungen entwickeln können, wie wir unsere monadische Existenzweise überwinden, ohne in den falschen Ehrgeiz zu verfallen mit einigen Milliarden Menschen befreundet sein zu wollen.

Dazu müssen unsere sachlichen Beziehungen so geordnet sein, dass sie unser Menschsein ermöglichen, erleichtern und nicht verhindern.

Das geht aber nur, wenn wir uns auch auf der sachlichen Ebene als Gleiche begegnen und uns die Gemeinschaft eine gewisse Sicherheit gibt, so dass wir nicht „fallen“ können.

Wobei Gleichheit eben heißt, dass wir alle gleich viel wert sind und nicht, dass wir als Klone durch das Leben laufen.

Wir brauchen einen neuen Gesellschaftsvertrag auf der Basis von Freiheit, Gleichheit und Mitmenschlichkeit, bei der wir uns auf der sachlichen Ebene gegenseitig soweit den Rücken frei halten, dass wir unseren Mitmenschen als Menschen begegnen können.

Damit lassen wir dann das bloße Existieren hinter uns und begründen unser Menschsein „von starken Händen wunderbar geborgen“.

Von Händen, die auch und vor allem unsere eigenen Hände sind.

Das Problem der Nähe und der Ferne hat noch einen anderen Aspekt. In der Nähe ist die wichtigste Form in der wir uns begegnen das Schenken.

Wir schenken uns Liebe und Aufmerksamkeit und bekommen sie wieder, wir beschenken uns wechselseitig mit unserem Wissen und werden dadurch und zwar beim Geben und beim Nehmen klüger.

Aber wir schenken uns nicht nur immaterielle Dinge.

Gehen wir einen Moment zurück in eine Zeit, in der die Märkte noch viel ferner waren als heute. So gelangen wir schließlich in ein Dorf, ein gutes Stück entfernt von der nächsten Stadt.

Dort steht ein Kirschbaum, groß und schon etwas älter. Der Kirschbaum gehört jemand. Die Kirschen sind reif und der Baum hängt voll.

Der oder die, dem oder der dieser Kirschbaum gehört, wird nun die nähere und weitere Verwandtschaft mobilisieren um die Kirschen zu pflücken. Die Frauen werden eine Einkoch-Orgie starten und trotzdem bleibt in einem guten Jahr noch genug übrig um auch die Nachbarschaft, vor allem die Kinder, zu beschenken.

Kirschen halten sich nicht sehr lange und deswegen wird der Eigentümer sich nehmen, was er braucht und her schenken, was er entbehren kann.

Als ich ein Kind war, schlachteten meine Eltern einmal im Jahr 1 bzw. 2 Schweine. Und wenn dann Schlachtfest war, bekamen Verwandte, Bekannte und Nachbarn von der Wurstsuppe und vom Kesselfleisch reichlich ab. Es war schließlich der Teil, den man nicht konservieren konnte.
Und das Schlachtfest war auch deswegen ein Fest, weil wir von der Fülle, die wir für einen Moment hatten, andere beschenken konnten.

Nun gibt es Leute, die diese Kultur des Schenkens als eine Vorform des Äquivalententauschs ansehen, als eine Art frühen Tauschhandel.

Das trifft aber nicht zu. Das leitende Prinzip ist nicht die Äquivalenz von Geschenken und Wiedergeschenken. Das leitende Prinzip ist: Ich gebe von dem, von dem ich mehr als genug habe, dem der es brauchen kann.

Ich werde natürlich jemand, der auch schon genug hatte und dann die Fülle lieber verrotten ließ, als zu teilen, nichts geben. Insofern herrscht schon Äquivalenz. Aber nur insofern.

Typisch für eine solche Kultur des Schenkens ist im Gegenteil gerade normalerweise die Nicht-Äquivalenz. Es wird nicht in Gramm gemessen. Wer, wenn ihm jemand zulächelt, sein Zurücklächeln nach Freundlichkeitsgrad dosiert, dem wird eines Tages zur Strafe jede Art von Freundlichkeit und wirklicher Freude aus dem Gesicht gewichen sein und stattdessen einer Freundlichkeitsmaske Platz gemacht haben.

