Die Suche des Magens nach dem letzten Grund – Eine Auseinandersetzung mit Rorty

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Die Version enthält zahlreiche kleinere Veränderungen und ein Kapitel zur Philosophie Rortys.
Die Suche des Magens nach dem letzten Grund – Eine Auseinandersetzung mit Rorty
„Forschung und Rechtfertigung haben zwar zahlreiche Einzelziele, aber kein überwältigendes Ziel namens Wahrheit. Forschung und Rechtfertigung sind Tätigkeiten, denen wir uns als Sprecher einer Sprache gar nicht entziehen können. Ein Ziel namens „Wahrheit“ brauchen wir dazu ebensowenig, wie unsere Verdauungsorgane ein Ziel namens „Gesundheit“ brauchen, damit sie ihre Funktion erfüllen. Der Verzicht auf gegenseitige Rechtfertigung ihrer Überzeugungen und Wünsche ist den Sprechern einer Sprache genauso unmöglich wie dem Magen die Nichtverdauung der Nahrung.“
(Richard Rorty, Hoffnung statt Erkenntnis. Eine Einführung in die pragmatische Philosophie, S.31)Ich kann mir nicht vorstellen, dass es Herrn Rorty niemals schlecht war und dass er in seinem Leben kein einziges Mal gekotzt hat.
Jedes Kotzen ist aber der nicht zu leugnende Beweis dafür, dass unser Magen im Interesse unserer Gesundheit auch das Nichtverdauen von Nahrung veranlassen kann.
Verdauen ist für den Magen kein Selbstzweck.
Denn in der Tat ist es das Ziel jeden Lebewesens am Leben zu bleiben. Und dazu braucht dieses Lebewesen den Stoffwechsel mit der übrigen Natur.
Im Rahmen dessen erhält auch der Magen seine Ziele. Und die bestehen keineswegs nur darin alles unbesehen zu verdauen. Dass es einem schlecht wird oder dass man Durchfall bekommt, dient häufig der Abwehr und Abfuhr der Gesundheit nicht zuträglicher Mageninhalte.
Es ist somit keineswegs so lächerlich und überflüssig wie Rorty meint, dem Magen ein Ziel Gesundheit zu unterstellen.
Überhaupt bedeutet „Gesundheit“ ja, dass wir in der Auseinandersetzung mit unserer Umgebung uns selbst, einschließlich unserer diversen inneren Gleichgewichtszustände, erhalten. Was so einfach klingt: Ich, ist in Wirklichkeit ein komplexes System, das ständig in vielfältiger Wechselwirkung mit seinen Mitmenschen, der Natur und der von uns allen geschaffenen 2.Natur namens Kultur steht. Und in all diesen Zusammenhängen wollen wir uns als mit uns selbst identisches erhalten. Das gelingt nie ganz. Aber wenn es gar nicht mehr gelingt sterben wir. Jede einzelne unserer Zellen ist diesem Ziel verpflichtet. Und sobald sich eine größere Zahl unserer Zellen diesem Ziel sich nicht mehr unterordnet, sind wir als Krebskranke todgeweiht.
Aus dem selben Grund aus dem unser Magen dem Ziel Gesundheit verpflichtet ist, benötigen wir Wahrheit.
Etwas zu wissen oder nicht zu wissen, kann existenziell sein. Etwas zu wissen oder nicht zu wissen, kann existenziell sein.
In diesem Sinn dient auch unser Forschen der Wahrheit. Pilze z.B. gelten als essbar, giftig oder berauschend. Und wenn ich in Begründungs- und Rechtfertigungs­zusammenhänge geraten sollte, in denen man den grünen Knollenblätterpilz für geniessbar hält und brät, riskiere ich mein Leben, wenn ich davon esse.
Das heißt: Vollkommen unabhängig von und vor jeder Philosophie gibt es so etwas wie Wahrheit. Einige dieser Wahrheiten sind so elementar, dass ihr Ignorieren mit dem sicheren Tod bestraft wird.
Wobei ich mir fast sicher bin, dass Rorty meinen Einlassungen nicht widersprechen würde.
Er würde sagen, dass ich das Zusammenprallen mit der Wirklichkeit mit ihrer Bewältigung verwechsle („Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie“ S.406).
Er will keine Wahrheit finden, sondern das Gespräch in Gang halten.
Das man glaubt die Wahrheit zu haben und dann Diskussionen für überflüssig hält, ist was eine „bildende Philosphie“ seiner Meinung nach bekämpfen muss.
Da wollen wir nicht widersprechen.
Aber hat er auch recht, wenn er statt Wahrheit nur noch Diskursergebnisse kennt ?
Zwei Einwände sind hier wichtig:
Erstens werden unsere Gespräche schon deswegen in Gang bleiben, weil auch Wahrheiten ein Haltbarkeitsdatum haben. Wie alles in der Welt entstehen und vergehen sie.
Wir spiegeln die Welt, wir spiegeln uns in Anderen und Andere in uns, wir spiegeln uns in Spiegeln, in Gesichtern, Gesten tausendfach.
Jedes dieser Bilder zeigt uns in einer anderen Facette.
Und so vielfältig, facettenreich wie die Spiegel, in denen wir uns betrachten sind die Wahrheiten über uns. Zweitens haben wir keinen Grund die Ergebnisse eines Diskurses per se für wahr zu halten. Es gibt auch ein „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen“. D.h. Wahrheit kann einsam machen. Trotzdem muss sie gewagt werden. Unbeirrt. Unbeirrbar.
Platoniker werden wir deswegen noch lange nicht.
Der zentrale Irrtum dieser Philosophenschule ist der Glaube an die Ewigkeit und Unzerstörbarkeit gewisser Ideen, die hinter den Dingen deren Wesen bilden sollen. Dass es dieses ewige „Eigentliche“ nicht gibt, macht Begriffe wie „Wahrheit“ oder „Wesen“ weder überflüssig noch unbrauchbar.
Der Spiegel ist in einer nicht-platonischen Welt nur ein Spiegel, und die Idee ein ideeller Spiegel.
Sie vergeht mit dem, was sie spiegeln soll. Und solange es existiert, kann sie niemals mehr zeigen, als das, worauf sie zeigt.
Im Gegenteil: Jedes Ding, das existiert, bildet für sich bereits ein Universum. Ein Universum an Komplexität, an Vielfalt, an Ideen.
Über jedes Schräubchen im Getriebe lassen sich Bücher schreiben und manchmal sind diese Bücher spannender als manches philosophisch konstruierte „Gestell“.
„Wahrheit“ ist in diesem Sinn zwar ein inhärentes, aber kein überwölbendes Ziel. Es gibt die Wahrheit der Schraube, des Zahnrads, des Getriebes, einer Blume, dieses oder jenes Menschen, aber es gibt keine Wahrheit an sich. Wahrheit existiert am allerwenigsten ewig und jenseits unserer Erfahrungen.
In diesem Sinn sind wir mit Rorty einverstanden, wenn er die Metaphysik für immer verabschiedet.
Aber im Gegensatz zu ihm halten wir an Wahrheit und Wesen, als identitärer Kern einer Sache, weiter fest.
Gerade wer nicht in der platonischen Höhle festgebunden ist, sondern sich frei in freier Luft bewegt, versucht immer wieder neu seine innere Welt mit der äußeren zur Deckung zu bringen und ist somit auf der Suche nach der Wahrheit.
Dabei geht es um mehr als bloße „Rechtfertigung“ gegen andere. Auch wenn die Anderen mit ihrer Meinung mir gleichgültig sind, die heiße Herdplatte, Hunger oder Durst, das Verlangen nach Liebe und Anerkennung, werden mir immer genügend Antrieb verleihen, um dem auf der Spur zu bleiben, was Wahrheit heißt.
Dass die Schöpfung sich selbst schöpft und dass wir ein untrennbarer Bestandteil dieses Prozesses sind, ist das, was Rorty interessiert.
Deshalb möchte er Hoffnung, die Suche nach dem Noch-Nicht erreichen an die Stelle einer rückwärts gewandten Suche nach ewigen Wahrheiten setzen.
Wir sind da ganz bei ihm.