Da wir uns aber nah sind, kann ich darauf vertrauen, dass ich von dem, den ich heute beschenke, morgen auch beschenkt werde. Dabei geht es nicht darum, dass die Geschenke gleichwertig sind, denn in diesen Beziehungen herrscht das Prinzip: Jeder nach seinen Möglichkeiten. Es geht darum, dass ich nicht nur schenke, sondern auch beschenkt werde.

Sobald wir aber die Nähe verlassen, versagt dieses Prinzip.

An die Stelle von Schenken tritt Raub oder Handel.

Wobei Raub auch dann vorliegt, wenn irgendein Herr seinen Teil von den Kirschen erpresst z.B. durch den Verweis auf „althergebrachte“ Rechte.

Handel, das heißt Äquivalententausch, ist dagegen ein Fortschritt. Wobei Raub und Handel durchaus lange Zeit neben- und miteinander existieren können. Der „gnädige Herr“ raubt mir meine Kirschen um sie an einen Händler für den Markt zu verkaufen.

Das weckt in mir das Verlangen, meine Kirschen selbst und ohne Umweg verkaufen zu können. Sobald ich das erreicht habe, findet die Kultur des Schenkens in Bezug auf die Kirschen ihr Ende. Im Extremfall gönne ich mir und meinen Nächsten keine Kirschen mehr, weil ich sie lieber zum Markte trage.

Trotzdem geht die Kultur des Schenkens nicht unter. Schließlich ist es eines unserer elementarsten Bedürfnisse uns im Anderen zu spiegeln und von dort ein freundliches Bild zurückgeworfen zu bekommen.

Und gerade Güter, wie Freundlichkeit oder Wissen haben die unschätzbare, fantastische Eigenschaft sich durch teilen zu vermehren, so wie weiland auf der Hochzeit zu Kanaan Brot und Wein.

Wenn wir also auf dem Weg in die Wissensgesellschaft sind, dann sollten wir uns an die Arbeit machen und eine neue Kultur des Schenkens etablieren.

Zuvor wollen wir aber noch ein wenig bei den Deformationen verweilen, die uns zugefügt werden, wenn wir diese Kultur des Schenkens, der Liebe und der Zuneigung schon als Kinder nicht erfahren.

Kurz gesagt: Wir wollen und müssen Rogoschin auf seinem Weg in die Hölle folgen.

Rogoschins Hölle

Es war dies ein großes, finsteres, dreistöckiges Haus, ohne allen architektonischen Schmuck, von schmutziggrüner Farbe. Einige, allerdings nur sehr spärliche derartige Häuser, die gegen Ende des vorigen Jahrhunderts gebaut sind, haben sich namentlich in diesen Straßen Petersburgs (obwohl sich doch in dieser Stadt so vieles ändert) fast unversehrt erhalten. Sie sind solide gebaut, mit dicken Mauern und sehr wenigen Fenstern; im Erdgeschoß sind die Fenster manchmal vergittert. Meist befindet sich unten ein Wechselgeschäft. Der Skopze, der in dem Wechselgeschäft sitzt, wohnt oben. Ein solches Haus macht von außen und von innen einen ungastlichen, unfreundlichen Eindruck; es sucht sich gleichsam zu verstecken und zu verbergen; aber warum eigentlich schon der bloße Anblick des Hauses einen solchen Eindruck macht, das ist schwer zu sagen.“

[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 19966

(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 4, S. 44-45)

http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]

 

Dieses Haus wurde, wie wir erfahren vom Großvater, gebaut um mit sich und der Welt allein zu sein. „Ich brauche keinen von Euch“ ist seine architektonische Botschaft an die Welt.

Wer in so einem Haus groß geworden ist, hat früh gelernt sein Leben nur für sich zu leben.

Und der Skopze im Wechselgeschäft ist einer, der seine Genitalien verstümmelt um nicht von Fleischeslust vom Dienst an der Sache abgelenkt zu werden.
Die Heilige Sache aber, der er dient, ist aus Rubel neue Rubel zu zeugen. Nur diese Art von Vermehrung ist gottgefällig.

„»Ja, so verhält sich das alles«, bestätigte Rogoschin mit trüber, finsterer Miene. »Auch Saloschew hat es mir damals gesagt. Ich ging damals, Fürst, in einem Schnurrock, den mein Vater schon vor zwei Jahren abgelegt hatte, über den Newski-Prospekt, und sie kam aus einem Laden heraus und stieg in ihren

Wagen. Da stand ich auf der Stelle in Flammen. Ich begegnete meinem Freund Saloschew; der sah anders aus als ich; er geht wie ein Friseurgehilfe, immer die Lorgnette im Auge; wir aber mußten bei unserm Vater in Schmierstiefeln gehen und uns an fastenmäßiger Kohlsuppe delektieren. ›Die ist nichts für dich‹, sagte er; ›das ist‹, sagte er, ›eine Fürstin; sie heißt Nastasja Filippowna, mit dem Familiennamen Baraschkowa, und lebt mit Tozki; Tozki aber weiß jetzt nicht, wie er von ihr loskommen soll, weil er nämlich schon ganz in die soliden Jahre hineingekommen ist (er ist fünfundfünfzig) und eine der ersten Schönheiten von ganz Petersburg heiraten will.‹“

[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 19518-19519

(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 3, S. 17)

http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]

 

Man muss sich klar machen, dass dieser Vater, der seine Kinder in Schmierstiefeln gehen lässt, der ihnen seine abgetragenen Röcke vermacht und sie mit Kohlsuppe ernährt mehr als 3 Millionen Goldrubel sein eigen nennt.

Diesem Vater unterschlägt der Sohn nun einen Pfandbrief über 10 tausend Rubel um sie ihn Ohrringe für eine Angebetete zu verwandeln.

Dabei weiss Lebedew (der immer alles weiss).

„»Und der Selige war imstande, nicht nur um zehntausend, sondern schon um zehn Rubel willen einen in jene Welt zu spedieren.«“

[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 19521

(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 3, S. 19)

http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]

 

„ »Er erfuhr sogleich alles; Saloschew hatte es jedem, der ihm begegnete, ausgeschwatzt. Der Vater nahm mich, schloß mich im oberen Stockwerk ein und prügelte mich eine ganze Stunde lang. ›Und das ist nur eine Vorbereitung für dich‹, sagte er; ›heute abend komme ich, um dir gute Nacht zu sagen.‹ Sollte man's glauben? Der alte Mann fuhr zu Nastasja Filippowna hin, verbeugte sich tief vor ihr und flehte sie unter Tränen an; endlich holte sie ihm das Etui herbei, warf es ihm hin und sagte: ›Da hast du deine Ohrringe, alter Graubart; sie sind für mich jetzt um das Zehnfache im Wert gestiegen, nun ich weiß, daß Parfen sie einem so strengen Vater zum Trotz beschafft hat. Grüße Parfen Semjonowitsch von mir und bestelle ihm meinen Dank!‹“

[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 19522

(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 3, S. 19-20)

http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]

 

Der Sohn flieht um nicht totgeprügelt zu werden.

Und er ist sicher nicht zum ersten Mal so „erzogen“ worden.

Diese Art von „Erziehung“ hinterlässt jene deformierte Charaktere, denen Adorno seine Studie über den „autoritären Charakter“ gewidmet hat.

Unter der Überschrift „The Rebel and the Psychopath“ schreibt er u.a.:
„Or masochistic transference to authority may be kept down on the unconscious level while resistance takes place on the manifest level. This may lead to an irrational and blind hatred of all authority, with strong destructive connotations, accompanied by a secret readiness to »capitulate« and to join hands with the »hated« strong.“

[Band 9: Soziologische Schriften II: Part IV: Qualitative Studies of Ideology. Theoder W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 6596

(vgl. GS 9.1, S. 479)

http://www.digitale-bibliothek.de/band97.htm ]

„Oder die masochistische Übertragung auf die Autorität wird im Unbewußten zu-

rückgehalten, und die Opposition findet auf manifester Ebene statt. Das kann zu irrationalem und blinden Haß gegen jede Autorität führen, vermischt mit starken destruktiven Akzenten, gepaart mit der geheimen Bereitschaft zu „kapitulieren“ und sich mit dem “verhaßten“ Stärkeren zu verbünden.“

Soweit Adorno.