Vor allem wenn er sagt:
„Da niemand die Zukunft kennt, weiss auch niemand, welche Über­zeu­gun­gen ihre Berechtigung behalten und welche nicht; und daher gibt es auch nichts Ahistorisches, was sich über die Erkenntnis oder die Wahrheit sagen ließe. Daß man nichts weiter sagt, hat den Effekt, daß das was Europa der Meta­phy­sik und der Erkenntnistheorie anvertraut hat an die Hoffnung übergeht. Es hat den Effekt, dass man Platons Versuch der Zeit zu entrinnen, durch die Hoffnung ersetzt, wir könnten eine bessere Zukunft gewinnen“
(Rorty,Hoffnung statt Erkenntnis. Eine Einführung in die pragmatische Philosophie, S.34)
Wir können und wollen ihm aber nicht folgen, wenn er mit der ewigen Wahrheit die Wahrheit überhaupt verabschiedet. So wenig wir ihm folgen können, wenn er darauf verzichten will, etwas, unabhängig vom Urteil anderer, für wesentlich zu halten.
Dass es keinen Felsen in welcher Brandung auch immer gibt, der dieser ewig trotzt, ist noch lange kein Grund an der Existenz dieses Felsens zu zweifeln.
Wir können und müssen in Bezug auf die Zukunft mehr haben als bloße Hoffnungen oder umgekehrt Befürchtungen.
Was wir z.B. über den zu erwartenden Klimawandel wissen, hat nicht den Charakter einer ewigen, metaphysischen Wahrheit. Trotzdem ist es nichts, was man mal so oder so sehen kann, je nach Diskussionsstand in der Gesellschaft. Die Atmosphärenphysik ist unabhängig von menschlichen Diskussions- und Rechtfertigungsprozessen. Und auch wenn es keine ewigen Wahrheiten sind, sind es doch Wahrheiten.
Und wir wissen auch und das sogar gewiss, dass es für uns wesentlich ist, den Eintrag von Klimagasen in die Atmosphäre zu stoppen.
Begriffe wie Wahrheit, Wesen können nicht einfach den Platonikern überlassen werden, nur weil diese den Geltungsbereich dieser Begriffe fälschlich in die Ewigkeit verlängert haben.
Das Alltagsbewusstsein wusste immer, dass sich jemand in seinem Wesen verändern kann. Und das Alltagsbewusstsein weiß auch, dass dies ein außer­ge­wöhnlicher Vorgang ist.
D.h. der Unterschied zwischen Wesen und Erscheinung existiert unabhängig von der Existenz irgendwelcher ewiger Ideen.
Und zu behaupten, dass „Europa“ der Metaphysik huldigt, bedeutet eine wesentliche philosophische europäische Richtung, die von Demokrit über Epikur bis zu Marx reicht, komplett zu unterschlagen.
Es wäre viel gewonnen für den Pragmatismus, wenn man in der Neuen Welt zur Kenntnis nehmen würde, dass Platon und Kant nicht die einzigen europäischen Philosophen sind.

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