Dazu passt:

»Warum hast du wieder über das Porträt meines Vaters gelächelt?« fragte Rogoschin, der jede Veränderung in dem Gesicht des Fürsten, jede darüber hinhuschende Regung mit der größten Aufmerksamkeit beobachtete.

»Warum ich gelächelt habe? Es kam mir der Gedanke, wenn dir dieses Unglück nicht zugestoßen und diese Liebe nicht über dich gekommen wäre, dann würdest du vielleicht genau so werden wie dein Vater, und zwar in sehr kurzer Zeit. Du würdest allein und wortkarg in diesem Haus sitzen, mit einer gehorsamen, schweigsamen Frau, würdest nur selten und in strengem Ton reden, keinem Menschen trauen, den freundschaftlichen Verkehr mit Menschen auch gar nicht vermissen und nur schweigend und mit finsterer Miene Geld zusammenhäufen. Höchstens würdest du gelegentlich die Bücher der Altgläubigen loben und dich für das Bekreuzen mit zwei Fingern interessieren, und auch das vielleicht erst, wenn du alt geworden wärest ...«

»Spotte nur! Ganz genau dasselbe hat sie neulich gesagt, als sie dieses Porträt ebenfalls betrachtete! Es ist erstaunlich, wie ihr in allen Dingen so ein und derselben Ansicht seid ...«

»Ist sie denn schon bei dir gewesen?« fragte der Fürst interessiert.

»Ja. Sie betrachtete das Porträt lange und stellte viele Fragen über den Verstorbenen. ›Du würdest ganz genau ebenso sein‹, sagte sie endlich lächelnd zu mir. ›Du hast starke Leidenschaften, Parfen Semjonowitsch, solche Leidenschaften, daß du durch sie ohne weiteres nach Sibirien zur Zwangsarbeit kommen würdest, wenn du nicht auch Verstand besäßest; denn du hast einen guten Verstand‹, sagte sie (so drückte sie sich aus, ob du es nun glaubst oder nicht; es war das erstemal, daß ich von ihr eine solche Äußerung hörte!). ›All diese jetzigen Tollheiten würdest du sehr bald beiseite werfen. Und da du ein Mensch ohne alle Bildung bist, so würdest du anfangen, Geld zusammenzuscharren, und würdest wie dein Vater mit deinen Skopzen in deinem Haus sitzen; möglicherweise würdest du zuletzt auch selbst zu ihrem Glauben übertreten, und dein Geld würdest du so liebgewinnen, daß du nicht zwei Millionen, sondern vielleicht zehn Millionen zusammenbringen und auf deinen Geldsäcken Hungers sterben würdest; denn du bist in allen Dingen leidenschaftlich, alles treibst du bis zur Leidenschaft.‹ Genauso redete sie, fast genauso mit diesen selben Worten. Sie hatte noch nie vorher so mit mir geredet! Sie redet ja sonst immer mit mir nur von törichten Dingen oder macht sich über mich lustig; und auch damals hatte sie lachend angefangen; aber dann war sie ganz ernst und düster geworden; sie ging durch dieses ganze Haus und besah es und schien eine Art Schreck darüber zu bekommen. ›Ich werde das alles umändern und anders einrichten‹, sagte ich; ›oder ich kaufe auch vielleicht zur Hochzeit ein anderes Haus.‹ „

[Dostoevskij: Der Idiot. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 19987-19989

(vgl. Dostojevskij-Idiot Bd. 4, S. 59-61)

http://www.digitale-bibliothek.de/band89.htm ]

 

Der Rebell und der Psychopath sind Grenzgänger geboren aus Lieblosigkeit und Besitzgier.

Myschkins Furcht vor Rogoschin